Goetschel über Jüdische Intellektuelle

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Willi Goetschel

Jüdische Intellektuelle und die Philologien

  • Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Hg. von Wilfried Barner und Christoph König (Marbacher Wissenschaftsgeschichte; 3) Göttingen: Wallstein Verlag 2001. 352 S. Kart. € 29,-.
    ISBN 3-89244-457-9.


Vergessene Ansätze und
alternative Entwicklungsmöglichkeiten

Wie die deutsche Geschichte und Geistesgeschichte ist auch die Geschichte der deutschen Germanistik und Philologien von den Zeitströmungen und Tendenzen bis ins Innerste geprägt und ein kritisches Verständnis der Wissenschaftsgeschichte bleibt verstellt, solange die Aufarbeitung der Geschichten der einzelnen Disziplinen nicht auch das Thema des Antisemitismus einbezieht. Denn so wie die Geschichte ist auch die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte durch die offensichtlichen aber oft eben auch dezent latenten Selektions- und Ausschließungsmechanismen geprägt, deren objektiver Formalismus stets ein günstiger Nistplatz für ideologische Vorstellungen bietet. Diese steuern die Akzeptanz und Legitimation von Wissenschaftsparadigmen in einer Weise, die dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaften mit ihrem deklarierten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schlecht anstehen.

Den Herausgebern und Autoren von Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933 kommt das Verdienst zu, das trotz wiederholten Beteuerungen letztlich noch immer der kritisch umfassenden Erforschung bedürfende Thema des Beitrags von Juden in den Philologien und Kulturwissenschaften zu enttabuisieren. Denn ein beeindruckendes Tabu stellt diese Wunde dar, wie dieser Band zuweilen selbst deutlich macht. Und zwar keine jüdische Wunde, sondern eine tiefreichende Wunde im deutschen Selbstverständnis und Geschichtsbewusstsein. Denn, und dies machen die Beiträge ausnahmslos und in eindrucksvoller Deutlichkeit klar, den Schaden an dieser Tabuisierung tragen die einzelnen Disziplinen selbst und mit ihnen die daraus resultierenden Erinnerungslücken im deutschen Geschichtsbewusstsein. Denn diese Lücken markieren einen Verlust an Vermögen historischer Selbstreflexion, das erst mühsam und in konsequenter Weiterarbeit an diesem Themenkomplex, wie es dieser Band angeht, aufgearbeitet werden muss.

So entfaltet dieser Band ein Kaleidoskop wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Facetten, die zusammen gelesen eine aufschlussreiche Darstellung von vergessenen Ansätzen und alternativen Entwicklungsmöglichkeiten ergibt. Sei es an den Rändern und Grenzlinien der Wissenschaften, zwischen den Disziplinen oder an der Front der Entstehung neuer noch nicht zum Besitz deklarierter Disziplinen oder im ebenso frei zugänglichen Niemandsland des Journalismus und Feuilletons, dies waren die Orte, wo es Juden möglich war, ungehindert, oder zumindest ungehinderter als anderswo zu wirken. Und hier wurden entscheidende Anregungen und Impulse entwickelt, deren innovative Einsichten zuweilen rezipiert, öfter aber ganz einfach verkannt und abgewiesen wurden und jetzt erst wieder auf der Suche nach Alternativansätzen in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden.

Aber ebenso oft bemühten sich Juden, sich ganz einfach so einzuordnen, wie es die ideologischen Vorgaben und Machtkonstellationen der deutschen Wissenschaft vorsahen. Musterkinder erfolgreicher Assimilation – und als Subalterne wurden sie denn auch stets weiter betrachtet (und werden es noch heute) – blieben sie der Normierung der disziplinären Wissenschaftsideale unterworfen, die aus dem Geist nationaler Identitätskonstruktionen entsprangen, deren Prestige als unhinterfragliche Wahrheiten nicht weiter zur Verhandlung standen; einer Normierung, von der abzuweichen dann zwar wiederum den nichtjüdischen Kollegen vorbehalten blieb.

So gab es auch zahlreiche Beispiele von nahtlos assimilierten Intellektuellen, deren Option für vollständige Eingliederung in eine nationaldeutsche Identität eine Selbstaufgabe zur Folge hatte, die heute für manche vielleicht nur schwer nachzuvollziehen sein mag. So hält Jeffrey Sammons provokativ die daraus entstehende Problematik fest: "Die Literaturwissenschaftler unserer Zeit mögen die Juden der damaligen Zeit nicht. Das sind nicht die Juden, die wir haben wollen." (S.126) Mag dieses Desinteresse auch für die Erarbeitung der Vergangenheit nicht gerade hilfreich sein, so bietet die Erforschung dieses verlorengegangenen Kapitels die produktive Möglichkeit, zu Geschichte und Wissenschaftsgeschichte eine historisch-kritische Perspektive zu entwickeln.

Fallstudien zu Einzeldisziplinen und Gelehrten

Vor allem die Fallstudien von Einzeldisziplinen und zahlreichen Persönlichkeiten, die in Forschung, Lehre oder Publizistik wegweisend waren, geben eine historische Tiefendimension, die erhellend ist. Die kulturpolitische Position der Frankfurter Zeitung und deren Problematik als kulturell überlegene, aber politisch wirkungslose Einstellung diskutiert Almut Todorow. So stellt die Frankfurter Zeitung zwar, einen "hochstehenden geistigen Deutschen" zitierend, pointiert fest, dass die sogenannte Judenfrage "weder eine deutsche noch eine jüdische, sondern eine rein antisemitische Frage" sei (S.36). Aber solche Einsichten konnten denn auch nur diejenigen Leser erreichen, die ohnehin einerlei Ansicht waren. Wie Todorow deutlich macht, sind die direkten Auseinandersetzungen der Zeitung mit dem Antisemitismus denn auch in den Marginalien, den Feuilleton-Häckseln zu finden. Sie spiegeln damit auch den diskursiven Ort, den die kultivierten jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen diesem Thema einräumen mochten.

Am aufschlussreichsten wirken die Einzelstudien. Nur schwer ist die Bedeutung von Persönlichkeiten wie Moritz Heimann, Fischers erster Lektor (Dierk Rodewald), und Kurt Pinthus (Hanne Knickmann) abzuschätzen. Sie haben die literarische Landschaft Deutschlands wie wenige geprägt und ihre Bedeutung ist ebenso tiefreichend wie es unmöglich ist, sie historisch aufzurechnen. Dierk Rodewalds Darstellung von Heimann und Hanne Knickmanns von Kurt Pinthus vermitteln den reichen Hintergrund zu historischen Figuren der deutschen Literaturgeschichte, die selbst erfolgreich im Hintergrund geblieben sind.

Aber es waren nicht nur Männer, die hinter den Kulissen wirkten, sondern eine große Zahl jüdischer Frauen. Die genderspezifischen Rollen der jüdischen Frau waren im 19. Jahrhundert anders kodiert als die in der nichtjüdischen Gesellschaft und das erklärt das signifikant hohe Interesse von jüdischen Frauen, den Weg akademischer Karrieren einzuschlagen. So fehlt es denn nicht an Philologinnen jüdischer Herkunft. Zu ihnen gehören etwa neben vielen anderen die Romanistin Elise Richter, die Sprachwissenschaftlerin Agathe Lasch und die Literaturwissenschaftlerin Melitta Gerhard. An promovierten Germanistinnen sind zu nennen Eugenie Schwarzwald, Helene Herrman, an deren Abendkursen Nelly Sachs teilnahm (S.72) und Bertha Badt-Strauss. In ihrem Beitrag geht Hiltrud Häntzschel ihren Karrieren und denen anderer Philologinnen nach, Ulrike Hass-Zumkehr stellt die Laufbahn von Agathe Lasch dar.

Hans-Harald Müller vermittelt ein differenziertes Bild des Scherer-Schülers Richard Moritz Meyer. Meyer nähert sich bereits Aspekten der geistesgeschichtlichen Kritik an der sogenannten >positivistischen< Literaturwissenschaft und stellt einen methodologisch reflektierten Flügel der Schererschule dar, der erfolgreich vergessen worden ist, dessen Existenz aber zu historiographischen Korrekturen nötigt (S.100). Ebenso vergessen ist Meyers Gegenspieler Eugen Wolff, der sich nicht nur polemisch Meyer vorknöpfte, sondern auch erstmals den Begriff der Moderne als Epochenbegriff exponierte, wie Lothar Schneider in seinem Beitrag ausführt.

Eine immense Lücke der Forschung füllt Jeffrey Sammon mit seinem Aufsatz "Zur ausgeklammerten Heine-Rezeption" aus. Er weist darauf hin, dass die "erste große Zeit der Heine-Philologie" so sehr in Vergessenheit geraten ist, dass "Heine ab den sechziger Jahren in der Bundesrepublik nicht nur wiederentdeckt, sondern eigentlich neu erfunden werden mußte" (S.123). Dadurch, dass die "Hervorhebung des judenfeindlichen Diskurses über Heine die "Mehrstimmigkeit der Epoche" und ihre jüdischen Beiträge zur Heine-Forschung in den Hintergrund wenn nicht ganz abtreten ließ, leidet denn in der Folge auch noch das gegenwärtige Heine-Verständnis. Michael Brenner weist auf die Bedeutung der Avantgarde-Bewegung der hebräischen Moderne hin. Autoren wie Micha Josef Berdiczewski (Bin Gorion), Bialik, Tschernichowski und Agnon hatten sich in Belin niedergelassen, machten die deutsche Hauptstadt in den 20er Jahren zum Zentrum der Innovation der modernen hebräischen Literatur.

Die Schwierigkeiten, die sich Ludwig Geiger, dem die Germanistik unter anderem die Begründung des Goethe-Jahrbuchs verdankt, seitens seiner Fachgenossen entgegenstellten, stellt Christoph König in seinem Beitrag dar. Auf dieselben Widerstände traf auch Jonas Fränkel in der Schweiz. Ihm verdankt die Germanistik immerhin eine "nichtarische" Gottfried Keller Ausgabe, wie Eduard Korrodi 1935 in der Neuen Zürcher Zeitung seine Besprechung titelte (Konrad Feilchenfeldt).

Die Situation der "Juden in der Klassischen Philologie vor 1933" untersucht Jean Bollack. In einer scharfen Kritik weist Bollack auf die ideologischen Denk- und Verhaltensmuster hin, welche die institutionellen und personellen Beziehungen zwischen nichtjüdischen Professoren und ihren jüdischen Schülern auf eine Weise bestimmten, die nicht nur die Problematik der Dialektik der Assimilation deutlich machen, sondern auch die Arroganz eines professoralen Mandarinentums beleuchtet, das sich selbst über seine eigenen Regeln erhaben dünkte, die nur für die anderen erfunden schienen. Jean Bollacks Artikel gehört zu denen, die den Leser am nachdenklichsten stimmen. Denn er scheut sich nicht, die unbarmherzige Härte der Fronten in einem ideologischen Kampf beim Namen zu nennen, der für die Juden zwar ohnehin nicht zu gewinnen war, dem Professoriat aber einen Pyrrhussieg bescherte, von dem es sich bis heute nicht erholt hat.

Die bahnbrechende Bedeutung jüdischer Gelehrter als Pioniere der Altorientalistik macht der Beitrag von Johannes Renger deutlich. Dem regen Leben in den jüdischen Kulturvereinen geht Gerhard Lauer nach. Sein Beitrag erinnert daran, wie sehr literarische Erscheinungen erst aus ihrem kulturhistorischen Kontext heraus begreiflich werden. In seinem Beitrag zu Ludwig Strauss erinnert Hans Otto Horch an einen jüdischen Autor, dessen literaturwissenschaftliche Arbeiten methodologische Ansätze spiegeln, welche eine Revision der Geschichte der Rezeptionsästhetik erforderlich machen. Strauss' bewusster Anschluss an die jüdische Tradition und deren dialogisches Denken, wie es Martin Buber vertrat, erlaubt es, alternative Theorieansätze rezeptionsästhetischer Literaturforschung vor dem Durchbruch der Rezeptionsästhetik zu lokalisieren, die bemerkenswerterweise kein besonderes Bedürfnis auf Reflexion ihrer eigenen rezeptionsästhetischen Entstehungsbedingungen zeigt.

Peter Gossens stellt den interessanten Fall von Georg Brandes dar, der als dänischer Literaturkritiker und "Außenseiter" eine zentrale Stelle als Kutlurvermittler in der Zeit des Kaiserreichs einnimmt. Indem er in seiner Darstellung Die Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts in Heine ihren Höhepunkt finden lässt und indem er statt, wie Hettner etwa, Goethes Tod denjenigen von Byron als den historischen Kulminationspunkt markiert, schreibt er die Geschichte des literarischen Kanon in einer Weise um, die gerade auch seine eigene jüdische Identität als legitime Partizipantin an der Begründung der Moderne zu verstehen erlaubt. In seinem Beitrag zu Josef Körner erinnert Hans Eichner an die bahnbrechende Pionierarbeit des marginalisierten und entrechteten Romantikforschers, dessen Leistung noch immer ihrer vollständigen Würdigung harrt. Mit einer Skizze zur Rolle der von Vater und Sohn Theodor und Heinrich Gomperz von Jacques Le Rider schließt der Band.

Gewiss, diese summarische Auflistung wird dem Gesamteffekt, den dieser Band als ganzes gerade auch in seinen unterschiedlichen Sehweisen bietet, kaum gerecht. Besteht doch der entscheidende Erkenntnisgewinn gerade im Nachweis, wie sehr der binnengermanistische Diskurs der Selbstklärung durch eine kritische Auf- und Durcharbeitung seiner eigenen Entstehungszusammenhänge bedarf.


Prof. Willi Goetschel, Ph. D.
University of Toronto
St. Michael's College
50 St. Joseph Street
CA-Toronto, ON M5S 1J4nada
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Ins Netz gestellt am 26.06.2002
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