Grabovszki über Keunen / Eeckhout: Literature and Society

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Ernst Grabovszki

Literatursoziologie – mit
oder ohne Komparatistik?

  • Bart Keunen / Bart Eeckhout (Hg.): Literature and Society. The Function of Literary Sociology in Comparative Literature (New Comparative Poetics; 2) Bruxelles u. a.: Peter Lang 2001. 225 S. Kart. € 33,20.
    ISBN 90-5201-950-9.


Sie bewegt sich also doch noch. Was Ursula Link-Heer vor mehr als zehn Jahren für die Literatursoziologie, im speziellen für Peter V. Zimas >Textsoziologie< konstatiert hat, 1 wird in einem Sammelband, der die Relevanz der Literatursoziologie für die Vergleichende Literaturwissenschaft zu prüfen sich vorgenommen hat, neuerlich diskutiert.

Behandelt werden Textsoziologie (Peter V. Zima), die Theorie des literarischen Feldes (Joseph Jurt), Literaturkritik und die Entstehung von Bestsellerlisten (Hugo Verdaasdonk), der Wandel von feministischer Literaturwissenschaft zu >Gendered Cultural Studies< (Vivian Liska), das Verhältnis von Cultural Studies und dem Lukács'schen Realismusbegriff (Christophe Den Tandt), New Historicism (Jürgen Pieters), Systemtheorie (Gunther Martens), religiöse Aspekte in Bachtins Literatursoziologie (Anton Simons) und schließlich das Verhältnis von >American Studies< und >Cultural Geography< (Liam Kennedy).

Neue Wege der Komparatistik

Die Herausgeber möchten zeigen, daß der gegenwärtige literaturtheoretische Diskurs noch immer von literatursoziologischen Paradigmen mitbestimmt ist. Nicht zuletzt deswegen sehen sich Herausgeber und Beiträger einer >heteronomistischen< Komparatistik verpflichtet, die literarische Phänomene als Symptome sozialer Konflikte und Machtmechanismen betrachtet und darüber hinaus die Hierarchie von >hohen< und >niederen< kulturellen Ausdrucksformen untersucht. Damit ist im wesentlichen jene nach neuen Orientierungen suchende Komparatistik gemeint, die von Charles Bernheimer zu Beginn der 1990er Jahre skizziert worden war. Sein Schlagwort lautete "Kontextualisierung". In einem Bericht für die International Comparative Literature Association plädierte Bernheimer für eine Vergleichende Literaturwissenschaft, deren Programm und Methoden sich auf die veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse am Ende des Jahrtausends einrichten sollte:

The space of comparison today involves comparisons between artistic productions usually studied by different disciplines; between various cultural constructions of those disciplines; between Western cultural traditions, both high and popular, and those of non-Western cultures; between the pre- and postcontact cultural productions of colonized peoples; between gender constructions defined as feminine and those defined as masculine, or between sexual orientations defined as straight and those defined as gay; between racial and ethnic modes of signifying; between hermeneutic articulations of meaning and materialist analyses of its modes of production and circulation; and much more. These ways of contextualizing literature in the expanded fields of discourse, culture, ideology, race, and gender are so different from the old models of literary study according to authors, nations, periods, and genres that the term >literature< may no longer adequatly describe our object of study. 2

Diese ehrgeizigen Ansprüche, die nicht ohne Kritik geblieben sind, 3 markierten nicht zuletzt das Ende der in den USA mehr und mehr in die Krise geratenen immanenten Ansätze und den Versuch, die Komparatistik für die Cultural Studies aufzurüsten. Gegen Bernheimers Konzept hatte man vor allem eingewendet, daß es die Vergleichende Literaturwissenschaft gleichsam vom literarischen Text emanzipieren wollte.

Auch Raymond Vervliet möchte in seinem einführenden Beitrag Literary Sociology and Comparative Literature den Schwerpunkt der Analyse lieber auf (literarische) Texte gelegt wissen. Doch das Verhältnis zwischen Soziologie, Literatur und Geschichte ist nicht immer spannungsfrei gewesen. Als Erich Köhler vor rund dreißig Jahren feststellte, daß "jede Literatursoziologie [...] historisch, jede Literaturgeschichte [...] soziologisch vorgehen [muß]" (S. 10), mochte die Soziologie noch einen methodischen Orientierungsrahmen für die (Vergleichende) Literaturwissenschaft abgegeben haben. Köhler suggerierte damit die friktionsfreie Interdisziplinarität von Soziologie und Geschichte.

Tatsächlich stand die Kooperation zwischen Soziologen und Historikern nicht immer unter günstigen Vorzeichen. So schrieb etwa der Historiker Ernst Bernheim noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert: "die Sociologie ignoriert das Individuelle, vernachlässigt die psychischen Motive, die schöpferischen Leistungen; für die Geschichte sind das wesentliche Momente der Forschung und Erkenntnis." 4

Auch die Kritik am New Historicism hat klar gemacht, daß eine soziologisch orientierte Literaturbetrachtung nicht notwendigerweise auch historisch sein muß. So wurde einer der Protagonisten des neuen Historismus, Stephen Greenblatt, mit dem Vorwurf konfrontiert, keine historischen Entwicklungen nachzuzeichnen, sondern lediglich Anekdoten zu präsentieren. Ob nun historisch oder nicht, Vervliet beschreibt das Programm des vorliegenden Bands so:

I consider the meeting of comparative studies and literary sociology to be truly dialogic, a dialogue in which neither side speaks as a master, and where literary discourse invades sociology as much as vice versa. (S. 26)

Wo bleibt die Vergleichende Literaturwissenschaft?

Auch wenn die vorgestellen literatursoziologischen Ansätze durchaus strukturiert und in ihrer historischen Entwicklung vorgestellt werden, liegt genau in dieser Art der Darstellung und Diskussion das Manko dieses Sammelbands. Der Dialog zwischen Komparatistik und Literatursoziologie, den der Titel des Buches nahelegt, findet nämlich kaum statt. Das liegt vor allem daran, daß die Literatursoziologie von vornherein als in das Programm der Vergleichenden Literaturwissenschaft integriert verstanden wird. Dem mag man zustimmen, doch die Union von Komparatistik und Literatursoziologie geht damit beinahe gänzlich ohne Reflexion vonstatten: Die diskutierten literatursoziologischen Ansätze hätten zumindest auf ihre Tauglichkeit für die komparatistische Theoriediskussion – und vice versa – geprüft werden können, und dort, wo eine solche Reflexion bereits stattgefunden hat, wird sie nicht mehr rekapituliert.

So weist der Herausgeber beispielsweise darauf hin, daß Joseph Jurt in seinem Buch Das literarische Feld 5 der Periodisierung und Rezeptionsforschung neue Perspektiven eröffnet habe. Davon ist in Jurts Beitrag La théorie du champ littéraire et l'internalisation de la littérature nicht mehr die Rede, wenngleich er dem übernationalen Charakter der Komparatistik nachkommt, indem er das literarische Feld Bourdieuscher Prägung als ein internationales Phänomen diskutiert.

Auch Hugo Verdaasdonks Beitrag Expertise and Choice Behavior of Cultural Gatekeepers: Event History Analyses of Lists of Bestselling Fiction kann als Ansatz für weitere komparatistische Überlegungen dienen. Er stellt die Arbeit der Literaturkritiker in den Mittelpunkt seiner Analyse und erörtert darüber hinaus das Zustandekommen von Bestsellerlisten: Diese seien nicht nur ein Spiegelbild von Verkaufszahlen, sondern verdanken sich auch Faktoren wie den persönlichen Neigungen des Kritikers, seinem Ehrgeiz, im Literaturbetrieb eine einflußreiche Rolle zu spielen usw., kurz dem kulturellen >Zeitgeist<. Dabei bringt Verdaasdonk auch Pierre Bourdieus Auffassung ins Spiel, daß Kunstgeschmack sozialen Klassen zuordenbar sei (höhere Klassen seien Kunstprodukten mit hohem kulturellem Stellenwert zugeneigt, während die unteren Gesellschaftsklassen solche mit niedrigem Stellenwert bevorzugten).

Verdaasdonk differenziert zwar diese Referenz zwischen Kunst und Gesellschaft, indem er die Frage aufwirft, ob alle Mitglieder einer Gesellschaftsschicht kulturelle Produkte auf dieselbe Weise evaluieren, welche Rolle die jeweilige Kunstgattung (Literatur, Musik, Malerei usw.) in der Zuordnung zu >hoher< und >niederer< Kunst spielt, und schließlich ob jedes Kunstprodukt im Zug seiner Rezeption immer auch nach seinem Status befragt wird. Der Dialog mit der Vergleichenden Literaturwissenschaft würde jedoch weitere Fragen aufwerfen: Ist die Zuordenbarkeit von Kunst und gesellschaftlicher Schicht nur ein Phänomen westlicher Kulturen, oder läßt sie sich auch für andere Kulturen beschreiben und warum (bzw. warum nicht)? Welche gesellschaftliche Rolle spielt Kunst in anderen Gesellschaften, und wird dort zwischen >hoher< und >niederer< Kunst unterschieden?

Antworten auf diese Fragen würden helfen, die von Bourdieu angedeutete Problematik nicht nur zu differenzieren: Eine wesentliche Funktion des Vergleichens besteht ja darin, gängige Hypothesen dadurch auf ihre Tragweite zu prüfen, inwieweit sie weiteren Fragen standhalten:

In analytischer Hinsicht leistet der Vergleich einen unersetzbaren Beitrag zur Erklärung historischer Sachverhalte. Selten bleibt er nämlich bei der schieren Deskription von Unterschieden stehen. Die Feststellung einer nicht erwarteten Besonderheit durch Vergleich drängt vielmehr meistens zur Frage nach deren Entstehungs-, Verlaufs- und Ausprägungsbedingungen. Der Vergleich dient außerdem der Kritik gängiger Erklärungen. [...] Vergleiche können als indirekte Experimente dienen und das >Testen von Hypothesen< ermöglichen. 6

Dieses Zitat soll darüber hinaus andeuten, daß Herausgeber und Beiträger dieses Bandes auf die vergleichende Methode und die damit verbundenen Möglichkeiten und Probleme nicht eingegangen sind. Dabei findet sich schon 1895 bei dem Soziologen Emile Durkheim der Hinweis auf die vergleichende Methode als Mittel zur Feststellung von Korrelationen zwischen beobachteten Gesellschaften. 7 Darüber hinaus haben sich (Sozial-)Historiker in der jüngsten Vergangenheit immer wieder mit dem Vergleich auseinandergesetzt und aufzeigen können, wie differenziert er einzusetzen ist. 8

Kultur – aber welche?

Als ein weiteres Beispiel für eine im komparatistischen Sinn nicht zu Ende gedachte Fragestellung soll Jürgen Pieters' Beitrag New Historicism or Poetics of Culture dienen. Er diskutiert darin, ob Stephen Greenblatts Entwurf des New Historicism einem kulturalistischen oder strukturalistischen Paradigma im Sinne von Stuart Hall und Raymond Williams unterliegt. Weiters möchte Pieters klären, wo Greenblatts New Historicism innerhalb der Cultural Studies seinen Platz finden kann, was Pieters nicht zuletzt mit Hilfe von Greenblatts Sicht von kulturellen Prozessen bewerkstelligt.

Der New Historicism bietet also eine Möglichkeit, das Verhältnis von kultureller Symbolisierung und Geschichte neu zu betrachten, indem er davon ausgeht, daß Texte eine historische Realität nicht unvermittelt wiedergeben, sondern diese lediglich vermittelt repräsentieren.

Wie kann aber nun die Interdisziplinarität von New Historicism und Komparatistik funktionieren? Der erwähnte Hinweis des Herausgebers, daß Literatursoziologie – und als eine literatursoziologische Spielart muß der New Historicism in diesem Fall gewertet werden – und die Komparatistik in einen Dialog treten sollen, genügt kaum. Auch die Bemerkung, daß sich die Vergleichende Literaturwissenschaft historisch orientieren möge, ist für eine Bestimmung interdisziplinärer Partnerschaften unzureichend. Wenn Pieters etwa von einem Konzept der "Kultur" spricht, stellt sich aus komparatistischer Sicht etwa die Frage, inwiefern sich dieses Konzept mit anderen, außereuropäischen Kulturauffassungen deckt oder worin die Unterschiede zu suchen sind. Da sich der New Historicism vor allem auf die englische Literatur der Renaissance konzentriert hat – Greenblatts originelle Shakespeare-Interpretationen geben ein beredtes Zeugnis davon –, kann man wohl davon ausgehen, daß der >Kultur<-Begriff des New Historicism eine Matrix beschreibt, die nicht global anwendbar ist. Gelten also die Möglichkeiten der Grenzverschiebungen, durch die eine Kultur letztlich zustande kommt, auch etwa für fernöstliche Kunst? Ist der theoretische Diskurs über das englische Renaissancetheater auf jenen über das japanische Nô-Theater übertragbar?

Pieters' Beitrag ist nur ein Symptom dafür, was für die meisten Beiträge dieses Bandes ebenfalls gilt: Wenn sich der Band also vorgenommen hat, die Funktion der Literatursoziologie in der Komparatistik zu beschreiben, haben die Beiträgerinnen und Beiträger ihren Weg nur zur Hälfte zurückgelegt. Sie diskutieren zwar durchaus erhellend verschiedene Ansätze der Literatursoziologie, unterrichten ihre Leserinnen und Leser aber keineswegs darüber, welche Rolle diese in der und für die Vergleichende Literaturwissenschaft spielen können und sollen.

Literatursoziologie und Komparatistik:
Ein ungleiches Paar?

Nun mag man sich die Frage stellen, worin die Scheu der Literatursoziologen vor der Komparatistik (bzw. umgekehrt) liegt. Die Kooperation von Literatursoziologie und Komparatistik geht schließlich nicht ohne Einwände vonstatten: Marc Bloch, einer der Gründerväter der französischen nouvelle histoire, hatte schon 1930 ernüchtert bemerkt: "Toute une école de littérature comparée est née, parfois, à dire vrai, au moins chez certains de ses représentants, mais non, chez tous, un peu trop exclusivement disposées à reduire les recherches comparatives à l'étude des influences, qui n'en est qu'un aspect." 9 Ihm, der sich als Apologet der vergleichenden Methode erwiesen und auch ständig den Dialog mit der Soziologie gesucht hatte, war das Konzept der Komparatistik zu eng gefaßt, der Interdisziplinarität zwischen Sozialgeschichte und Vergleichender Literaturwissenschaft blieben somit Grenzen gesetzt.

Und auch Bart Keunen bleibt in seinem einleitenden Beitrag vorsichtig. Die Arbeit komparatistisch orientierter Literatursoziologen, so heißt es dort, hätten mit traditionellen Formen der Vergleichenden Literaturwissenschaft (Thematologie, Genrestudien usw.) wenig gemein. Wenn also von >Literatur< und >Gesellschaft< die Rede ist, muß eine komparatistische Diskussion die Bereitschaft voraussetzen, beide Kategorien in verschiedene Kontexte zu setzen und sich mindestens auch die Frage stellen, inwiefern die vorgestellten Ansätze der Literatursoziologie als Grundlagen für übernationale Vergleiche anwendbar sind. Dieser Anspruch fehlt den meisten Beiträgen dieses Bandes, sodaß er bestenfalls den Status quo der literatursoziologischen Theoriedebatte widerspiegelt. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt die Lektüre zweifellos, bloß der Komparatist beendet diese unbefriedigt.


Dr. Ernst Grabovszki
Universität Wien
Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft
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A-1090 Wien

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Ins Netz gestellt am 24.09.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Norbert Bachleitner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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Anmerkungen

1 Ursula Link-Heer: Literatursoziologie: Und sie bewegt sich doch? Zur "Textsoziologie" von Peter V. Zima. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14,1 (1989), S. 203–212.   zurück

2 The Bernheimer Report 1993. Comparative Literature at the Turn of the Century. In: Comparative Literature in the Age of Multiculturalism. Hg. v. Charles Bernheimer. Baltimore u.a.: John Hopkins University Press 1995, S. 39–48, hier S. 42.   zurück

3 Vgl. dazu die weiteren Beiträge in dem genannten Band.   zurück

4 Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hülfsmittel zum Studium der Geschichte. Leipzig: Duncker & Humblot 1894, 2. Aufl., S. 79.   zurück

5 Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.   zurück

6 Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka: Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung. In: H.-G. H. / J. K. (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt / Main: Campus 1996, S. 9–45. Hier S. 12f.   zurück

7 Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Hg. u. eingeleitet von René König. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1995, 3. Aufl..   zurück

8 Als eines der aktuellsten Beispiele sei genannt: Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt / Main u.a.: Campus 2002.   zurück

9 Marc Bloch: Comparaison. In: Revue de synthèse historique (1930), S. 31–39, hier S. 33.   zurück