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Wichtiges Überblickswerk zur Geschichte der
Juden in Europa im Handbuchformat

  • Elke-Vera Kotowski / Julius H. Schoeps / Hiltrud Wallenborn (Hg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. 2 Bde. Band 1: Länder und Regionen, Band 2: Religion, Kultur, Alltag. Darmstadt: Primus 2001. 1016 S. Leinen. EUR (D) 99,00.
    ISBN: 3-89678-419-6.
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In Zeiten, in denen durch die Fülle von wissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelbänden und Monographien Forschungsgebiete sich in immer kürzeren Zeitabständen entwickeln und verändern, ist die Initiative eines Handbuches, das auf dem Stand der neueren Forschung eine erste Orientierung bietet, besonders verdienstvoll. Dies gilt umso mehr für ein Feld wie das der Jüdischen Studien, das im deutschsprachigen Raum als eigenständige akademische Disziplin zwar nur an wenigen Universitäten vertreten ist, durch seine Überschneidungen mit anderen Fächern aber dennoch im interdisziplinären Forschungsdiskurs stark vertreten ist und zunehmend an Bedeutung gewinnt. In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass das vorliegende Handbuch sich nicht nur an Judaisten, sondern sich in mindestens gleichem Maße auch an Kulturwissenschaftler aller Fachdisziplinen sowie an die große Gruppe Interessierter richtet.

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Das vorliegende Handbuch ist von dem Bewusstsein um diese Aufgabe durchaus geprägt. Zwei getrennte Bände liefern in kleineren Aufsätzen, die jeweils zwischen 10 und 25 Seiten lang sind, einen Überblick zur historischen Entwicklung. Es spricht für die Konzeption des Handbuches, dass es nicht nur Platz für Kurzbeiträge einräumt, sondern mit dem Format kleinerer Aufsätze Raum für eine differenzierte Darstellung bietet.

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Der erste Band widmet sich »Länder[n] und Regionen«. Damit folgt der Band einem historiographischen Ordnungsschema, das sich an Regionen / Ländern zu einem bestimmten historischen Abschnitt orientiert. Die Aufsätze, die sich, wie die Herausgeber schreiben, mit der »jüdisch-christlichen bzw. jüdisch-muslimischen Beziehungsgeschichte« (S. 11) auseinandersetzen, haben einen deutlichen Schwerpunkt im mitteleuropäischen, deutschsprachigen Raum, ohne dass andere europäische Regionen zu kurz kämen. Es gehört zu den besonderen Stärken dieses Bandes, dass auch Länder Berücksichtigung finden, die üblicherweise in Darstellungen jüdischer Geschichte in Europa nur eine marginale Position einnehmen, wie etwa die skandinavischen Länder, denen hier ein Sammelbeitrag von Ulf Haxen gewidmet ist.

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So einleuchtend diese Einteilung auch ist und so überzeugend sie in den einzelnen Beiträgen gefüllt werden kann, es verbleibt ein methodisches Problem, das die Herausgeber selbst in ihrer Einleitung aufführen: Die Einteilung der geographischen Räume nach den heutigen Staatsgebieten ist insofern künstlich, als diese Raumordnungen in der Regeln ein Produkt des 19. beziehungsweise des 20. Jahrhunderts sind und sich jüdisches Leben nur bedingt an diesem Rahmen orientierte. Die Herausgeber, die aus systematischen Gründen eine solche Einteilung nicht preisgeben wollten, haben versucht, diesem Problem dadurch zu begegnen, dass gegebenenfalls entsprechende Regionen, die zu je unterschiedlichen Staaten gehörten (beispielsweise das Elsass), entsprechend wiederholt behandelt werden. An dieser Stelle hätte man sich durchaus auch eine ergänzende Einfügung von Kapiteln zu jenen ›Grenz-‹ oder ›Zwischen‹-Regionen vorstellen können, die für die jüdische Geschichte von besonderer Bedeutung waren. Die Geschichte Galiziens etwa als einer Region, die in besonderer Weise durch das Zusammenleben verschiedener Ethnien und Kulturen geprägt ist und deren Entwicklung sich oftmals gerade im Gegensatz zu staatlichen Ordnungsparametern vollzog, wäre einer solchen eingehenderen Betrachtung, gerade vielleicht im Hinblick auf die spezifische Dynamik solcher Regionen, wie sie etwa von den postcolonial studies beschrieben wird, wert gewesen. So ein Blickwinkel hätte nicht nur der Region eine entsprechende Würdigung zukommen lassen, sondern wäre auch aus der Perspektive historiographischer Methodik eine interessante Bereicherung gewesen.

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Der zweite Band hebt sich von der geographisch-historischen Ordnung des ersten Bandes ab und behandelt die Themen »Religion, Alltag, Kultur«. Unter den Überschriften »Binnenstruktur«, »Religion«, »Kulturelle Entwicklung«, »Geistige Entwicklung«, »Die Juden und die christliche Gesellschaft«, »Judenfeindschaft« und »Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus« werden die verschiedensten Aspekte jüdischer Geschichte dargestellt.

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Eingeleitet wird der Band mit einem Aufsatz von Sergio DellaPergola, der der demographischen Entwicklung des europäischen Judentums gewidmet ist. Dieser Beitrag kann insofern paradigmatischen Charakter für das gesamte Handbuch beanspruchen, weil er – am Beispiel der oftmals nur nachrangig betrachteten Frage der Demographie – eine Skizze jüdischen Lebens in Europa vom 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart zieht. Diese Perspektive lässt nicht nur Bezüge zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Umwelt erkennen (Mischehen, Konversion), sondern macht vor allem auch deutlich, dass die Konzentration auf Europa immer nur in dem Bewusstsein erfolgen kann, dass man wichtige Zentren jüdischen Lebens ausklammert. Insofern erscheint die von DellaPergola beschriebene »ernsthafte Gefährdung der Kontinuität und Qualität jüdischen Gemeindelebens in Europa« (S. 28) in dem Sinne als bruchstückhaft, als die Migration in die USA und nach Israel hier aus europäischer Perspektive nur als ›Wegzug‹ gedeutet wird. Hierüber gerät allerdings die Frage, ob und in welcher Form in diesen Zentren Formen jüdischen Lebens, wie sie in Europa entstanden sind, weitergeführt werden, leider aus dem Blick. In diesem Sinne wäre zu wünschen gewesen, dass man sich in einem eigenen Kapitel der kulturellen Bedeutung von Migration für die jüdische Geschichte in Europa zugewandt hätte.

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Beeindruckend an der Konzeption des Bandes ist vor allem die thematische Vielfalt, die durch die unterschiedlichen Beiträge abgedeckt wird. Sowohl die Zentralthemen jüdischer Geschichte finden eine angemessene Berücksichtigung als auch Spezifika, die bislang vielfach nur am Rande eine Beachtung gefunden haben. So widmet sich etwa das Kapitel zur kulturellen Entwicklung nicht nur der Literatur und Volkskultur, sondern auch den Fragen von jüdischer Kunst und Architektur – beides in Beiträgen von Hannelore Künzl. Gerade diese Berücksichtigung der bildenden Kunst kann im Rahmen eines Handbuches nicht hoch genug gewürdigt werden, da dieser Aspekt jüdischen Lebens ansonsten gerade in Überblicksdarstellungen oftmals zu kurz kommt.

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Die Beiträge variieren nicht allein in ihrem Umfang, sondern auch in ihrem Anspruch. Die Herausgeber haben – zugunsten einer größeren Freiheit der Autoren – auf eine verbindliche Strukturierung der Beiträge, etwa im Sinne einer stets wiederkehrenden Gliederung, verzichtet. In Anbetracht der angestrebten Vielfalt wäre dies vermutlich auch kaum umzusetzen gewesen, ohne die Besonderheiten der Themen in eine Gleichförmigkeit der Form zu pressen. Gleichwohl ist auffällig, dass manche Beiträge sich eher als den status quo der Forschung konstatierende Berichte verstehen, während andere Beiträge neue Positionen entwickeln und vertreten.

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Als besonders gelungenes Beispiel für letztere Form sei hier auf den Beitrag von Joachim Schlör mit dem Titel »Jüdische Siedlungsformen: Überlegungen zu ihrer Bedeutung« verwiesen. Schlör versteht das Konzept der Siedlungsform nicht in einem soziologischen Sinne, sondern sucht eher – durch eine gelungene Zusammenschau von historischen Topographien, Religion, Literatur und kulturellem Diskurs – die den Siedlungen zugrunde liegenden imaginären Ordnungen nachzuzeichnen. So gelingt es ihm in seinem Beitrag unterschiedliche Raum-Entwürfe, wie Ghetto, Schtetl oder Großstadt, in ihrer jeweils spezifischen kulturellen Bedeutung zu analysieren. Hierbei geht er weit über den Allgemeingrund der Forschung hinaus und skizziert gleichzeitig eine Form jüdischer Studien, die aus der Vielfalt ihr verwandter akademischer Disziplinen eine produktive Fülle werden lässt.

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Während das Handbuch durch seine thematische Breite und die Beiträge hochrangiger, international ausgewiesener Autoren einen wichtigen Beitrag für das Feld der Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum leistet, kann doch an dieser Stelle ein kleines Monitum nicht unerwähnt bleiben: Von Seiten des Verlages her hätte man sich eine etwas ›reichere‹ Ausstattung der Bände gewünscht – reicher in dem Sinne, dass es beispielsweise an graphischen wie kartographischen Darstellungen mangelt, die aber doch gerade in Anbetracht des Aufbaus des ersten Bandes wünschenswert erschienen wären. Hinzukommt, dass der Aufbau und die Ordnung der Bibliographie – von der ja der Nutzen eines Handbuches in entscheidender Weise abhängt – recht umständlich sind und somit ein Hindernis für den wissenschaftlichen Nutzer darstellen, der ausgehend von den Artikeln sich weitergehend in einzelne Fragen vertiefen möchte. Hier wären eine stärkere Ordnung und eine größere Benutzerfreundlichkeit zu wünschen gewesen.

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Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass das vorliegende Handbuch eine entscheidende Lücke schließt und sowohl für den Fachwissenschaftler wie für den allgemein Interessierten an jüdischer Geschichte eine wichtige Handreichung bietet. Dass im Einzelnen Ergänzungen und Weiterungen wünschenswert erscheinen – so bleiben etwa im Bereich der kulturellen Entwicklung Theater und Film leider unerwähnt –, sei an dieser Stelle nicht als grundlegende Kritik verstanden, sondern als Fingerzeig dafür, dass einem so wichtigen propädeutischen Werk hoffentlich eine kontinuierliche Neuauflage und Weiterung zugestanden wird.