Hamacher über Elsaghe: Die literarische Konstruktion nationaler Identität bei Thomas Mann

Bernd Hamacher

Die literarische Konstruktion nationaler Identität:
Thomas Mann für die Gebildeten unter seinen Verächtern

  • Yahya A. Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das "Deutsche". München: Fink 2000. 429 S. Kart. DM 78,00.
    ISBN 3-7705-3455-7.


Die Zeit war reif für diese groß angelegte Thomas-Mann-Monographie: Endlich ein Buch, das keine biographischen Enthüllungen verspricht,1 dessen Autor sich nicht für Thomas Manns Homophilie interessiert, endlich eine umfassende Untersuchung des Mannschen Werks, die ohne ständigen Rekurs auf das unvermeidliche "Dreigestirn" Schopenhauer, Nietzsche und Wagner auskommt, 2 endlich eine bedeutende Arbeit, die die ausgetretenen Pfade von Quellenkritik und Literaturpsychologie verläßt und den Anschluß an methodische Verfahren wie Diskursanalyse und Dekonstruktion sucht, die ansonsten in der Thomas-Mann-Forschung nur am Rande betrieben werden.

>Dekonstruktion< der Autorintention?

Elsaghes Buch kann also mit Fug und Recht als Pionierarbeit bezeichnet werden, und diesem Umstand mag es zuzuschreiben sein, daß er sich im Feld der Forschung nicht ohne Polemik positioniert und das Pendel des Rezeptionsinteresses ganz dezidiert in eine andere Richtung ausschlägt: Es gehe "[i]m Unterschied zu den Haupttendenzen der bisherigen Forschung [...] weniger um das eigentlich Originelle und als originell Intendierte der Werke, sondern um das, was an ihnen Teil und Ausdruck übergreifender Strukturen ist und dem Autor möglicherweise sogar gleichsam hinter dessen Rücken unterlief" (S. 13).

Wenn im Zuge dessen die bisherige Forschung an manchen Stellen einigermaßen pauschal einer identifikatorischen und apologetischen Lektüre geziehen wird – Elsaghe spricht von den "den >Klassiker< erst konstituierenden Identifikationen der Rezeptionsgemeinschaft mit >ihrem< Autor" (S. 14) –, so muß im Gegenzug sein Glaube an die Möglichkeit verwundern, "mit großer Genauigkeit die Abstände der jeweiligen Autorintention zu dem auszumessen, was in den betreffenden Texten tatsächlich steht" (S. 13).

Um eine solche Autorintention einigermaßen zuverlässig ermitteln (und anschließend >beurteilen<) zu können, wäre zumindest zweierlei erforderlich: zum einen eine genaue Einbeziehung der jeweiligen kommunikativen Kontexte, in denen Thomas Manns ausufernde (und oft genug scheinbar widersprüchliche) Selbstkommentare stehen, und zum anderen eine detaillierte Analyse der Erzählhaltungen und -strategien. 3 Beides liefert Elsaghe nicht immer.

Freilich wäre es nicht angemessen, angesichts des Umfangs der Untersuchung und ihrer beeindruckenden Materialfülle sogleich mit Einwänden und Desideraten kontern zu wollen. Diese sind vielmehr zurückzustellen, um vorderhand Elsaghes grundlegende Leistungen zu würdigen.

Imaginäre Konstruktion des deutschen Reichs

Die Grenzen, in denen die Gründung des >kleindeutschen< Kaiserreiches 1871 erfolgte, waren bekanntlich von Anfang an umstritten und bedurften zusätzlicher Legitimierung. Elsaghes Grundanliegen ist, zu zeigen, wie Thomas Mann als repräsentativer Angehöriger der ersten Generation nach der Reichsgründung in seinen Texten zum einen diese diskursive Konstruktion der Grenze in verschiedenen Aspekten vornimmt, nämlich "auch als Sprach-, Kontinental- und als Geschlechtergrenze", und zum anderen die fortbestehenden reichsinternen "kulturellen, konfessionellen oder ökonomischen Differenzen und Rivalitäten" (S. 21) reflektiert. Die so entstehenden kulturellen Antithesen der Texte begreift Elsaghe als "Mythen" im Sinne Roland Barthes‘. 4

Die Legitimierung und diskursive Abstützung der deutschen Reichsgrenze erfolgte daher nach Elsaghe durch Literatur, und er untersucht sie in bezug auf Thomas Mann anhand jener Texte, bei denen erzählte Zeit und Handlungsraum zumindest teilweise im Wilhelminischen Kaiserreich nach 1871 situiert sind und die auch überwiegend in jener Zeit entstanden. Hinzu kommt ein ausführliches Kapitel über Die Betrogene, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde und zwischen den Weltkriegen spielt. Hier wie auch beim Doktor Faustus – will Elsaghe Kontinuitäten und Akzentverschiebungen gegenüber dem Frühwerk aufzeigen.

Dem größten nationalistischen Begründungsdruck war die Südostgrenze des Reiches ausgesetzt, und dementsprechend griffen hier die entschiedensten Kompensationsmechanismen. Im ersten Kapitel zum Tod in Venedig breitet Elsaghe ausführliches Material zur Geschichte der Hygiene aus, um zu veranschaulichen, wie die Reichsgrenze im allgemeinen und die Grenze zu Österreich im besonderen als "cordon sanitaire" (S. 39) imaginiert wurden.

Die >Ansteckung< erfolgt, wie noch viel später im Doktor Faustus, außerhalb des Reichs, wobei fremdländische Vorfahren, bezeichnenderweise mütterlicherseits, die Disposition zur >Infektion< begünstigen und dem Überschreiten der Grenze jeweils innerhalb des Reichs eine Bewegung von Nord nach Süd beziehungsweise von West nach Ost vorausliegt – eine Bewegung, die mit dem allmählichen Verlust zunächst der deutschen und schließlich der Sprache überhaupt einhergeht.

Literarischer Antisemitismus

Die wichtigste innerdeutsche diskursive Grenze verläuft nach Elsaghe zwischen >Deutschen< und >Juden<. Anhand eingehender Analysen von Tristan, Gladius Dei und Buddenbrooks belegt er, in wie großem Ausmaß Thomas Mann die zeitgenössischen rassenbiologischen antisemitischen Stereotypen in seinen Texten aufnahm und tradierte.

Hier berührt Elsaghe in der Tat einen wunden Punkt der Forschung, die sich dem Problem der Antisemitismen in den Texten ihres Autors noch nicht wirklich gestellt hat. 5 Dabei lag das wichtigste von Elsaghe genutzte Instrumentarium, die bahnbrechende Arbeit von Dietz Bering über >jüdische< Namen, 6 schon seit etlichen Jahren bereit.

Auf ihrer Grundlage gelingt unter anderem eine Aufschlüsselung der Vornamensinitialen. Zusammen mit anderen Elementen des zeitgenössischen anthropologischen Diskurses wie der Physiognomik wird so der Befund einer Übereinstimmung Thomas Manns mit dem entstehenden Rassenantisemitismus in Deutschland erhoben. Daß diese Übereinstimmung auch von heutigen Lesern kaum erkannt, geschweige denn als problematisch empfunden wird, sollte in der Tat zu denken geben.

Der aktive – also doch wieder: intentionale – Anteil des Autors an den Antisemitismen in seinen Texten bleibt dabei gleichwohl umstritten, denn auch Elsaghe selbst konstatiert, daß das ">Künstlerproblem< frappante Homologien mit dem [...] Problem der Antisemitismen" aufweise:

Bei der individuellen Vereinsamung des >Künstlers< wie bei der kollektiven Ausgrenzung >der< Juden wird je ein aus heutiger Sicht sozial verursachtes und soziologisch beschreibbares >Problem< zu einem naturgegebenen umgemodelt. (S. 101)

Auf dieser Ebene wird mithin die Eindeutigkeit der diskursiven Grenzziehung aufgelöst, empfindet sich doch der fiktive wie der reale Autor gleichzeitig – qua bürgerliche Existenz – als >Deutscher< und – qua Künstlertum und Homophilie – als >Jude<.

Diesen Schritt der Auflösung starrer Antithesen indes geht Elsaghe nicht mit, wie sein umfangreiches Kapitel zu Gladius Dei zeigt, in dem ihm zwar eine überzeugende Entlarvung der Figur M. Blüthenzweigs als antisemitische Karikatur gelingt – bis hin zur Darstellung der "unweigerliche[n] Ekelreflexe" (S. 140), die der >poröse< jüdische Körper in Manns Texten regelmäßig auslöst –, er aber kein Wort über die alles andere als >deutsche< Erscheinung des Hieronymus verliert, dessen kaum minder bösartige Karikatur nur sehr eingeschränkt als auktoriale Identifikationsfigur taugt.

Die Grenze seines Erklärungsmodells, das der erzählerischen Komplexität der Texte nicht immer gerecht wird, zeigt sich auch im späteren Kapitel über Königliche Hoheit an der "Ratlosigkeit", die Elsaghe angesichts des auf die Figur Überbeins gemünzten Befundes eingesteht, daß die "sozusagen milieutheoretische Erklärung der äußeren Erscheinung" den ansonsten den Text prägenden "neofeudalistischen Ideologemen" widerspreche (S. 334) – eine Ratlosigkeit freilich, die der Interpret umgehend wieder dem Text selbst zur Last legt.

Thomas Mann als Vertreter der Genieästhetik?

Spart Elsaghe insgesamt nicht mit Angriffen gegen die Forschung, so sieht man ihn am Ende des Kapitels zu Gladius Dei selbst einem längst überwunden geglaubten Forschungsmythos unterliegen, wenn er die in der Erzählung geschilderte Reproduktion des Kunstwerks, die "die Voraussetzungen aller Genieästhetik vernichtete", als "für Thomas Mann besonders bedrohlich" bezeichnet (S. 156).

Zwar galt Thomas Mann der Germanistik bis zu seinem Tod als Vertreter der Genieästhetik, für die ihn jetzt auch Elsaghe wieder reklamieren will, doch die Öffnung des Nachlasses hat den Forschern auch die Augen über die wahre Natur seiner inzwischen sprichwörtlich gewordenen >ausgestopften Vögel< geöffnet. Erst die Überwindung des Genieparadigmas in der Moderne machte eine schriftstellerische Produktion wie diejenige Manns überhaupt möglich, auch wenn er selbst sehr wohl um die Zählebigkeit des Geniemythologems auf der Rezeptionsseite wußte und diesen Mythos zu seinen Gunsten kalkuliert zu pflegen verstand.

Von Ost nach West: die neue Grenze im Spätwerk

Das Kapitel zur späten und von der Forschung kaum beachteten Erzählung Die Betrogene – das umfangreichste Kapitel des ganzen Buches – dient vor allem dem Nachweis, daß die Verschiebung der wichtigsten kulturellen Grenze von Südosten nach Westen die Abgrenzung von Amerika und ineins damit auch von der westlichen Demokratie implizierte.

Gelegentlich mag es jedoch scheinen, als seien es weniger Thomas Manns vorgeblich stabile kulturelle Antithesen, die von Amerika gefährdet würden, als vielmehr die eindeutigen Sinnzuschreibungen des Interpreten, so wenn er in bezug auf die Figur Ken Keatons konstatieren muß, daß der "Unlesbarkeit oder [...] Trüglichkeit der körperlichen Erscheinung in sozialer Hinsicht [...] der Gegensatz [entspricht], in dem diese Erscheinung zur realen Verfassung des fatal begehrten Männerkörpers steht" (S. 217).

Der Versuch, Thomas Mann noch nach dem Zweiten Weltkrieg antidemokratische Gesinnung nachzuweisen, wirkt forciert und ist einigermaßen müßig. Verblüffende Aktualität noch im gegenwärtigen politischen Diskurs erhalten Die Betrogene oder Felix Krull dagegen durch Elsaghes Überlegungen zur "Imagination der deutschen Westgrenze" (S. 267). Welche Rolle der Rhein als kulturelle Grenze im Alltagsdiskurs des Rheinlandes schon immer spielt, ist nicht nur in Köln evident, wo die Opposition zum rechtsrheinischen Düsseldorf schon ritualisiert ist und bis auf die Abwertung der rechtsrheinischen Stadtteile von Köln selber durchschlägt.

Bei Thomas Mann ist es natürlich umgekehrt: ">[W]estlich< des Rheins [...] käme schlechterdings alles hygienisch Bedenkliche zu liegen" (S. 267). So ist es auch heute wieder, im März 2001, aus rechtsrheinischer, nämlich Düsseldorfer Sicht, wenn die nordrhein-westfälische Umweltministerin angesichts der Maul- und Klauenseuche vor Fahrten nach Frankreich warnt und die rheinland-pfälzische Landesregierung in Mainz – also links des Rheins – diese Warnung kritisiert: Ist der Rhein also noch heute hygienische Grenze und >cordon sanitaire<?

Elsaghes Buch nötigt hier zu Reflexionen über die heutige Konstruktion und Imagination der Nation, zumal wenn er hervorhebt, daß in der Betrogenen die "neue Krankheit" (S. 285), der Krebs, zwar "nicht von außen einzudringen, sondern immer schon in Deutschland gelauert zu haben" scheine (S. 288), auf den zweiten Blick aber aufgrund seiner spekulativen Ätiologie doch "durch den Begehrten bedingt, und das hieße wieder: durch einen Fremden ausgelöst" werde (S. 294).

Die Suche nach der Mutter

In den letzten Kapiteln seiner Arbeit, die in einen "Anhang" münden, stellt Elsaghe seine diskursanalytischen Prämissen zurück und argumentiert immer stärker autobiographisch, wenn er Bezüge "der literarischen Frauenfiguren zur realen Mutter" (S. 300) untersucht, betont aber andererseits doch deren kulturelle Symptomatik im Kontext der "weiblichen Sexualisierung des Fremden" (S. 307), der Verbindung von Rassismus und Sexismus.

Das Fazit der Analyse von Manns autobiographischen Texten lautet, daß der Autor im Kaiserreich im Zuge seiner bürgerlichen oder gar quasifeudalen Selbststilisierungen die Herkunft seiner Mutter weitgehend verschwieg oder falsche Angaben darüber machte, während er sich später, als arrivierter Autor und Nobelpreisträger 7 in Weimarer Republik und Exil, offener zu ihrer Fremdheit bekennen konnte.

Was aber bewog Mann zu seiner Camouflage? Anhand der Angriffe und Verdächtigungen des völkischen Germanisten Adolf Bartels kann Elsaghe zeigen, daß "das portugiesische Volk von allen europäischen" im zeitgenössischen Diskurs als "das rassenhaft schlechteste", nämlich >jüdischste< galt (S. 374, Zitat von Bartels). Unter den Vorfahren von Julia Mann aber waren Portugiesen, so daß Thomas Mann, der die völkischen Kriterien internalisiert habe, "um eine generelle Aufwertung des eigenen >Bluts< nach allgemeinen Standards" bemüht gewesen sei, "durch die insbesondere dem Verdacht auf >jüdische[ ] Blutbestände< vorgebaut werden sollte" (ebd.).

Anmerkungen zur Methode

Damit verknüpft Elsaghe abschließend die autobiographische Analyse zwar wieder mit seinem diskursgeschichtlichen Erkenntnisinteresse, doch bleibt nach der Anlage des Buches der Eindruck haften, daß die Studie nach breitem kulturgeschichtlichen Beginn doch in immer stärkerer Engführung wieder auf den realen Autor Thomas Mann zuläuft und es letztlich weniger um die imaginäre Nationalitätskonstruktion der Deutschen als um eine ganz private "Bewältigungs- oder Verdrängungsarbeit" (S. 377) gehe. Das ist schade, denn so macht es Elsaghe natürlich seinen Gegnern leichter, ihrerseits seine Ergebnisse zu verdrängen und etwa zu dem Fazit zu gelangen, daß er lediglich eine apologetische durch eine denunziatorische Lektüre ersetze, was seiner Leistung nicht gerecht würde.

Der diskursanalytische Impetus der Arbeit ist also zu relativieren bzw. gegen ihren Verfasser selber zu wenden, der hinter dem Rücken seiner Intentionen die "Rückkehr des Autors" 8 inszeniert, den er in der Einleitung etwas voreilig verabschiedet hatte.

Diese vermeintliche Inkonsequenz erklärt sich natürlich aus dem Bemühen, dem autobiographisch orientierten >Mainstream< der Forschung auch auf dessen angestammtem Felde zu begegnen. Überhaupt trügt der programmatische Anschein, als werfe Elsaghe traditionelle Forschungsmethoden über Bord. Vielmehr kann er aus verschiedenen Ansätzen mancherlei Kapital schlagen, indem ihm etwa gleichsam im Vorbeigehen wertvolle quellenkritische Funde gelingen (vgl. z.B. S. 108f.) oder er weitreichende Einsichten aus einer subtilen rhetorischen Analyse einzelner Passagen schöpft (vgl. z.B. S. 163f.).

Obwohl er also weit davon entfernt ist, einem strengen Methodenmonismus zu huldigen, trifft Elsaghe doch eine verhängnisvolle Vorentscheidung, die für einen Großteil der Einwände verantwortlich ist, die man gegen seine Untersuchung vorbringen kann. Er stellt nämlich in der Einleitung eine "in der hier interessierenden Hinsicht erstaunliche Konstanz" der Primärtexte fest und fügt hinzu: "solche Konstanz und Einförmigkeit des Gesamtwerks nachzuweisen gehört schon zu den hauptsächlichen Zielen der Untersuchung" (S. 14).

Gewiß ist es legitim, die >Kanonizität< der Mannschen Texte in Frage zu stellen, aber mit einer dezidiert reduktionistischen Lektüre, deren Ergebnisse von vornherein feststehen, wird man ihnen wohl kaum gerecht. Die Arbeit teilt in dieser Hinsicht das Problem mancher Diskursanalysen, eine überbordende Materialfülle durch eine vorhersehbare Leitthese zu selektieren und damit zum einen der Gefahr der Monotonie zu erliegen und zum anderen die Befunde im Sinne der These zu steuern.

So ist auch der Umgang mit der Forschung ärgerlich. Zwar behauptet Elsaghe, daß "ein wesentlicher Teil der ganzen Untersuchung in der Diskussion der Forschungsliteratur" bestehe (S. 23), aber dann werden doch fast nur solche Arbeiten herangezogen, mit denen er eher leichtes Spiel hat. Was seine These von der Einförmigkeit und dem grundsätzlich affirmativen Charakter der Mannschen Texte gefährden könnte, wird nicht zur Kenntnis genommen – oder aber pauschal denunziert, wie "das in der Thomas Mann-Rezeption so beliebte Interpretationstheorem der Ironie" (S. 370). 9

Forschungsperspektiven

Aus der Untersuchung ausgeschlossen werden jene Texte, "deren erzählte Zeit in keiner direkten Beziehung zu den Weiterungen der deutschen Nationalidentität steht" (S. 13). Aber gilt dieses Ausschlußkriterium denn für Lotte in Weimar, das zwar natürlich nicht im Kaiserreich spielt, aber durch das Medium Goethe die Entstehung eines deutschen Nationalbewußtseins im Kampf gegen Napoleon thematisiert (und kritisiert)?

Und was ist mit der Josephstetralogie? Ihre Behandlung hätte zwar den Rahmen des Buches gesprengt, doch gerade hier, so scheint mir, würde der wirkliche Probierstein seiner Thesen liegen. Gibt es nicht auch in diesem von der zeitgenössischen Rezeption als projüdisch entweder gepriesenen oder verdammten Roman handfeste Antisemitismen, etwa in der Gestaltung von Josephs Brüdern? 10 Wenn man Elsaghes >bösen Blick< adaptieren wollte, könnte man gar von einer >Rassenkarriere< Josephs sprechen, die aber andererseits in die menschheitsgeschichtliche Utopie eines dritten Ortes jenseits der Rassen mündet – eines Ortes, der offenbar auch dem Selbstbild Thomas Manns seit seiner Exilzeit entsprach.

Hier sind dringend weitere Forschungen erforderlich, die Elsaghes Provokationen produktiv werden lassen, indem sie die Lücken seiner Untersuchung in den Blick nehmen. Für den Herbst 2002 hat die Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft ein internationales Kolloquium über Thomas Mann und das Judentum angekündigt. Man darf gespannt sein.

Fazit

Einstweilen gilt als Fazit, daß eine reduktionistische Lektüre nicht von vornherein verfehlt sein muß, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – eine bislang nicht oder nur unzureichend erprobte Perspektive auf die Texte eröffnet und damit das Gesamtbild korrigiert und um neue Facetten bereichert. Zu einem solchen Gesamtbild aber kann sich Elsaghes Lektüre selber nicht runden.

Zu den erhellendsten Passagen des Buches gehören jene verstreuten Stellen, an denen der Verfasser nachweist, wie filmische Adaptionen manche Leerstellen der Mannschen Texte ganz im Sinne der ideologischen Grundstruktur füllen oder aber die Ideologie der Texte, wenn sie allzu anstößig scheint, stillschweigend korrigieren. Diesem Auffüllen von Leerstellen und Vereindeutigen von Polysemien unterliegt jedoch mit vielen anderen Interpretationen auch Elsaghe, so daß generell stärker auf Erzählstrategie und Lesesteuerung der Texte zu achten wäre. Eine aufmerksame Lektüre könnte so gleichsam in Selbstbeobachtung feststellen, wie ihre Bedeutungszuschreibungen durch textuelle Strategien erzeugt, aber auch immer wieder >dekonstruiert< werden.

Das Ziel wäre dann nicht eine "Komplizenschaft" (S. 370) von Interpreten und Autor, sondern die Erziehung von mündigen Leserinnen und Lesern.


Dr. Bernd Hamacher
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
D-50923 Köln
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Ins Netz gestellt am 24.04.2001

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Anmerkungen

1 Im Unterschied zu den jüngsten (ergebnislosen) Spekulationen von Michael Maar: Das Blaubartzimmer. Thomas Mann und die Schuld. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000.   zurück

2 Jüngstes (und voluminösestes) Gegenbeispiel: Thomas Klugkist: Sehnsuchtskosmogonie. Thomas Manns Doktor Faustus im Umkreis seiner Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagner-Rezeption. (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 284) Würzburg: Königshausen&Neumann 2000.   zurück

3 Noch immer – und ausgerechnet an diesem wichtigen Punkt befindet sich Elsaghe im Einklang mit der bisherigen Forschung, wenn er etwa anläßlich des Tod in Venedig zustimmend von der „immer wieder beobachteten Affinität von realem, fiktivem und fingiertem Autor“ spricht (S. 27 f.) – wird die Erzählperspektive bei Thomas Mann meist allzu voreilig mit der Position des Autors verrechnet. So wird auch die erzählerische Schuldzuweisung am Anfang von Der kleine Herr Friedemann von Elsaghe unbefragt für bare auktoriale Münze genommen (vgl. S. 298). Es könnte sich lohnen, nicht nur etwa in bezug auf Zeitblom in Doktor Faustus, sondern gerade auch in bezug auf die vermeintlich >auktorialen< Mannschen Erzähler die Theorie >unglaubwürdigen Erzählens< zu erproben. Vgl. dazu Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: A.N. (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT 1998, S. 3-39.   zurück

4 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964.   zurück

5 Repräsentativ ist der entschieden apologetische Abschnitt „Antisemitismus?“ in: Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München: Beck 1999, S. 209-211.   zurück

6 Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812-1933. Stuttgart: Klett-Cotta 1987.   zurück

7 Etwas voreilig spricht Elsaghe schon für die dreißiger Jahre von Manns „Ehrendoktorat, Professorenwürde, Nobelpreis und Papst- Audienz“ (S. 350), obwohl die Papst-Audienz erst 1953 stattfand.   zurück

8 Vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999. Diesen Text finden Sie auch online unter www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen.htm#janni1   zurück

9 Symptomatisch ist, daß eine fast gleichzeitig erschienene Arbeit teilweise zu diametral entgegengesetzten Urteilen über Thomas Manns Nationalitätsdiskurs kommt: Jochen Strobel: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns. Dresden: Thelem 2000.   zurück

10 Die Meinung einer anderen Rezensentin (der ich ansonsten in manchem beipflichte), daß es „ein Ding der Unmöglichkeit“ sei, im Joseph antisemitische Stereotype zu finden, kann ich nicht teilen. Vgl. Julia Schöll: Dekonstruktionen. Zu Yahya Elsaghes Studie über Thomas Mann und das „Deutsche“. In: literaturkritik.de 2.Jg., Nr.10, Oktober 2000. www.literaturkritik.de/txt/2000-10/2000-10-0091.html    zurück