Hamacher über Winkler: Kindlichkeit und Romantik

Bernd Hamacher

Kindlichkeit und Romantik

  • Angela Winkler: Das romantische Kind. Ein poetischer Typus von Goethe bis Thomas Mann. (Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur 9) Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2000. VIII/178 S. Kart. DM 69,00.
    ISBN 3-631-37268-X.


Typologische Romantik

Die Problematik einer typologisierenden Verwendung von literarischen Epochenbegriffen ist bekannt: Anhand paradigmatischer Beispiele wird ein bestimmter Merkmalsatz erhoben, der als typisch für die jeweilige Periode gelten soll, in einem zweiten Schritt jedoch von der historischen Situation und den einzelnen Texten abgelöst und auf andere Epochen übertragen wird. 1

So verfährt auch Angela Winkler in ihrer Heidelberger Dissertation über "das romantische Kind". Ihre diagnostische Sonde besteht aus zwei "romantischen Grundideen", nämlich "Nähe zur Natur und Bezug zur Transzendenz", aus denen sie "alle weiteren Zentralthemen der Romantik ableiten" will (S.1). Diese Grundideen sieht sie im romantischen Kind verkörpert:

Aus der Verbindung der Naturunmittelbarkeit mit der Nähe zum Göttlichen gewinnt das Kind die Mittlerrolle zwischen Himmel und Erde. [...] Hinter der Vereinigung von Natur und Transzendenz im Idealbild des Kindes verbirgt sich zugleich die Idee des romantischen Kunstideals. (ebd.)

Das "Urbild romantischer Kindlichkeit" (ebd.) wiederum erblickt Winkler in Goethes Mignon, womit die Folie entfaltet ist, vor der >romantische< Kinder nicht nur "bis Thomas Mann", wie der Untertitel verspricht, sondern sogar bis Johannes Elias Alder aus Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder" von 1992 betrachtet werden.

Die typologische Programmatik "erzwingt eine eingeschränkte Sicht der Mignonfigur, die sich auf die Kriterien des romantischen Kindtypus konzentriert" (S.22). Dieser selbst auferlegte Zwang macht sich auch bei den weiteren Analysen negativ bemerkbar dergestalt, daß deren Ergebnis im Grunde von vornherein feststeht. Nicht nur für Mignon gilt, daß ihre "Bedeutungsvielfalt" zwar eingeräumt, aber letztlich an den immergleichen Merkmalen der typologischen Romantik gemessen wird (S.24).

Diffuse Vorgeschichte der romantischen Kindheitsutopie

So ahistorisch-deduktiv Winkler ihre Prämissen zunächst vorträgt, ist sie doch daran interessiert, wie es zur Höchstrelevanz des Kindes seit Goethe kommen konnte, und findet deren Wurzeln bei Rousseau sowie in seiner Nachfolge bei Pestalozzi und schließlich in Schillers Vorstellung des Naiven. Dabei verwundert es, daß sie bei ihrer typologischen Vorgehensweise die Spur des "göttlichen Kindes" (z.B. S.2, S.14), auf die sie mehrfach hinweist, nicht genauer verfolgt.Dies ist um so überraschender, als dieser antike Typus für einen der behandelten Autoren, Thomas Mann, einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. 2

Irritierend ist weiterhin, daß Winkler zwar (mit Hans-Heino Ewers) 3 betont, "wie wichtig Herders Kindheitsbild für jenes der Romantik ist" (S.2), Herder jedoch kein eigenes Kapitel widmet, sondern lediglich ein paar Zitate im Text verstreut.

Und was soll man schließlich davon halten, daß die Autorin offenbar die industrielle Revolution schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts ansetzt, wenn sie bei Rousseau "ein gegenläufiges Bedürfnis nach Einfalt und Naturnähe" gegen den "Prozeß der Industrialisierung, der die Arbeit des Einzelnen technisch spezialisiert" (S.6), konstatiert? Denselben eigenwilligen Umgang mit der Geschichte legt Winkler an den Tag, wenn sie schreibt, daß Goethe in der Novelle 1828 den poetischen Typus des Kindes "antizipiert" (S.25), während die Ausprägungen dieser Antizipation, die im folgenden beschrieben werden, selbstredend sämtlich früher erfolgten.

Ebenfalls anhand der Deutung von Goethes Novelle zeigt sich, daß der Naturbegriff, der für die Romantik konstitutiv sein soll, ungeklärt ist. Einerseits spricht die Autorin vom "Naturfrieden" der Novelle, andererseits aber davon, daß dieser Frieden "zu einer Bewältigung der destruktiven ursprünglichen Kräfte führt, die als Leidenschaft und Gewalt zutage treten" (S.29), also aufgrund ihrer unterstellten Ursprünglichkeit wohl ebenso einer Art von >Natur< zugerechnet werden sollen. Daß Ursprünglichkeit sich nie von selbst versteht, sondern stets durch kulturelle Diskurspraktiken hergestellt wird, bedenkt die Interpretin nicht.

Thematische Kontexte romantischer Kindergestalten

Im zentralen zweiten Teil ihrer Arbeit, der der Literatur der Romantik gewidmet ist, geht Winkler systematischer vor, indem sie ihr Textkorpus (Novalis, Brentano, Tieck, Hoffmann, Eichendorff und Friedrich Schlegel) nach vier Themenkomplexen gliedert: neben dem bereits erwähnten von Natur und Transzendenz sind dies Kind und Gefühlsleben, Kind und Gesellschaft sowie Kind und Künstlertum.

Das Gefühlsleben der romantischen Kinder sieht sie von Sehnsucht und Melancholie geprägt, wobei die Berücksichtigung aufklärerischer Moraldiskurse – die die kindliche Melancholie auf übermäßige Leidenschaft der Eltern bei der Zeugung zurückführten – Perspektiven eröffnet, die bei der textimmanenten Vorgehensweise ansonsten weitgehend verschlossen bleiben.

Da eine überaus große Zahl von Beispielen auf knappem Raum abgehandelt wird, sind einige Urteile nur unzureichend begründet und daher fragwürdig. So ließe sich beispielsweise der Deutung, Nathanael in E.T.A. Hoffmanns Sandmann leide unter der Autorität seines Vaters und fürchte sich vor ihm (vgl. S.42), entgegenhalten, daß gerade die Figur des Vaters in dieser Erzählung gegenüber Coppelius keinerlei eigene Autorität besitzt.

Im Kapitel über Kind und Gesellschaft geht es genauer um Erziehung, wobei die Stichworte natürliche bzw. gesellschaftsferne Erziehung und "Nichterziehung" (S.47) zur Diskussion von Erziehungsschäden führen, die an romantischen Kindern sichtbar werden. Erneut nimmt Winkler dabei den Erziehungsdiskurs der Aufklärung als Negativfolie in den Blick, während sie im Kapitel über Natur und Transzendenz außer einer materialreicheren Unterfütterung der Eingangsthesen nun auch die Kehrseite des kindlichen Bezugs zur Transzendenz, "die pathologische Dimension des Daseins zwischen Realität und Imagination" (S.69), betont.

Im letzten Kapitel des zweiten Teils schließlich erscheint das Kind als Allegorie der romantischen Poetik, womit die Kinderdarstellungen in der Romantik als poetische Selbstreflexionen erwiesen werden.

Die biedermeierliche Erfindung der Romantik

Diese Erklärung des besonderen Status des Kindes in der Literatur der Romantik wird jedoch schon zu Beginn des dritten Teils, der sich mit Biedermeier und Realismus (vorwiegend Stifter, daneben Raabe und Keller) befaßt, beinahe dementiert, indem dieser Status selbst wieder in Zweifel gezogen wird. Irritiert liest man nämlich, daß das romantische Kind in der Romantik nur eine Randfigur sei und erst post festum seinen wirklichen Auftritt habe:

Während Kindergestalten in der Literatur der Romantik selten als Protagonisten vorkommen und noch überwiegend dazu dienen, die Darstellung der erwachsenen Protagonisten mit jener ihrer kindlichen Vergangenheit abzurunden, als Nebenfiguren, oft als Genius der Poesie, die Schilderung zu bereichern und poetologische Ideen zu verdeutlichen, räumt ihnen Stifter als Protagonisten in seinem literarischen Schaffen weitaus größeren Platz ein. (S.81)

So erscheinen insbesondere Ditha in Abdias und das "braune Mädchen" in Katzensilber als >bessere< romantische Kinder, da Stifter den Typus "insgesamt umfassender, facettenreicher, man könnte sogar sagen >romantischer<, ausgestaltet als die Autoren der Romantik" (S.91). Die bei diesem Befund naheliegende Frage, ob der Typus des romantischen Kindes daher eine nachromantische Erfindung, eine diskursive Konstruktion im Zuge der Historisierung der Romantik im 19. Jahrhundert sein könnte, stellt die Interpretin leider nicht.

Auch geht sie in ihrem wichtigen Kapitel über Stifter zwar auf die Oppositionsstellung der romantischen Kinder zur gesellschaftlichen Realität des Biedermeier ein, vermag der biedermeierlichen Kindheit selbst jedoch nur vage Konturen zu geben, die etwa anhand einer Analyse des ersten Kapitels des Nachsommer hätten geschärft werden können.

Die Oppositionsstellung der romantischen Kinder verstärkt sich erwartungsgemäß in der Literatur des Realismus, und bei der Schilderung der Erziehungsbemühungen, denen sie unterworfen werden – "bis hin zu einer tödlichen Radikalisierung des erzieherischen Bestrebens" (S.107) – , fühlt man sich an die aufklärerischen Maximen Joachim Heinrich Campes erinnert, die im zweiten Teil der Arbeit eingeblendet wurden, denen aber hier kein Pendant aus der Zeit des Realismus zur Seite gestellt wird.

Da Winkler im dritten Teil nur noch textimmanent vorgeht und nicht ihrer systematischen Gliederung nach Themenbereichen im zweiten Teil folgt, erfährt man leider nichts über den Erziehungsdiskurs des Realismus und darüber, wie dieser sich zur Aufklärung verhält.

Das romantische Kind im Exil

Der letzte Teil der Arbeit behandelt Das romantische Kind in der Literatur der Moderne anhand von drei Beispielen: Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Robert Schneider. Bei Hauptmann akzentuiert Winkler dessen auch autobiographische Auseinandersetzung mit dem Mignon-Typus, wobei sie die sexuellen Konnotationen nur andeutet und zu dem Resümee kommt, daß Hauptmann sich letztlich von der "Lebensfeindlichkeit" der romantischen Kunst (S.127) und ihren pathologischen Zügen distanziere.

Das zentrale Kapitel dieses Teils Das Kind in Thomas Manns Werk bringt leider keine neuen Erkenntnisse, was um so bedauerlicher ist, als dieses Thema noch keineswegs als endgültig abgetan gelten kann und sich hier durchaus noch eine Forschungslücke dargeboten hätte. So aber bleiben vor allem Fragen:

Warum wird Hanno Buddenbrook behandelt, nicht aber sein für den Typus des romantischen Kindes mindestens ebenso einschlägiger Freund Kai? Warum wird die Darstellung Lorchens in Unordnung und frühes Leid nicht mit der ihres Bruders, warum diejenige Elisabeths im Gesang vom Kindchen nicht mit der ihrer Geschwister, vor allem auch in dem in dieser Hinsicht besonders aufschlußreichen Tagebuch Thomas Manns, kontrastiert? Wo bleibt die kleine Asuncion aus dem frühen und kaum beachteten Text Der Tod? Was ist mit der Kindheit des kleinen Herrn Friedemann, wo bleiben die Kinder des Erzählers aus Mario und der Zauberer, und was ist, schließlich und vor allem, mit Tadzio aus Der Tod in Venedig? Dessen Fehlen stellt sicherlich die schmerzlichste Lücke der Untersuchung dar.

Statt dessen wird Joseph behandelt, obwohl die Interpretin selbst einräumt, daß er "nicht zum Typus des romantischen Kindes" zähle (S.143). Ihr Vorgehen rechtfertigt sie mit dem gemeinsamen "mythologischen Hintergrund des göttlichen Kindes" (ebd.). Auch hier gelingt es ihr jedoch nicht, diesen Hintergrund im Hinblick auf seinen psychologischen Stellenwert und seine Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum romantischen Typus auszuleuchten.

Erst bei der Darstellung der "ambivalente[n] Wirkung" (S.153) Echos im Doktor Faustus kann Winkler die Bedeutungsfacetten einer Mannschen Kinderfigur zumindest in Grundzügen entfalten und damit Hinweise auf den Stellenwert des Kindes in seinem Werk geben.

Zwei Aspekte hebt Winkler in ihrem abschließenden Kapitel über Robert Schneiders Schlafes Bruder hervor: daß "die literarische Behandlung des romantischen Kindertypus" zum ersten Mal "eine künstlerisch aktivere Komponente" erfahre (S.156) – Thomas Manns "Wunderkind" Bibi sei als einzige Ausnahme eigentlich keine, versichert uns die Interpretin – und daß der "Bruch mit Gott" (S.160) als modernes, unterscheidendes Kriterium hinzukomme.

Indem sie die Untersuchung bis an die Gegenwart heranführt, will sie offenbar vor allem ihrem Schlußsatz Plausibilität verleihen: "Solange es Autoren geben wird, die eine Diskrepanz zwischen Kunst und Gesellschaft empfinden, solange wird es auch immer wieder Kindergestalten geben, die dem poetischen Typus des romantischen Kindes entsprechen oder ihm nahestehen werden" (S.165).

Fazit

Mit diesem Fazit sind Leistungen und Grenzen der Untersuchung noch einmal präzise zusammengefaßt: Der typologische Ansatz verhilft dazu, ein überaus großes und heterogenes Textkorpus in den Blick zu nehmen und anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede die angedeuteten literarhistorischen und diskursgeschichtlichen Fragen zu entwickeln, die Winkler allerdings nur im Ansatz stellt und kaum zu beantworten unternimmt. So bleibt etwa die historische Repräsentativität der behandelten Kinderdarstellungen für die Zeit nach der Romantik völlig offen, so daß am Ende der falsche Eindruck entstehen kann, als hätten sich die Leitvorstellungen von Kindheit in Literatur und Gesellschaft seither nicht geändert.

Der Anspruch, den poetischen Typus des romantischen Kindes als kulturkritischen Topos zu erweisen, kann so nicht wirklich eingelöst werden, da der kulturelle Kontext durchgehend blaß bleibt, was vor allem an der methodischen Ausrichtung der Arbeit liegt, die neuere kulturwissenschaftliche Ansätze nicht aufnimmt.

Der nicht gestellten Frage nach der Repräsentativität der Beispiele begegnet Winkler implizit durch die große Anzahl der behandelten Texte, denen dann allerdings häufig nur wenige Sätze gewidmet werden. Wo die Untersuchung mehr in die Tiefe gehen müßte, bricht sie allzu oft mit einem Hinweis auf die Sekundärliteratur ab.

Warum dann nicht statt dessen wenigstens noch weitere Quellen erschließen? Für die Zeit der Romantik hätte sich ein kontrollierend-kontrastiver Seitenblick auf Kleist angeboten. Auch und gerade dann, wenn sie stumm sind, gewinnen dort die Kinder – wie in Michael Kohlhaas und im Erdbeben in Chili – größte Relevanz.

Bei Stifter könnte man sich die Berücksichtigung der pädagogisch-didaktischen Bemühungen des Autors wünschen, um auch für das 19. Jahrhundert den Erziehungsdiskurs, dessen Relevanz für die Entstehung des romantischen Kindestypus am Ende des 18. Jahrhunderts die Interpretin überzeugend nachweisen kann, in den Blick zu nehmen.

So empfiehlt sich Winklers schmales Buch, für eine Dissertation eher ungewöhnlich, weniger als innovativer Forschungsbeitrag denn als gut lesbare thematische Einführung, die auf knappem Raum nützliches ästhetisches und literarhistorisches Grundlagenwissen zur Romantik und ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte vermittelt.


Dr. Bernd Hamacher
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
D-50923 Köln
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Ins Netz gestellt am 20.03.2001

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Anmerkungen

1 So wurde der Begriff "Aufklärung" im Titel eines Sammelbandes programmatisch "von der Antike bis zur Gegenwart" ausgedehnt, ein Verfahren, dem einige Beiträger folgen, während es andere ablehnen: Vgl. Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1989. zurück

2 Vgl. Carl Gustav Jung und Karl Kerényi: Das göttliche Kind in mythologischer und psychologischer Beleuchtung. (Albae Vigiliae VI/VII) [Amsterdam:] Pantheon [1940]. zurück

3 Vgl. Hans-Heino Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck. München: Fink 1989. zurück