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Bernd Hamacher

K/ein theoretischer Kopf? Bernhard Greiners Kleist-Lektüre im Horizont Kants

  • Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum "Fall" der Kunst. (UTB 2129)Tübingen / Basel: Francke 2000. 460 S. Kart.
    DM 39,80.
    ISBN 3-8252-2129-6.

Kleist als Systematiker?

Wer die Kleist-Forschung der letzten zehn Jahre zumindest kursorisch zur Kenntnis genommen hat, wird hier und da auf eine einschlägige Arbeit von Bernhard Greiner, sei es in Aufsatz-, sei es in monographischer Form, gestoßen sein. Niemand, für den dies zutrifft, wird sich von den Grundthesen der nun vorgelegten Summe von Greiners Kleist-Lektüren überrascht zeigen. Obwohl er aber aus einem reichen Fundus eigener Publikationen schöpft, ist der Tübinger Germanist keineswegs dem Beispiel mancher Kollegen gefolgt und hat einfach seine Kleist-Essays zwischen zwei Buchdeckeln versammelt. Eine solche Arbeitsweise würde seinem systematischen Anspruch grundsätzlich nicht gerecht werden. Gerade die Auseinandersetzung mit diesem Anspruch aber steht noch aus, auch wenn es derzeit konsensfähig scheint (sofern man bei der kontroversen Kleist-Forschung überhaupt einen Konsens ausmachen kann), Greiners Thesen zumindest mit Skepsis zu begegnen 1.

Diese Skepsis läßt sich — noch ohne in die Detailargumentation einzutreten — in einem prinzipiellen Einwand bündeln: Wird man Kleist gerecht, wenn man ihn als philosophischen Kopf so ernst nimmt? Unterlegt man damit nicht seinen Texten einen Systemcharakter, der Kleist unter allen Autoren des klassisch-romantischen Zeitalters gerade am allerwenigsten zukommt? Das paradigmatische Gegenstück zu Greiners Monographie scheint László Földényis Kleist-Buch zu bilden 2 . Doch man täusche sich nicht: Auch die Fäden von Földényis Netz knüpfen ein inner- und intertextuelles System, das den Leser suggestiv umspinnt, aus dem er jedoch nicht so ohne weiteres zur kritischen Distanzierung hinausfindet.

Funktionswandel der Kunst — mit oder gegen Kant?

Greiner hingegen führt uns ein zweistöckiges anthropologisches Gebäude vor Augen: Im Souterrain befindet sich die physische Welt, in der Beletage die moralische Welt. Kleist erscheint nun als Baumeister, der den Umbau dieses — scheinbar oder anscheinend — mißlungenen Gebäudes unternimmt, bei dem die Verbindung zwischen den Stockwerken vergessen wurde oder nicht mehr auffindbar ist. Kleist habe seinem Versuch, zwischen Souterrain und Beletage ein Erdgeschoß als Verbindung einzuziehen, nach Greiner zwei unterschiedliche Baupläne zu Grunde gelegt: einmal Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft, einmal eine Adaption der vorkantischen Konzeption der Grazie. Dabei zeige sich, daß die historische Funktion der Kunst für Kleist nicht mehr — wie noch für Kant, aber auch ganz allgemein für klassische und romantische Entwürfe — darin bestehe, diese Vermittlungsaufgabe zu leisten, sondern im Gegenteil gerade darin, in immer neuen Experimenten die Unmöglichkeit der Vermittlung zu erweisen, woraus Greiner Kleists vielbeschworene >Modernität< begründet (vgl. S. 15).

Damit ist der entscheidende Punkt benannt, der Greiner selbst gelegentlich etwas aus dem Blick zu geraten scheint: Seine Kleist-Lektüre ist nicht nur ein cross-reading "mit Kant" 3, sondern mindestens genauso sehr "gegen Kant" 4. Dies läßt sich am Titelzitat seines Buches von 1994, Eine Art Wahnsinn 5 zeigen, das keineswegs, wie Greiner zu glauben scheint, von Goethe stammt, sondern auch bei diesem ein Zitat ist, und zwar ein Kant-Zitat, aber nicht aus der Kritik der Urteilskraft, sondern aus Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 6. Mit ihm ist in der Konsequenz des Kantischen Arguments präzise die Stelle bezeichnet, die die Kunst als Erbin mancher Funktionen der Religion in der Moderne übernimmt — und die Greiner bei Kleist völlig zu Recht unterstellt. Aber es ist eben keineswegs eine Kunst, die noch, und sei es experimentell, an das Kantische System anschließbar wäre, sondern die vielmehr ein Problemreservoir bildet, das bei Kant dezidiert aus dem Spektrum nicht nur seines Systems oder der Philosophie allgemein, sondern des menschlichen Denk- und Vorstellungsvermögens überhaupt ausgegrenzt wird 7.

Dieser Paradigmenwechsel in der funktionalen Rolle der Kunst wird gelegentlich durch die Suggestion einer Problemkontinuität von Kant zu Kleist verdeckt, obgleich Greiners Einzelbefunde an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Seine einläßliche Lektüre der Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft etwa kommt zu dem Ergebnis, daß "[d]ie Entgrenzung des Erhabenen vom Feld der Naturerfahrung zu einer Erfahrung, die auch ein Werk der Kunst hervorbringen kann [was Kant bestreitet (vgl. S. 12f.)], [...] zu einem monströsen Ergebnis gelangt", nämlich zur "Entmenschung" (S. 35).

Zwischen Ideengeschichte und Diskursanalyse

Die Undeutlichkeit im Bezug auf Kant ist kennzeichnend für den hybriden methodischen Standort des Buches, der irgendwo zwischen Ideengeschichte und Diskursanalyse zu verorten ist. Daß Greiner sich zwischen beiden Forschungsprogrammen, die sich für Foucault bekanntlich wechselseitig ausschlossen und einen fundamentalen Gegensatz bildeten, nicht recht entscheiden mag, wird man als bewußtes Verfahren unterstellen dürfen, als Experiment nun auch auf der Darstellungsebene, ob es gelingen möge, Kontinuitäten und Brüche gleichzeitig und gleichrangig in den Blick zu nehmen — ein ambitioniertes Programm.

Gelegentlich wird man dabei konstatieren können, daß die Programmatik des Buches der angemessenen Wahrnehmung der Radikalität der Kleistschen Problemformulierungen im Wege steht. Wenn Greiner feststellt, daß Kleist nach seiner >Kant-Krise< "eine >Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und der moralischen Welt<, die er einst fraglos angenommen hatte, als >merkwürdig< deklariert und als eine Art novellistische >unerhörte Begebenheit< vorträgt" (S. 5), so bleibt er auf halbem Wege stehen und durchschaut die Hintergründigkeit nicht ganz, die ein genauer Blick auf das >gegensätzische Verfahren< im "Allerneuesten Erziehungsplan" erhellt 8.

Schwankendes Urteil

In solchen Fällen ist Greiners eigene mikrologische Lektüre gegen seine systematische Intention ins Feld zu führen. An Kleists berühmter Fassung des Unsagbarkeitstopos im Brief an Ulrike vom 13./14. März 1803 ("Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. — Dummer Gedanke!" 9) bemerkt er "den logischen Widerspruch, das >Innerste<, das jenseits aller Fassung in Zeichen gegeben werden soll, als >Herz< zu fassen und damit schon in eine Metapher verfallen zu sein" (S. 45), eine Beobachtung, die ihn dazu führt, sich gegen die "beliebten binären Oppositionen der Kleist-Forschung" zu wenden, die verkennten, "daß Kleists Texte gar nicht Vermittlung oder Auflösung solcher Oppositionen, sondern vielmehr den Aufweis ihrer Disfunktionalität betreiben" (ebd.).

Wie paßt diese Abgrenzung aber zu seiner eigenen These, daß Kleist die von Kant angebotene Verknüpfungsleistung des Ästhetischen auf die Probe stelle? Geht es dabei nicht auch um eine Opposition, die zwar nicht aufgelöst, aber dafür um so fundamentaler bekräftigt wird? Greiners poststrukturalistisch inspirierte Einzelbeobachtungen, in denen er darauf insistiert, daß das "Feld von Relationen, die Signifikanten zueinander eingehen können oder einzugehen verweigern, [...] seine eigenen Sinneffekte hervorbringt, unabhängig von intendierten oder von Interpreten privilegierten Bedeutungen" (S. 46) — diese Einzelbeobachtungen lassen sich nicht immer unter die systematischen Leitthesen subsumieren.

"Kleist war bekanntlich kein theoretischer Kopf" 10 — an diesem von Günter Blamberger unterstellten Forschungskonsens arbeitet sich Bernhard Greiner unausgesprochen ab, wobei er aber immer wieder über sein selbstgestecktes Ziel hinausschießt, so wenn er Kleist mal zu einer Art Proto-Heidegger machen möchte und in der Familie Schroffenstein "ein Wahrheitsgeschehen als Widerspiel von Lethe und Aletheia" erblickt (S. 63), wenn er den Dramatiker mal agieren sieht "als [...] späte[n] Schelling, während er sich noch als der frühe der "Neuen Mythologie" ausgibt" (S. 189), oder wenn er den Kohlhaas-Erzähler als "gute[n] Kantianer" bezeichnet (S. 331). Beim ständigen Seitenblick auf die philosophische Systematik unterläuft dann auch schon einmal die Bemerkung, daß man beim Begehren der Liebenden nicht mehr von >interesselosem Wohlgefallen< im Kantischen Sinne sprechen könne (vgl. S. 67).

Wer ist es also nun, der hier "Zeichen schafft, die darauf angelegt sind, falsch gelesen zu werden, um den so Lesenden dann in größtes Unrecht zu setzen" (S. 71)? Das ist das Vertrackte an Kleist-Lektüren, die die Figuren des Dichters, wie Greiner es tut, zu Hermeneuten erklären: Interpret wie Leserschaft drohen sich in den selbstreflexiven Schleifen der Lektüre unrettbar zu verfangen und selbst zu Kleistschen Figuren zu werden, die sich gegenseitig bei ihren unausweichlichen Fehllektüren beobachten.

Der zerbrochne Krug als Beispiel

Wie das Urteil über Greiners Kleist-Lektüre immer wieder schwankt, läßt sich beispielhaft an seiner in den Grundzügen schon aus früheren Veröffentlichungen bekannten Interpretation des Zerbrochnen Krugs zeigen: Einerseits ist das Fazit seiner scharfsinnigen Überlegungen kaum anfechtbar, daß das "Zerbrochene" das "Vollendete" sei und umgekehrt "die >Vollendeten<, die in ihrer gesicherten bürgerlichen Existenz heilen Figuren, in Wahrheit die zerbrochenen sind", nämlich jene, "die sich in einem in sich schlüssigen Interpretationssystem geborgen glauben und dieses als ein mögliches Wahnsystem gar nicht zu befragen vermögen" (S. 102f.) (so sei auch beim Robert Guiskard , der "Tragödie des Scheiterns an der Tragödie" [S. 121], "das Mißlingen [...] das Gelingen" [S. 142]) — andererseits mutet er der Synkope im Dramentitel zu, "die Vorstellung des Gebrochen-Seins phonetisch zurück[zunehmen]" (S. 83), und schreckt nicht einmal vor dem mutmaßlich von Paul de Man in Umlauf gebrachten Kalauer zurück, den Dramentitel mit Wilhelm Traugott Krug, dem Nachfolger Kants in Königsberg und Kleists bei Wilhelmine von Zenge, in Verbindung zu bringen (vgl. S. 102f.).

Unerwartete Erträge

Ein wertvoller Impuls für die Forschung geht von Greiners Buch an eher unerwarteter Stelle aus, nämlich bei der Bewertung des >politischen< Kleist. Viel spricht für die Einschätzung, daß Greiners semiotische Lektüre speziell der Herrmannsschlacht die seit Wolf Kittlers 1987 publizierter Habilitationsschrift 11 vorherrschende These von Kleist als Partisan in ihren problematischen Aspekten korrigieren könnte. Zu Recht nämlich weist er darauf hin, daß durch die politische Programmatik "die Zeichen des Dramas vollkommen determiniert" seien, "eben diese dramatischen Zeichen [...] aber zu Trägern der Idee der Freiheit gebildet" werden (S. 110). In dieser Selbstnegation spreche das Drama der politischen Gebrauchsdichtung — als >Überredung< statt >Überzeugung< (vgl. S. 120) — das Urteil.

Sein zweites Leitkonzept neben der ästhetischen Urteilskraft, die Grazie, exemplifiziert Greiner — wie nicht anders zu erwarten — anhand des Aufsatzes Über das Marionettentheater. Wenn er jedoch Grazie "nicht als Eigenschaft", sondern "vielmehr als Beziehungsgeschehen" deuten will (S. 195), bleibt er, auf den Essay bezogen, hinter László Földényis virtuoser Neulektüre des Textes als "Inszenierung des Erotischen" zurück 12, kann aber sein Konzept an wiederum eher unerwarteter Stelle fruchtbar machen, nämlich bei der Darstellung des Entsprechungsverhältnisses zwischen Penthesilea und Käthchen von Heilbronn (vgl. S. 195).

Vereindeutigter Homburg

Bei Kleists >klassischstem< Drama, Prinz Friedrich von Homburg, läßt sich Greiner, wie viele seiner Vorgänger, von der formalen Geschlossenheit zu einer vereindeutigenden Lektüre verleiten. An solchen Stellen fällt besonders auf, was bei Gesamtdarstellungen dieser Art fast unvermeidbar ist: Um den Text lesbar zu halten, muß auf die Auseinandersetzung mit der Forschung weitgehend verzichtet werden. Greiner wirft zwar gelegentlich Seitenblicke und gibt summarische Hinweise auf Weiterführendes, auf wirklich kontroverse Forschungsdiskussionen läßt er sich indes kaum ein. Läßt sich wirklich noch immer (oder wieder?) so einfach behaupten, der Prinz proklamiere "am Ende des Dramas unisono mit >allen< (so die Sprecherbezeichnung) [...] die Vernichtung aller Feinde Brandenburgs" (S. 258)? Bekanntlich findet sich dieselbe Sprecherbezeichnung schon drei Verse zuvor, und dort ist der Prinz nicht mitgemeint.

Wer will entscheiden, was für den letzten Vers gilt? Der Regisseur muß, der Interpret darf es nicht tun, wenn er seine persönlichen Vorlieben und Anschauungen nicht zur Maxime einer allgemeinen Lektüreanweisung erheben will: So lassen sich wohl die argumentativen Endlosschleifen der Homburg-Forschung zu diesem Punkt zusammenfassen.

>Gebrechliche< Lektüre eines >gebrechlichen< Erzählens

Das Schwergewicht des Buches liegt — für die jüngste Forschung durchaus untypisch — bei Kleists Dramen. Zu den Erzählungen formuliert Greiner vorweg drei Thesen:

1. Auch die Erzählungen befragen die Kunst — im Horizont der ästhetischen Konzepte Kants — auf ihr Vermögen, die Kluft zwischen physischer und moralischer Welt zu überbrücken.
2. Das Erzählen entwirft und bekräftigt nicht nur die gebrechliche Einrichtung der Welt, sondern verwirklicht dabei sich selbst — transzendental — als gebrechliche Einrichtung. [...]
3. Kleists Erzählen bringt seine gebrechliche Einrichtung im Erzählakt zur Aufführung, d.h. die gebrechliche Einrichtung des Erzählens wird performativ. (S. 283)

Auf diese Weise sieht Greiner "Kleists Erzählen in die Nähe der ästhetischen Konzepte der klassischen Moderne wie der Postmoderne" gerückt (S. 284f.), wobei man ihm ein hohes Problembewußtsein im Hinblick auf die zutiefst fragwürdigen "Faszinosa" der Erzählungen attestieren kann, die immer auch etwas über die Interpreten aussagen, die sich in ihrem Bann befinden — so beim "Umgang mit Vergewaltigung" in der Marquise von O.... (S. 288).

Deutlich schwächer ausgeprägt ist dagegen Greiners historisches Interesse. Realgeschichtliche Forschung wird nicht immer ausreichend rezipiert. Die auf den Kohlhaas gemünzte Behauptung, das staatliche Gewaltmonopol sei mit dem Reichslandfrieden von 1495 bereits durchgesetzt worden (vgl. S. 338), kann im Lichte neuer rechtshistorischer Untersuchungen als eindeutig widerlegt gelten 13. Ferner bietet Greiner, obwohl er "Kleists Erzählen in der Tradition der Novellistik" verorten möchte (so eine Kapitelüberschrift, S. 274), keine Auseinandersetzung mit der in jüngster Zeit öfter vertretenen wichtigen These von Kleist als skeptischem Moralisten 14.

Plädoyer für eine >böse< Lektüre?

Freilich füllt er diese Lücke mit einer originellen These, gemäß der — exemplifiziert am Findling — das moralisch Böse "strukturell als ein Nicht-Herausgelangen aus der Welt ubiquitärer Stellvertretungen" definiert wird (S. 355):

Die so unternommene Öffnung aus einem ubiquitären Verweisungsspiel der Signifikanten, das sozial wie physisch eine Welt vielfältiger Determination ausmacht, zum Signifikat, das hier das ideelle Ziel einer authentischen Liebesbegegnung wäre, erscheint ethisch verkehrt zur Vergewaltigung, semiologisch als Usurpation des Signifikats durch den Signifikanten, statt daß dieser mit jenem eins würde. (S. 354)

Zu fragen bliebe nur, ob dann auch eine dekonstruktive Lektüre der Kleistschen Texte, die Greiner ja selbst immer wieder erprobt, in diesem Sinne als moralisch böse, als eine Verkehrung der Maximen im Kantschen Sinne zu qualifizieren wäre: "das moralische Gesetz wird der Selbstliebe unterworfen, statt umgekehrt diese jenem" (S. 359). Wenn Greiner zum Erdbeben in Chili betont, daß "ein im Kunstwerk vorgestellter Zufall [...] durch die jeweils aufgebotenen Kunstverfahren schon immer in eine teleologisch interpretierbare Ordnung eingebunden" und die explizite Verweisung auf einen "ideellen Sinn" (S. 376) insofern tautologisch sei, so könnte man das als Plädoyer für eine — allemal anregende — >böse< Lektüre lesen, vor deren Konsequenz freilich der Verweis auf den Kunstcharakter des Werks (oder den Werkcharakter der Kunst) salvieren soll.

Fazit

Daß Greiner uns abschließend nicht der Illusion überläßt, "die Welt des Metaphorischen, mithin die Welt der Kunst selbst" könne "als Schutz, Halt und Orientierung gegenüber einer undurchschaubaren, überall mit tödlichen Gefahren bedrohenden Welt" dienen (S. 427) 15, spricht für seine interpretatorische Redlichkeit. Wird man Kleist kaum ernsthaft attestieren wollen, die Komplexität der Welt anders als augenblicksweise und mit deutlicher Markierung des Komödiencharakters zu reduzieren, so wird man Greiner keinerlei trügerische Harmonisierung vorwerfen können.

War also Kleist doch ein theoretischer Kopf? Die gedankliche Anstrengung, die Greiner unternimmt, um diese These zu belegen, verdient hohe Anerkennung, doch bleiben Zweifel, ob mit dieser Fragestellung tatsächlich eine Art Generalschlüssel zu den Texten gefunden ist. Vielleicht mag daher statt eines Fazits eines jener Buchstabenspiele erlaubt sein, die in der Kleist-Forschung so beliebt sind und denen sich auch Greiner gelegentlich überläßt: Von der Antihese >kein theoretischer Kopf< käme man durch Einklammerung des >K< — also der Initiale des Autors — doch wieder zu der These: >K—ein theoretischer Kopf<.


Dr. Bernd Hamacher
Goethe-Wörterbuch
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Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 16.10.2001
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Anmerkungen

1 Grundsätzlichen Einspruch gegen eine philosophische Lektüre Kleists, wie sie derzeit Bernhard Greiner am konsequentesten unternimmt, formuliert etwa Peter Ensberg: Das Gefäß des Inhalts. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur am Beispiel der Kantkrise Heinrich von Kleists. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 13 (1999), S. 61-123.   zurück

2 László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. München: Matthes & Seitz 1999.   zurück

3 Vgl. Bernhard Greiner: Die Wende in der Kunst. Kleist mit Kant. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 96-117.   zurück

4 Dies hat — mit Bezug auf den Zerbrochnen Krug — bereits Johannes Endres gegen Greiner betont: Das "depotenzierte" Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 171 (Anm. 385). Greiner greift den Einwand leider nicht auf.   zurück

5 Bernhard Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants. Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: E. Schmidt 1994.   zurück

6 "Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen", also das eigene Innere, das "Gemüt", als Medium der Transzendenz zu qualifizieren, sei "eine Art Wahnsinn", da das >normale< Weltverhältnis zerstört werde (Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 2. Teil. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1983, S. 846 [B 267]).   zurück

7 Goethe hält dagegen für die "Schwierigkeit Idee und Erfahrung mit einander zu verbinden" eine dichterische Lösung noch für möglich, um das Versetztwerden "in eine Art Wahnsinn" zu verhindern (Johann Wolfgang von Goethe: Bedenken und Ergebung. In: Goethes Werke. Hg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe]. II. Abt., Bd. 11: Allgemeine Naturlehre, 1. Theil. Weimar: Böhlau 1893, S. 56f.). — Erstaunlicherweise wird das Kant-Zitat in keiner der modernen Goethe-Ausgaben bemerkt, weder in der Hamburger, der Frankfurter oder Münchner noch in der Leopoldina-Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften.   zurück

8 Während nämlich die Elektrizität unterschiedlich geladener Körper völlig ausgeglichen wird, soll "in der moralischen Welt" der Widerspruch erst hervorgetrieben werden, so daß die in dem Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" behauptete "merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt" gerade nicht statthat (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Bd. 2. München: Hanser 41965, S. 330 u. 321).   zurück

9 Ebd., S. 730.   zurück

10 Günter Blamberger: Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 25-40, hier S. 25.   zurück

11 Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg: Rombach 1987.   zurück

12 Vgl. Lászlo F. Földényi: Inszenierung des Erotischen. Über das Marionettentheater. Erscheint in: Kleist-Jahrbuch 2001.   zurück

13 Vgl. nur Christoph Müller-Tragin: Hans Kolhase und Michael Kohlhaas. Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten. In: Heilbronner Kleist-Blätter 7 (1999), S. 9-40.   zurück

14 Vgl. exemplarisch Günter Blamberger (Anm. 10).   zurück

15 Eine solche ethisch >positive< Interpretation fordert dagegen seit längerem und mit zunehmender Vehemenz Wolfgang Wittkowski; vgl. etwa zuletzt: Die Marquise von O... und Der Findling. Zur ethischen Funktion von Erotik und Sexualität im Werk Kleists. In: Kleist-Archiv Sembdner (Hg.): Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. (Heilbronner Kleist-Kolloquien 2) Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2000, S. 192-231.   zurück