- Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum
"Fall" der Kunst. (UTB 2129)Tübingen / Basel: Francke 2000.
460 S. Kart.
DM 39,80.
ISBN 3-8252-2129-6.
Kleist als Systematiker?
Wer die Kleist-Forschung der letzten zehn Jahre zumindest kursorisch zur
Kenntnis genommen hat, wird hier und da auf eine einschlägige Arbeit von
Bernhard Greiner, sei es in Aufsatz-, sei es in monographischer Form,
gestoßen sein. Niemand, für den dies zutrifft, wird sich von den
Grundthesen der nun vorgelegten Summe von Greiners Kleist-Lektüren
überrascht zeigen. Obwohl er aber aus einem reichen Fundus eigener
Publikationen schöpft, ist der Tübinger Germanist keineswegs dem
Beispiel mancher Kollegen gefolgt und hat einfach seine Kleist-Essays
zwischen zwei Buchdeckeln versammelt. Eine solche Arbeitsweise würde
seinem systematischen Anspruch grundsätzlich nicht gerecht werden.
Gerade die Auseinandersetzung mit diesem Anspruch aber steht noch aus, auch
wenn es derzeit konsensfähig scheint (sofern man bei der kontroversen
Kleist-Forschung überhaupt einen Konsens ausmachen kann), Greiners
Thesen zumindest mit Skepsis zu begegnen 1.
Diese Skepsis läßt sich — noch ohne in die Detailargumentation
einzutreten — in einem prinzipiellen Einwand bündeln: Wird man Kleist
gerecht, wenn man ihn als philosophischen Kopf so ernst nimmt? Unterlegt man
damit nicht seinen Texten einen Systemcharakter, der Kleist unter allen
Autoren des klassisch-romantischen Zeitalters gerade am allerwenigsten
zukommt? Das paradigmatische Gegenstück zu Greiners Monographie scheint
László Földényis Kleist-Buch zu bilden 2
. Doch man täusche sich nicht: Auch die Fäden von
Földényis Netz knüpfen ein inner- und intertextuelles System, das
den Leser suggestiv umspinnt, aus dem er jedoch nicht so ohne weiteres zur
kritischen Distanzierung hinausfindet.
Funktionswandel der Kunst — mit oder gegen Kant?
Greiner hingegen führt uns ein zweistöckiges anthropologisches
Gebäude vor Augen: Im Souterrain befindet sich die physische Welt, in
der Beletage die moralische Welt. Kleist erscheint nun als Baumeister, der
den Umbau dieses — scheinbar oder anscheinend — mißlungenen
Gebäudes unternimmt, bei dem die Verbindung zwischen den Stockwerken
vergessen wurde oder nicht mehr auffindbar ist. Kleist habe seinem Versuch,
zwischen Souterrain und Beletage ein Erdgeschoß als Verbindung
einzuziehen, nach Greiner zwei unterschiedliche Baupläne zu Grunde
gelegt: einmal Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft, einmal
eine Adaption der vorkantischen Konzeption der Grazie. Dabei zeige sich,
daß die historische Funktion der Kunst für Kleist nicht mehr — wie
noch für Kant, aber auch ganz allgemein für klassische und
romantische Entwürfe — darin bestehe, diese Vermittlungsaufgabe zu
leisten, sondern im Gegenteil gerade darin, in immer neuen Experimenten die
Unmöglichkeit der Vermittlung zu erweisen, woraus Greiner Kleists
vielbeschworene >Modernität< begründet (vgl. S. 15).
Damit ist der entscheidende Punkt benannt, der Greiner
selbst gelegentlich etwas aus dem Blick zu geraten scheint: Seine
Kleist-Lektüre ist nicht nur ein cross-reading "mit
Kant" 3, sondern mindestens genauso sehr
"gegen Kant" 4. Dies
läßt sich am Titelzitat seines Buches von
1994, Eine Art Wahnsinn 5 zeigen,
das keineswegs, wie Greiner zu glauben scheint, von Goethe stammt, sondern
auch bei diesem ein Zitat ist, und zwar ein Kant-Zitat, aber nicht aus der
Kritik der Urteilskraft, sondern aus Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft 6. Mit ihm ist in der Konsequenz des Kantischen Arguments
präzise die Stelle bezeichnet, die die Kunst als Erbin mancher
Funktionen der Religion in der Moderne übernimmt — und die Greiner bei
Kleist völlig zu Recht unterstellt. Aber es ist eben keineswegs eine
Kunst, die noch, und sei es experimentell, an das Kantische System
anschließbar wäre, sondern die vielmehr ein Problemreservoir
bildet, das bei Kant dezidiert aus dem Spektrum nicht nur seines Systems oder
der Philosophie allgemein, sondern des menschlichen Denk- und
Vorstellungsvermögens überhaupt ausgegrenzt wird 7.
Dieser Paradigmenwechsel in der funktionalen Rolle der Kunst wird
gelegentlich durch die Suggestion einer Problemkontinuität von Kant zu
Kleist verdeckt, obgleich Greiners Einzelbefunde an Deutlichkeit nichts zu
wünschen übrig lassen. Seine einläßliche Lektüre
der Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft etwa kommt zu dem
Ergebnis, daß "[d]ie Entgrenzung des Erhabenen vom Feld der
Naturerfahrung zu einer Erfahrung, die auch ein Werk der Kunst hervorbringen
kann [was Kant bestreitet (vgl. S. 12f.)], [...] zu einem monströsen
Ergebnis gelangt", nämlich zur "Entmenschung" (S. 35).
Zwischen Ideengeschichte und Diskursanalyse
Die Undeutlichkeit im Bezug auf Kant ist kennzeichnend für den hybriden
methodischen Standort des Buches, der irgendwo zwischen Ideengeschichte und
Diskursanalyse zu verorten ist. Daß Greiner sich zwischen beiden
Forschungsprogrammen, die sich für Foucault bekanntlich wechselseitig
ausschlossen und einen fundamentalen Gegensatz bildeten, nicht recht
entscheiden mag, wird man als bewußtes Verfahren unterstellen
dürfen, als Experiment nun auch auf der Darstellungsebene, ob es
gelingen möge, Kontinuitäten und Brüche gleichzeitig und
gleichrangig in den Blick zu nehmen — ein ambitioniertes Programm.
Gelegentlich wird man dabei konstatieren können, daß die
Programmatik des Buches der angemessenen Wahrnehmung der Radikalität der
Kleistschen Problemformulierungen im Wege steht. Wenn Greiner feststellt,
daß Kleist nach seiner >Kant-Krise< "eine >Übereinstimmung
zwischen den Erscheinungen der physischen und der moralischen Welt<, die er
einst fraglos angenommen hatte, als >merkwürdig< deklariert und als eine
Art novellistische >unerhörte Begebenheit< vorträgt" (S. 5),
so bleibt er auf halbem Wege stehen und durchschaut die
Hintergründigkeit nicht ganz, die ein genauer Blick auf das
>gegensätzische Verfahren< im "Allerneuesten Erziehungsplan"
erhellt 8.
Schwankendes Urteil
In solchen Fällen ist Greiners eigene mikrologische Lektüre gegen
seine systematische Intention ins Feld zu führen. An Kleists
berühmter Fassung des Unsagbarkeitstopos im Brief an Ulrike vom 13./14.
März 1803 ("Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe
reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. — Dummer Gedanke!" 9) bemerkt er
"den logischen Widerspruch, das >Innerste<, das jenseits aller Fassung
in Zeichen gegeben werden soll, als >Herz< zu fassen und damit schon in eine
Metapher verfallen zu sein" (S. 45), eine Beobachtung, die ihn dazu
führt, sich gegen die "beliebten binären Oppositionen der
Kleist-Forschung" zu wenden, die verkennten, "daß Kleists
Texte gar nicht Vermittlung oder Auflösung solcher Oppositionen, sondern
vielmehr den Aufweis ihrer Disfunktionalität betreiben" (ebd.).
Wie paßt diese Abgrenzung aber zu seiner eigenen These, daß
Kleist die von Kant angebotene Verknüpfungsleistung des
Ästhetischen auf die Probe stelle? Geht es dabei nicht auch um eine
Opposition, die zwar nicht aufgelöst, aber dafür um so
fundamentaler bekräftigt wird? Greiners poststrukturalistisch
inspirierte Einzelbeobachtungen, in denen er darauf insistiert, daß das
"Feld von Relationen, die Signifikanten zueinander eingehen können
oder einzugehen verweigern, [...] seine eigenen Sinneffekte hervorbringt,
unabhängig von intendierten oder von Interpreten privilegierten
Bedeutungen" (S. 46) — diese Einzelbeobachtungen lassen sich nicht immer
unter die systematischen Leitthesen subsumieren.
"Kleist war bekanntlich kein theoretischer
Kopf" 10 — an diesem von Günter
Blamberger unterstellten Forschungskonsens arbeitet sich Bernhard Greiner
unausgesprochen ab, wobei er aber immer wieder über sein
selbstgestecktes Ziel hinausschießt, so wenn er Kleist mal zu einer Art
Proto-Heidegger machen möchte und in der Familie
Schroffenstein "ein Wahrheitsgeschehen als Widerspiel von Lethe
und Aletheia" erblickt (S. 63), wenn er den Dramatiker mal agieren sieht
"als [...] späte[n] Schelling, während er sich noch als der
frühe der "Neuen Mythologie" ausgibt" (S. 189), oder wenn er den
Kohlhaas-Erzähler als "gute[n] Kantianer" bezeichnet
(S. 331). Beim ständigen Seitenblick auf die philosophische Systematik
unterläuft dann auch schon einmal die Bemerkung, daß man beim
Begehren der Liebenden nicht mehr von >interesselosem Wohlgefallen< im
Kantischen Sinne sprechen könne (vgl. S. 67).
Wer ist es also nun, der hier "Zeichen schafft, die darauf angelegt
sind, falsch gelesen zu werden, um den so Lesenden dann in größtes
Unrecht zu setzen" (S. 71)? Das ist das Vertrackte an
Kleist-Lektüren, die die Figuren des Dichters, wie Greiner es tut, zu
Hermeneuten erklären: Interpret wie Leserschaft drohen sich in den
selbstreflexiven Schleifen der Lektüre unrettbar zu verfangen und selbst
zu Kleistschen Figuren zu werden, die sich gegenseitig bei ihren
unausweichlichen Fehllektüren beobachten.
Der zerbrochne Krug als Beispiel
Wie das Urteil über Greiners Kleist-Lektüre immer wieder schwankt,
läßt sich beispielhaft an seiner in den Grundzügen schon aus
früheren Veröffentlichungen bekannten Interpretation des
Zerbrochnen Krugs zeigen: Einerseits ist das Fazit seiner
scharfsinnigen Überlegungen kaum anfechtbar, daß das
"Zerbrochene" das "Vollendete" sei und umgekehrt
"die >Vollendeten<, die in ihrer gesicherten bürgerlichen Existenz
heilen Figuren, in Wahrheit die zerbrochenen sind", nämlich jene,
"die sich in einem in sich schlüssigen Interpretationssystem
geborgen glauben und dieses als ein mögliches Wahnsystem gar nicht zu
befragen vermögen" (S. 102f.) (so sei auch beim Robert Guiskard
, der "Tragödie des Scheiterns an der Tragödie" [S.
121], "das Mißlingen [...] das Gelingen" [S. 142]) —
andererseits mutet er der Synkope im Dramentitel zu, "die Vorstellung
des Gebrochen-Seins phonetisch zurück[zunehmen]" (S. 83), und
schreckt nicht einmal vor dem mutmaßlich von Paul de Man in Umlauf
gebrachten Kalauer zurück, den Dramentitel mit Wilhelm Traugott Krug,
dem Nachfolger Kants in Königsberg und Kleists bei Wilhelmine von Zenge,
in Verbindung zu bringen (vgl. S. 102f.).
Unerwartete Erträge
Ein wertvoller Impuls für die Forschung geht von Greiners Buch an eher
unerwarteter Stelle aus, nämlich bei der Bewertung des >politischen<
Kleist. Viel spricht für die Einschätzung,
daß Greiners semiotische Lektüre speziell der Herrmannsschlacht
die seit Wolf Kittlers 1987 publizierter Habilitationsschrift 11 vorherrschende These von Kleist als Partisan
in ihren problematischen Aspekten korrigieren könnte. Zu Recht
nämlich weist er darauf hin, daß durch die politische Programmatik
"die Zeichen des Dramas vollkommen determiniert" seien, "eben
diese dramatischen Zeichen [...] aber zu Trägern der Idee der Freiheit
gebildet" werden (S. 110). In dieser Selbstnegation spreche das Drama
der politischen Gebrauchsdichtung — als >Überredung< statt
>Überzeugung< (vgl. S. 120) — das Urteil.
Sein zweites Leitkonzept neben der ästhetischen Urteilskraft, die
Grazie, exemplifiziert Greiner — wie nicht anders zu erwarten — anhand des
Aufsatzes Über das Marionettentheater. Wenn er jedoch Grazie
"nicht als Eigenschaft", sondern "vielmehr als
Beziehungsgeschehen" deuten will (S. 195), bleibt
er, auf den Essay bezogen, hinter László Földényis virtuoser
Neulektüre des Textes als "Inszenierung des Erotischen"
zurück 12, kann aber sein Konzept an
wiederum eher unerwarteter Stelle fruchtbar machen, nämlich bei der
Darstellung des Entsprechungsverhältnisses zwischen
Penthesilea und Käthchen von Heilbronn (vgl. S.
195).
Vereindeutigter Homburg
Bei Kleists >klassischstem< Drama, Prinz Friedrich von Homburg,
läßt sich Greiner, wie viele seiner Vorgänger, von der
formalen Geschlossenheit zu einer vereindeutigenden Lektüre verleiten.
An solchen Stellen fällt besonders auf, was bei Gesamtdarstellungen
dieser Art fast unvermeidbar ist: Um den Text lesbar zu halten, muß auf
die Auseinandersetzung mit der Forschung weitgehend verzichtet werden.
Greiner wirft zwar gelegentlich Seitenblicke und gibt summarische Hinweise
auf Weiterführendes, auf wirklich kontroverse Forschungsdiskussionen
läßt er sich indes kaum ein. Läßt sich wirklich noch
immer (oder wieder?) so einfach behaupten, der Prinz proklamiere "am
Ende des Dramas unisono mit >allen< (so die Sprecherbezeichnung) [...] die
Vernichtung aller Feinde Brandenburgs" (S. 258)? Bekanntlich findet sich
dieselbe Sprecherbezeichnung schon drei Verse zuvor, und dort ist der Prinz
nicht mitgemeint.
Wer will entscheiden, was für den letzten Vers gilt? Der Regisseur
muß, der Interpret darf es nicht tun, wenn er seine persönlichen
Vorlieben und Anschauungen nicht zur Maxime einer allgemeinen
Lektüreanweisung erheben will: So lassen sich wohl die argumentativen
Endlosschleifen der Homburg-Forschung zu diesem Punkt zusammenfassen.
>Gebrechliche< Lektüre eines >gebrechlichen< Erzählens
Das Schwergewicht des Buches liegt — für die jüngste Forschung
durchaus untypisch — bei Kleists Dramen. Zu den Erzählungen formuliert
Greiner vorweg drei Thesen:
1. Auch die Erzählungen befragen die Kunst — im Horizont der
ästhetischen Konzepte Kants — auf ihr Vermögen, die Kluft zwischen
physischer und moralischer Welt zu überbrücken.
2. Das Erzählen entwirft und bekräftigt nicht nur die
gebrechliche Einrichtung der Welt, sondern verwirklicht dabei sich selbst —
transzendental — als gebrechliche Einrichtung. [...]
3. Kleists Erzählen bringt seine gebrechliche Einrichtung im
Erzählakt zur Aufführung, d.h. die gebrechliche Einrichtung des
Erzählens wird performativ. (S. 283)
Auf diese Weise sieht Greiner "Kleists Erzählen in die Nähe
der ästhetischen Konzepte der klassischen Moderne wie der
Postmoderne" gerückt (S. 284f.), wobei man ihm ein hohes
Problembewußtsein im Hinblick auf die zutiefst fragwürdigen
"Faszinosa" der Erzählungen attestieren kann, die immer auch
etwas über die Interpreten aussagen, die sich in ihrem Bann befinden —
so beim "Umgang mit Vergewaltigung" in der Marquise von O....
(S. 288).
Deutlich schwächer ausgeprägt ist dagegen Greiners historisches
Interesse. Realgeschichtliche Forschung wird nicht immer ausreichend
rezipiert. Die auf den Kohlhaas gemünzte Behauptung, das
staatliche Gewaltmonopol sei mit dem Reichslandfrieden von 1495 bereits
durchgesetzt worden (vgl. S. 338), kann im Lichte neuer rechtshistorischer
Untersuchungen als eindeutig widerlegt gelten 13. Ferner
bietet Greiner, obwohl er "Kleists
Erzählen in der Tradition der Novellistik" verorten möchte (so
eine Kapitelüberschrift, S. 274), keine Auseinandersetzung mit der in
jüngster Zeit öfter vertretenen wichtigen These von Kleist als
skeptischem Moralisten 14.
Plädoyer für eine >böse< Lektüre?
Freilich füllt er diese Lücke mit einer originellen These,
gemäß der — exemplifiziert am Findling — das moralisch
Böse "strukturell als ein Nicht-Herausgelangen aus der Welt
ubiquitärer Stellvertretungen" definiert wird (S. 355):
Die so unternommene Öffnung aus einem ubiquitären Verweisungsspiel
der Signifikanten, das sozial wie physisch eine Welt vielfältiger
Determination ausmacht, zum Signifikat, das hier das ideelle Ziel einer
authentischen Liebesbegegnung wäre, erscheint ethisch verkehrt zur
Vergewaltigung, semiologisch als Usurpation des Signifikats durch den
Signifikanten, statt daß dieser mit jenem eins würde. (S. 354)
Zu fragen bliebe nur, ob dann auch eine dekonstruktive Lektüre der
Kleistschen Texte, die Greiner ja selbst immer wieder erprobt, in diesem
Sinne als moralisch böse, als eine Verkehrung der Maximen im Kantschen
Sinne zu qualifizieren wäre: "das moralische Gesetz wird der
Selbstliebe unterworfen, statt umgekehrt diese jenem" (S. 359). Wenn
Greiner zum Erdbeben in Chili betont, daß "ein im Kunstwerk
vorgestellter Zufall [...] durch die jeweils aufgebotenen Kunstverfahren
schon immer in eine teleologisch interpretierbare Ordnung eingebunden"
und die explizite Verweisung auf einen "ideellen Sinn" (S. 376)
insofern tautologisch sei, so könnte man das als Plädoyer für
eine — allemal anregende — >böse< Lektüre lesen, vor deren
Konsequenz freilich der Verweis auf den Kunstcharakter des Werks (oder den
Werkcharakter der Kunst) salvieren soll.
Fazit
Daß Greiner uns abschließend nicht der Illusion
überläßt, "die Welt des Metaphorischen, mithin die Welt
der Kunst selbst" könne "als Schutz, Halt und Orientierung
gegenüber einer undurchschaubaren, überall mit tödlichen
Gefahren bedrohenden Welt" dienen (S. 427) 15, spricht für seine interpretatorische
Redlichkeit. Wird man Kleist kaum ernsthaft attestieren wollen, die
Komplexität der Welt anders als augenblicksweise und mit deutlicher
Markierung des Komödiencharakters zu reduzieren, so wird man Greiner
keinerlei trügerische Harmonisierung vorwerfen können.
War also Kleist doch ein theoretischer Kopf? Die gedankliche Anstrengung, die
Greiner unternimmt, um diese These zu belegen, verdient hohe Anerkennung,
doch bleiben Zweifel, ob mit dieser Fragestellung tatsächlich eine Art
Generalschlüssel zu den Texten gefunden ist. Vielleicht mag daher statt
eines Fazits eines jener Buchstabenspiele erlaubt sein, die in der
Kleist-Forschung so beliebt sind und denen sich auch Greiner gelegentlich
überläßt: Von der Antihese >kein theoretischer Kopf<
käme man durch Einklammerung des >K< — also der Initiale des Autors —
doch wieder zu der These: >K—ein theoretischer Kopf<.
Dr. Bernd Hamacher
Goethe-Wörterbuch
Arbeitsstelle Hamburg
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg
Ins Netz gestellt am 16.10.2001
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Anmerkungen
1 Grundsätzlichen Einspruch gegen
eine philosophische Lektüre Kleists, wie sie derzeit Bernhard Greiner am
konsequentesten unternimmt, formuliert etwa Peter Ensberg: Das
Gefäß des Inhalts. Zum Verhältnis von Philosophie und
Literatur am Beispiel der Kantkrise Heinrich von Kleists. In: Beiträge
zur Kleist-Forschung 13 (1999), S. 61-123. zurück
2 László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der
Wörter. Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. München:
Matthes & Seitz 1999. zurück
3 Vgl. Bernhard Greiner: Die Wende in der Kunst. Kleist mit
Kant. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 64 (1990), S. 96-117. zurück
4 Dies hat — mit Bezug auf den Zerbrochnen Krug — bereits
Johannes Endres gegen Greiner betont: Das "depotenzierte" Subjekt. Zu
Geschichte und Funktion des Komischen bei Heinrich von Kleist. Würzburg:
Königshausen & Neumann 1996, S. 171 (Anm. 385). Greiner greift den
Einwand leider nicht auf. zurück
5 Bernhard Greiner: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont
Kants. Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: E. Schmidt 1994. zurück
6 "Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu
wollen", also das eigene Innere, das "Gemüt", als Medium der
Transzendenz zu qualifizieren, sei "eine Art Wahnsinn", da das >normale<
Weltverhältnis zerstört werde (Immanuel Kant: Werke in zehn
Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 7: Schriften zur Ethik und
Religionsphilosophie, 2. Teil. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1983, S. 846 [B
267]). zurück
7 Goethe hält dagegen für die "Schwierigkeit Idee
und Erfahrung mit einander zu verbinden" eine dichterische Lösung noch
für möglich, um das Versetztwerden "in eine Art Wahnsinn" zu
verhindern (Johann Wolfgang von Goethe: Bedenken und Ergebung. In: Goethes
Werke. Hg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer
Ausgabe]. II. Abt., Bd. 11: Allgemeine Naturlehre, 1. Theil. Weimar:
Böhlau 1893, S. 56f.). — Erstaunlicherweise wird das Kant-Zitat in
keiner der modernen Goethe-Ausgaben bemerkt, weder in der Hamburger, der
Frankfurter oder Münchner noch in der Leopoldina-Ausgabe der
naturwissenschaftlichen Schriften. zurück
8 Während nämlich die Elektrizität
unterschiedlich geladener Körper völlig ausgeglichen wird, soll "in
der moralischen Welt" der Widerspruch erst hervorgetrieben werden, so
daß die in dem Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden" behauptete "merkwürdige Übereinstimmung
zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt" gerade nicht
statthat (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von
Helmut Sembdner. Bd. 2. München: Hanser 41965, S. 330 u. 321).
zurück
9 Ebd., S. 730. zurück
10 Günter Blamberger: Agonalität und
Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der
europäischen Moralistik. In: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 25-40, hier S.
25. zurück
11 Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist
der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege.
Freiburg: Rombach 1987. zurück
12 Vgl. Lászlo F. Földényi: Inszenierung des
Erotischen. Über das Marionettentheater. Erscheint in: Kleist-Jahrbuch
2001. zurück
13 Vgl. nur Christoph Müller-Tragin: Hans Kolhase und
Michael Kohlhaas. Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten. In: Heilbronner
Kleist-Blätter 7 (1999), S. 9-40. zurück
14 Vgl. exemplarisch Günter Blamberger (Anm.
10). zurück
15 Eine solche ethisch >positive< Interpretation fordert dagegen seit
längerem und mit zunehmender Vehemenz Wolfgang Wittkowski; vgl. etwa zuletzt:
Die Marquise von O... und Der Findling. Zur ethischen Funktion von Erotik und
Sexualität im Werk Kleists. In: Kleist-Archiv Sembdner (Hg.): Erotik und Sexualität
im Werk Heinrich von Kleists. (Heilbronner Kleist-Kolloquien 2) Heilbronn: Kleist-Archiv
Sembdner 2000, S. 192-231. zurück
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