Heibach: Sammelrezension über Medientheorie und digitale Ästhetik

Christiane Heibach

Von Mäusen und Menschen oder: Die Ambivalenzen der digitalen Welt

  • Winfried Nöth / Karin Wenz (Hg.): Medientheorie und die digitalen Medien. (Intervalle 2 - Schriften zur Kulturforschung) Kassel: Kassel University Press 1998. 245 S. Kart. DM 34,80
    ISBN 3-933146-05-4.
  • Eva Maria Jakobs / Dagmar Knorr / Karl-Heinz Pogner (Hg.): Textproduktion. HyperText, Text, KonText. (Textproduktion und Medium Bd. 5) Frankfurt am Main: Lang 1999. 309 S. Kart. DM 98,--
    ISBN 3-631-34551-8.
  • Sean Cubitt: Digital Aesthetics. London: Sage 1998. 172 S. Kart. DM 63,--
    ISBN 0-17619-5900-9.

Computer und Internet als Thema wissenschaftlicher Untersuchung wurden in den letzten Jahren nicht nur von den neueren "Hybriddisziplinen" der Medien- und Kommunikationswissenschaften, sondern auch von "traditionellen" Forschungsfeldern wie der Linguistik, der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Philosophie entdeckt. Dort jedoch scheinen die neuen Medien immer noch eine Randerscheinung zu sein – mit Ausnahme vielleicht der empirisch orientierten Linguistik, die sich mit den Veränderungen von Textproduktion und Sprache durch computervermittelte Kommunikation und programmgesteuerte Textgestaltung schon länger auseinandersetzt.

Alle anderen geisteswissenschaftlichen Traditionsbereiche – insbesondere die Literatur- und Kunstwissenschaften sowie die Philosophie – beginnen erst langsam mit einer intensiveren Reflexion, die sich allerdings im deutschsprachigen Raum noch auf den Diskurs einiger weniger Wissenschaftler beschränkt.

Die Selbstreferentialität des Medientheorie-Diskurses

Es ist bezeichnend für diese Situation, dass in den letzten Jahren sehr viel mehr Anthologien als Monographien zu Theorien der neuen Medien erschienen sind. 1 Ein Grund dafür mag sein, dass es bei weitem keine einheitliche Medientheorie gibt, sondern sehr unterschiedliche Perspektiven, die zumeist allerdings schon unter den Bedingungen der Buch- und Massenmedienkultur modelliert wurden und somit unter Beweisdruck ihrer Anwendbarkeit auf Computer und Internet stehen.

In dem von Winfried Nöth und Karin Wenz herausgegebenen Sammelband "Medientheorie und die digitalen Medien", der aus einer Vortragsreihe an der Universität Kassel mit dem Titel "reden über medien" hervorging, kann der medientheoriebewanderte Leser ein fröhliches Wiedersehen mit einigen Namen feiern, die seit Jahren im deutschsprachigen Mediendiskurs präsent sind: Siegfried J. Schmidt, Manfred Faßler, Winfried Nöth, Georg-Christoph Tholen, Volker Grassmuck – alles alte Bekannte.

Es stellt sich damit wie von selbst die Frage, inwieweit nun – nachdem sich Computer und Internet als Medien der Massennutzung (zumindest in der westlichen Hemisphäre) etabliert haben – in den einzelnen Theorieansätzen auch gewisse Veränderungen festzustellen sind.

Konstruktivismus

S.J. Schmidt gibt in seinem Beitrag "Konstruktivismus als Medientheorie" einen sehr kompakten und klaren Überblick über die Grundsätze des Konstruktivismus und seiner Umformulierung der Systemtheorie sowie deren Anwendung auf das Untersuchungsfeld der Medien, deutet allerdings nur an, dass die neuen Medien Computer und Internet durch die Verwischung der Oppositionen von "wahr" und "falsch", "real" und irreal" wahrscheinlich tiefgreifende Auswirkungen auf die differenzbestimmte Wirklichkeitskonstruktion haben werden.

Allerdings wartet man vergeblich auf die theoretischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis, die – streng genommen – eine wesentliche Grundlage der Systemtheorie, nämlich die Definition der Systeme auf der Basis von Differenzsetzungen, ins Wanken bringen könnte. Und so bleibt der Verdacht, dass der Konstruktivismus im Verbund mit systemtheoretischen Maximen möglicherweise den Herausforderungen künstlich erzeugter Wirklichkeiten und teilweise chaotischer und heterogener Vernetzungsstrukturen nicht gewachsen sein könnte.

Allgemeine Semiotik

Ähnliches Unbehagen stellt sich ein, wenn Winfried Nöth in seinem Beitrag "Semiotik als Medienwissenschaft" diese als Universaltheorie präsentiert. Als "allgemeine Wissenschaft von den Zeichen und den kommunikativen Prozessen des Zeichengebrauchs" (S. 48) sei die Angewandte Semiotik die Rahmenwissenschaft, die Medienwissenschaft demnach eines ihrer Teilgebiete. Zwar spannt Nöth einen weiten Bogen der semiotischen Arbeitsbereiche auf – von der Textsemiotik über die Kommunikation bis zur Kognition –, doch die Konzentration auf Zeichenprozesse (welcher Materialität auch immer) führt ihn zur Konsequenz der Selbstreferentialität der Zeichen.

Wenn alles Zeichen ist, so verweisen Zeichen auch immer nur auf Zeichen. Eine inhärent selbstreferentielle Zeichenwelt jedoch steht unter dem Verdacht, wenig Aufschluss über aktuelle soziale, kognitive und kommunikative Probleme im Umgang mit den neuen Medien zu geben.

Semiotik des Computers

Überzeugender, weil wesentlich konkreter (und im Anspruch bescheidener) wirkt da der Ansatz von Lucia Santaella, die für eine Semiotik des Computers plädiert. Sie fordert eine semiotische Analyse der Zeichenprozesse, die den Computer überhaupt erst zum Medium machen: der Programmierung.

Ausgeblendet bleibt allerdings der Aspekt, der bei einem solchen Ansatz immer mitzudenken ist: Der Aufbau des Computers und seine Struktur sind das Ergebnis bestimmter kultureller Praktiken, deren spezifische Funktionsweisen ebenfalls noch einer eingehenden Analyse harren. Der Beitrag Volker Grassmucks, der am Beispiel Japans deutlich macht, dass der Computer ein Resultat westlicher Schriftpraxis ist, gibt dafür ein Fallbeispiel, ohne jedoch weitergehende Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen.

Hypertexttheorie

Neben den allgemein-theoretischen Aspekten ist nach wie vor der Hypertext ein beliebtes Thema, ohne dass allerdings wesentlich neue Erkenntnisse zum Vorschein kämen.

Herbert A. Meyer referiert die üblichen Quellen zur Hypertexttheorie (Vannevar Bush, Ted Nelson), ohne jedoch über die Aussage, dass sich mit Hypertextsystemen auch neue kulturelle Praktiken herausbilden könnten, hinauszukommen.

Karin Wenz betrachtet die Historie des Hypertextes als mentales Konzept, das seine theoretischen Vorläufer in den poststrukturalistischen Konzepten von Intertextualität und Rhizom habe, seine praktischen Ahnen in Techniken der Montage und Collage. Ebenfalls nichts neues also, allerdings macht ihr Beitrag deutlich, wie viel an Begriffsklärung in diesem Bereich noch zu leisten ist. Wenn sie den Hypertext als "das Medium der Medienintegration" bezeichnet (S. 175), so scheint sie einerseits keinen Unterschied zwischen Text und Bild- und akustischen Medien mehr zu machen, andererseits bleibt die Frage nach der Beziehung zwischen den Zeichensystemen bzw. den möglichen semiotischen Innovationen durch den Computer ausgeblendet.

Mangelnde Anwendbarkeit der Ansätze

Was Manfred Faßler in seinem Beitrag aus soziologischer Perspektive einfordert – überzeugende Konzepte für computerspezifische Kommunikation und die Analyse ihrer Konsequenzen für die Modellierung sozialer Gemeinschaften – kann auf den gesamten Mediendiskurs ausgeweitet werden. Außer in dem Beitrag von Volker Grassmuck gibt es keinerlei Bezüge zum kulturellen Umgang mit Computer und Internet, sei es aus arbeitspragmatischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Perspektive. Und so findet man – einmal mehr – in erster Linie einen Panoramablick auf mögliche Problembereiche, nicht aber überzeugende Lösungsansätze, die sich wohl aus den Sphären der wissenschaftlichen Abstraktion in die Niederungen der Anwendbarkeit begeben müßten.

Empirische Aspekte der neuen Medien

Leidet der eben besprochene Sammelband – symptomatisch für die philosophische Mediendiskussion im deutschsprachigen Raum – unter einem Mangel an Konkretion und erzeugt demnach einen regelrechten Hunger nach ein wenig mehr empirischem Material, kann man dies dem von Eva-Maria Jakobs, Dagmar Knorr und Karl-Heinz Pogner herausgegebenen Band "Textproduktion. HyperText, Text, KonText" nicht vorwerfen.

Hier gibt es empirische Studien en masse, die von Aspekten der Textdarstellung in neuen Medien über die Bedingungen kollektiver Textproduktion bis hin zu kognitiven Fragestellungen angesichts der Rezeption von Hypertext und Hypermedia sowie des Arbeitens mit dem Computer reichen.

Neue Visualisierungsstrategien

Dabei werden interessante Aspekte pointiert thematisiert: Die Frage nach der Präsentation von Texten im elektronischen Raum ist inhärent mit Konzepten der Visualisierung, Struktur und Übersichtlichkeit gekoppelt. Zu diesem einheitlichen Ergebnis kommen die Beiträge von Christoph Sauer, Steffen-Peter Ballstaedt und Arrie van Berkel / Margret de Jong.

Die Nutzung des Computers scheint nach neuen, durchdachten Visualisierungsstrategien zu verlangen, die sich von denjenigen der Buchkultur unterscheiden müssen. Dies ist eine naheliegende Erkenntnis, die alles andere als revolutionär zu nennen ist, 2 aber offensichtlich noch erstaunlich selten berücksichtigt wird.

Guido Ipsen bringt in seinem Beitrag ein konkretes Beispiel der Textdynamisierung, die es erlaubt, den Leseweg des Benutzers in die Textgestaltung mit einzubeziehen, indem die Textsegmente sich je nach Leseweg inhaltlich verändern (je nachdem, ob der Leser bestimmte Segmente schon kennt oder nicht). So wird die Interaktion des Textes mit dem Benutzer flexibel gestaltbar.

Einigkeit herrscht in allen Beiträgen darüber, dass die Navigation und die visuelle Übersichtlichkeit am Bildschirm ein entscheidender Faktor dafür ist, den Effekt des "Lost in Cyberspace" zu vermeiden. Kohärenzbildung muss erleichtert, nicht erschwert werden – Konsistenz und Vorhersagbarkeit sind wichtige Elemente bei einer hypertextuellen Struktur, die auf Fragmentierung beruht und einen kompletten Textüberblick durch die räumliche Beschränktheit des Bildschirmes verweigert.

Neue Formen der Textproduktion

Der Computer verändert nicht nur die Textgestaltung, sondern auch die Textproduktion – und zwar einerseits die individuellen Schreibtechniken, andererseits die Formen kollektiver Zusammenarbeit.

Daniel Perrin und Wilhelm Grießhaber widmen sich in ihren Beiträgen der Frage nach der individuellen Schreibtechnik, wobei deutlich wird, dass die technischen Potentiale des Computers durchaus hinderlich sein können: Einerseits muss der Technologie erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden – Anwenderprobleme können den Schreibprozess wesentlich verzögern und erschweren (Grießhaber), andererseits kann die Möglichkeit, durch Copy & Paste schnell Texte aus verschiedenen Quellen zu kompilieren (von Perrin untersucht am Beispiel eines Journalisten) zu Schlampigkeit sowie semantischer und syntaktischer Inkohärenz verleiten. Aspekte kollektiver Textproduktion führen dagegen durch die notwendige kommunikative Interaktion in erster Linie zu erhöhter Selbstreflexion in Bezug auf die Zielsetzung und Strategien des Schreibens.

Reflexion der Rezeptions- und Darstellungstechniken

Ein enorm gesteigerter Wert der Selbstreflexion scheint als generelles Ergebnis des Arbeitens mit dem in der Geschichte der artifiziellen Schreibinstrumente bisher technologisch komplexesten Gerät zu sein – dies betrifft nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeption.

Wie schon die Beiträge zur Textgestaltung deutlich machten, geht es in erster Linie darum, Strategien der Übersichtlichkeit zu entwickeln, um die enormen Verarbeitungs- und Speicherkapazitäten des Computers entsprechend nutzen zu können. Für wissenschaftliche und pädagogische Zwecke gibt es mittlerweile die verschiedensten Systeme (als Software oder als komplettes Hypertextsystem mit eigener ausgefeilter Anwendungsumgebung), die eine komplexe Informationsstrukturierung erlauben (vgl. die Beiträge von Annely Rothkegel, Markus Nickl und Rolf Assfalg), auch wenn die Ergebnisse noch optimierungsbedürftig sind.

Hier ist das Prinzip klar vorgegeben: Transparenz für den Nutzer, die nur durch die erhöhte Reflexion der Rezeptions- und Darstellungstechniken erreicht werden kann.

Hyperfiction

Doch die Hypertexttechnologie wird seit Jahren schon auch für die ästhetische Produktion von Literatur (Hyperfiction) genutzt, deren Zielsetzungen ganz andere sind. Bernd Wingert hat anhand eines mehrmonatigen Selbstversuchs seine Lektüre der Hyperfiction "Quibbling" von Carolyn Guyer dokumentiert – und kommt zu dem Ergebnis, dass das Lesen von ästhetischen Hypertexten harte Arbeit erfordert.

Die Fragmentierung des Textes und die fehlende Kennzeichnung der Linkverbindungen führt – trotz vorhandener Strukturübersicht – zu massiven Desorientierungseffekten beim Leser. Wingert kommt schließlich zu dem Schluss, dass ohne eine kontinuierliche Dokumentation der Lesewege diese Verwirrung unaufgelöst bleibt. Doch welcher Leser sitzt schon mit Papier und Bleistift vor dem Computer und zeichnet sein Leseverhalten auf?

Hyperfiction scheint in erster Linie ein Gegenstand für Wissenschaftler zu sein – dies erklärt die mangelnde Popularität dieses Genres. Es erklärt auch, warum es dennoch mittlerweile erstaunlich viele wissenschaftliche Analysen von Hyperfictions gibt: Sie scheinen tatsächlich die Selbstreflexion des Leseprozesses herauszufordern und können auf diese Weise Erkenntnisse über kognitive Vorgänge vermitteln.

Lösung vom Buchdruck

Eine Grundtendenz lässt sich bei allen Beiträgen feststellen: Es werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Ausgangspunkt für die meisten empirischen Studien sind nach wie vor die klassischen Situationen der face-to-face-Kommunikation oder der Informationsstrukturierung – auf die technologischen Spezifika der neuen Medien wird oft entweder nur ansatzweise oder im Rückgriff auf linguistische Theorien eingegangen, die sich auf die Bedingungen der Druckkultur stützen.

Hin und wieder schleicht sich daher der Verdacht ein, dass noch sehr viel radikaler gedacht werden muss, will man die Gestaltungs- und Produktionspotentiale von Computer und Internet wirklich effektiv nutzen. Die Bindung an den Buchdruck als Paradigma scheint nach wie vor sehr eng zu sein. Ein Blick auf die computer- und internetkünstlerische Praxis könnte auch hier Aufschlüsse erlauben – gerade die Kunst ist ja darin geübt, die Grenzen ihrer Medien auszuloten und zu überschreiten.

Digitale Ethik

Genau dies ist der Fokus der Monographie "Digital Aesthetics" von Sean Cubitt, die den Leser wieder in etwas spekulativere Sphären entführt. Cubitt arbeitet weder explizit theoretisch noch empirisch, aber man merkt dem Buch an, dass beides im Hintergrund steht. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach den globalen gesellschaftlichen Veränderungen durch Computer und Internet:

The purpose of inquiry into the digital arts is not to affirm what is, but to promote the becoming of what is not-yet, the grounds of the future as they exist in the present.(S. X).

Das Paradigma der Individuation

Ästhetik ist für Cubitt inhärent gekoppelt mit Ethik: Computer und Internet als kommunikative Medien reformulieren seiner Meinung nach die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individualisierung und Kollektiv, die seit Jahrhunderten die Grundlage für die philosophische Theorienbildung der westlichen Hemisphäre darstellt. Cubitts Analyse oszilliert zwischen Theoriebetrachtung und Kunstanalyse im gesellschaftlichen Kontext – nicht nur digitaler Kunst, sondern Literatur, Musik und Film der letzten Jahrzehnte.

Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sowohl die theoretischen als auch die gesellschaftlichen Diskurse vom Paradigma der Individuation geprägt sind. Diese ist für ihn eine Art Foucaultsche Episteme, die ebenso die Struktur und den Gebrauch der Medien, auch der digitalen, prägt. Wie ein roter Faden durchzieht diese Grundthese das Buch, sie ist der Maßstab, an dem er auch aktuelle Tendenzen des Computereinsatzes nicht nur in künstlerischer, sondern auch in technologisch-ökonomischer Hinsicht misst.

Die Bilanz fällt sehr skeptisch aus: Die epistemologischen Bedingungen der individualistischen Gesellschaft spiegeln sich nach Cubitt in der Struktur des Computers und der Software wieder: Auch 3-D-Welten kennen nur die Zentralperspektive des Beobachters, wie sie sich seit der Renaissance etabliert hat.

We have, however, created HCIs [Human-Computer-Interfaces, C.H.] articulated only with a normative visual culture, crushing machine perceptions into conformity with a narrow definition of ours. Because we have considered the relation between human and machine as instrumental and prosthetic (subordinating and conforming machines to the requirements of human instrumentality), and even more because we have created them in the image of an ideally isolated individual, we have denied our computers the use of the shifters (here, now , you , we…) that might transform their servitude into partnership. (S. 34)

Dementsprechend unterliegt auch die Kunst der Frage nach der Individualisierung, indem ihre Rezeption von einer stetigen Oszillation zwischen Selbstverlust (Immersion) und Selbstfindung geprägt ist. Dies jedoch ist – aufgrund der Selbstreflexivität, die künstlerische Arbeit und auch ästhetischer Genuss mit sich bringen – eine Grundstruktur, die nicht notwendigerweise zu einer Betonung des Individualismus führen muss.

Kommunikation und ökologische Interaktion

Kommunikation und ökologische Interaktion sind für Cubitt die Stichwörter einer ethischen Kunst, deren Aufgabe die Visionierung und Modellierung zukünftiger gesellschaftlicher Formationen ist. Unter diesem Aspekt sind nach Cubitt weder der Poststrukturalismus mit seiner Ontologisierung des Zeichens und des Textes, noch der Konstruktivismus mit seiner individualistischen Wahrnehmungstheorie oder die kybernetische Konzeption autopoietischer und damit von der Umwelt abgetrennter Systeme hilfreiche Modelle, auf die eine adäquate Ästhetik zurückgreifen kann.

Die digitale Kunst selber ringt demnach noch um Konzepte, die über reine Spielerei und Selbstreflexivität in bezug auf ihre mediale Konstruktion sowie den Individualismus des Werk- und Bedeutungsbegriffs hinausgehen.

Wenn Kommunikation zum Kern digitaler Kunst wird, ist damit auch eine neue Kommunikationstheorie vonnöten, die weder auf der Ontologie der Mitteilung noch auf der Linearität des Broadcasting beruht. Doch solche Konzepte sind in der Tat noch ausgesprochen selten – sowohl in ästhetischer als auch in theoretischer Hinsicht. 3

Auch Cubitt kann diesem Defizit letztlich nicht abhelfen: Sein Schwerpunkt liegt auf der kritischen Analyse der verschiedenen aktuellen Diskursfelder, seine Forderungen an eine digitale Ästhetik (und Ethik) bleiben relativ vage und schließen an die Forderungen der Postmoderne an: Akzeptanz der Gegensätze, Kommunikation als ethisches Unterfangen unter den Prämissen des Dissenses (im Gegensatz zum Habermasschen Konsens), Betonung der Ambivalenzen und Paradoxien statt Aufhebung von Widersprüchen – in vielem, was Cubitt nur ansatzweise formuliert, fühlt man sich insbesondere an Wolfgang Welschs Konzept der transversalen Vernunft erinnert, ohne dass jedoch angedeutet wird, wie ihre praktische Realisierung aussehen könnte.

Wichtige Denkanstöße

Dennoch ist "Digital Aesthetics" ein wichtiges Buch: Es stellt die Frage nach einer ethisch motivierten Kunst im Zeitalter elektronischer Netzwerke und trennt dieses Problem nicht von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Problembereichen ab. Kenntnis- und materialreich, in einem anspruchsvollen essayistischen Stil geschrieben, erweckt Cubitt niemals den Eindruck des Oberflächlichen, auch wenn er viele Problembereiche nur anreißen kann. Er schließt sich weder den Technologieapokalyptikern noch den Utopisten an, sondern bewahrt eine sachliche Distanz, die zwar ihren ethischen Anspruch nie verhehlt, ihn aber vor Belehrungen oder Polemik bewahrt. Das Buch regt zum Weiterdenken an – und man darf vermuten, dass dieser Effekt ganz in der Intention des Autors liegt.


Dr. Christiane Heibach
Universität Erfurt
Lehrstuhl Vergleichende Literaturwissenschaft/Medien
Nordhäuser Str. 63
D-99089 Erfurt

Ins Netz gestellt am 6.3.2001

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Anmerkungen

1 Um nur einige Beispiele zu nennen: Forian Rötzer/Peter Weibel (Hg.): Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. München 1993; Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Georg Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium. München 1994; Ruth Mayer/Martin Klepper/Hans-Peter Schneck (Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin 1995. Stefan Bollmann/Christiane Heibach(Hg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Mannheim 1996; Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen (Hg.): Hyperkult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Frankfurt am Main 1997; Sybille Krämer(Hg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Me-dien. Frankfurt am Main 1998.   zurück

2 Dass nach der Erfindung des Buchdrucks erst mal eine Phase der Experimente mit der Buchstruktur und -gestaltung begann, bevor sich Inhaltsverzeichnis, Überschriften und Kapitel als Standard etablierten, zeigt Michael Giesecke ausführlich in seiner Studie "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien." Frankfurt am Main 1991.    zurück

3 In Deutschland sind wissenschaftliche Konzepte der ökologischen Kommunikation noch die Ausnahme, auch wenn die Publikationen dazu langsam zunehmen. Vgl. den Reader von Matthias Donath und Barbara Mettler v. Meybohm: Kommunikationsökologie: historische und systematische Aspekte. Münster 1998. Eine umfassende Konzeption ökologischer Kommunikation ist zu finden bei Michael Giesecke: Die Mythen der Buchkultur. Frankfurt am Main 2001 (in Vorbereitung). Die USA kennt zumindest einen sehr populären Vertreter der Kommunikationsökologie: Neil Postman. Doch dessen Verdammung der Medien scheint keine adäquate Lösung für das Problem zu sein. Cubitts Forderung geht in die Richtung einer Mediennutzung, die die Medien als Teil eines ökologischen Zusammenwirkens verschiedener Systeme akzeptiert.   zurück