Heinz über Kahl: "Ästhetik des Lebens" in Rilkes mittlerem Werk

Jutta Heinz

"Ästhetik des Lebens" in Rilkes mittlerem Werk

  • Michael Kahl: Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk 1902-1910. (Rombach Wissenschaften: Reihe Cultura; Bd. 9; zugl.: Diss. FU Berlin) Freiburg im Breisgau: Rombach 1999. 259 S. Kart. DM 49,80.
    ISBN 3-7930-9212-7.


Mit seiner Studie zu Lebensphilosophie und Ästhetik in Rilkes >mittlerem Werk< verstößt Michael Kahl gegen einige informelle Konventionen der Rilke-Forschung. Zum ersten läßt er die mittlere Werkphase recht früh einsetzen – nämlich mit der Worpswede-Monographie aus dem Jahr 1902 –, behandelt dann aber ausschließlich jene Werke, die konventionell diesem Schaffensabschnitt zugeschrieben werden: also die Texte zu Rodin und Cézanne sowie die Neuen Gedichte (1907/1908) und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910).1

Zum zweiten sucht man die ästhetischen Termini vergebens, die größtenteils Rilke selbst zur begrifflichen Erläuterung seiner poetischen Innovationen vorgeschlagen hatte und die die Forschung seither hegt und pflegt: Nur wenig ist die Rede vom >Schauen< oder vom >sachlichen Sagen<, von >Vorwänden< oder >Äquivalenten<; das >Ding< taucht zwar auf, wird aber bald zum neutralen >Gegenstand< verfremdet und in ein zeichentheoretisches Modell übersetzt.

Zum dritten schließlich kommt das Leben Rilkes in diesem Text, der die Lebensphilosophie im Titel trägt, kaum vor;2 während doch gemeinhin gerade für den Komplex des Verhältnisses von Leben und Kunst bei Rilke ein gewisser Biographismus häufig für legitim gehalten wird.

Kurz: Kahls Studie markiert einen Neuansatz innerhalb einer recht verfestigten Forschungslandschaft – was in vielerlei Hinsicht erhellend und aufschlußreich ist, in anderer Hinsicht jedoch auch etwas eindimensional wirkt und zu nonchalant über die bisherige, im Falle der Neuen Gedichte und des Malte Laurids Brigge durchaus reiche Forschungsgeschichte hinweggeht.

Zum Lebensbegriff der Jahrhundertwende – lebensphilosophische Grundlagen

Die Vorverlegung zumindest der ästhetischen, wenn auch nicht der poetischen Neuorientierung hat zunächst ihren guten Grund in der Zielsetzung der Studie. Während bisher vor allem das Rilkesche Frühwerk im Kontext der Lebensphilosophie gelesen wurde, will Kahl in seiner Studie nun auch die Werke der mittleren Phase vor diesem Hintergrund neu interpretieren: "Ihre Hypothese ist, daß die konkreten poetologischen Probleme in Rilkes Dinggedichten und seinem Roman in mittelbarem Zusammenhang mit dem Postulat einer >Ästhetik des Lebens< stehen" (S. 21).

Dazu exponiert er zunächst einige Aspekte des Lebensbegriffs der Jahrhundertwende. Dieser erfüllt vor allem eine wichtige synthetische Funktion: Er wird allen Differenzierungs-3 und Entfremdungserfahrungen, seien sie nun sozialer, wissenschaftlicher oder lebensweltlicher Art, als Einheitskategorie emphatisch entgegengehalten. Als solche umfaßt er jeweils die auseinander getretenen Pole in einem Prozeß der Steigerung, ohne sie zu negieren: Ist gleichzeitig Bewegung und Dauer, fließendes Leben und erstarrte Form.

Diese Eigenschaft teilt das Leben mit der Kunst, so wie sie die Lebensphilosophen verstehen: Auch die Kunst – als autonomer Bereich – ist dem Leben feindlich und doch mit diesem – als Ausdruck von Lebensenergie – unauflöslich verbunden; auch die Kunst dient letztlich der Selbststeigerung.

Problematisch erscheint die inhaltliche Unbestimmtheit des Lebensbegriffs in Kahls Darstellung. Diese ist nur teilweise dem Autor zuzurechnen; nicht zu Unrecht betont er, daß die Syntheseleistung häufig stärker postuliert als tatsächlich bewiesen wird: "Im Extremfall scheint der Begriff des Lebens nichts anderes zu sein als die Benennung der aufgelösten Vielfalt der Erscheinungen als Einheit und Ganzheit" (S. 12).

Eine etwas größere Quellenvielfalt und Ausführlichkeit bei der Darlegung dieses umfassenden Kontextes könnte jedoch – angesichts dessen zentralen Stellenwerts für Kahls These – durchaus erwartet werden. So basiert die Darstellung beinahe ausschließlich auf wenigen, ausgewählten Texten Simmels sowie der literarhistorischen Einschätzung des Lebensbegriffs von Wolfdietrich Rasch und umfaßt gerade einmal 10 Seiten.

Der Lebensbegriff wird dabei im wesentlichen auf ein Strukturprinzip reduziert, das in beinahe magischer Weise aus empirischer Vielfalt Einheit macht. Bei einer breiteren Quellenlektüre und -analyse wäre es vielleicht möglich gewesen, über dieses Strukturmuster hinaus weitere Eigenschaften des Lebensbegriffs zu destillieren, die dann dazu hätten beitragen können, neben strukturellen auch inhaltliche Bezüge der behandelten poetischen Texte zur Lebensphilosophie herzustellen. Durch die Konzentration auf den Strukturbegriff und dessen ausschließliche Anwendung auf die Texte wird zudem eine poetologische Lesart beinahe zwingend präjudiziert – und andere Lesarten zumindest nicht erwähnt, wenn nicht gar ausgeschlossen.

Zum Verhältnis bildende Künste – Poesie: ästhetische Grundlagen

Tatsächlich geht es Kahl ausschließlich um die ästhetischen Implikationen des Lebensbegriffs. Als Vermittlungsglied zum poetischen Werk wird dabei die Auseinandersetzung Rilkes mit der bildenden Kunst eingesetzt: Rilke sieht Rodin und Cézanne durch die Brille der Lebensphilosophie und formt daraus eigene Strukturformeln. Dabei konzentriert sich Kahl vor allem auf zwei Problemkomplexe: auf die Frage nach dem >Ding< und dessen Funktion für Rilkes Poetik (a); und auf die Frage nach dem Raum-Zeit-Konzept bei Rodin und Cézanne und dessen Rezeption durch Rilke (b). Beides wird schließlich vor dem Hintergrund der
ut-pictura-poesis-Debatte konturiert (c).

  1. Der Ding-Begriff in der Spannung von Gegenständlichkeit und Form

    Bezüglich des Ding-Begriffs betont Kahl zunächst die Spannung, die dadurch entsteht, daß Rilke als >Ding< sowohl den Gegenstand des Kunstwerks wie auch das Kunstwerk selbst bezeichnet. Insofern ist zu klären, wie sich eine solche Kunst zur Wirklichkeit verhält, und in welcher Weise das Kunstwerk selbst diesen Gegenstandsstatus erreicht.

    Kahl stellt dabei die abstrahierenden Tendenzen Rodins und Cézannes in den Vordergrund, die den Gegenstand scheinbar auflösen, indem sie vor allem die je eigene Materialität des Kunstwerks in den Vordergrund stellen. Gerade durch diese Abstraktion jedoch erreichen die Kunstwerke beider für Rilke eine besondere Prägnanz der Darstellung, die in höchste Gegenstandsnähe umschlägt.

    Diese Paradoxie erklärt Kahl einleuchtend durch den Bezug auf den Lebensbegriff als Vermittlungsstruktur: Das Kunstwerk intendiert nicht mehr primär die Repräsentation eines Objekts der äußeren Welt, sondern es stellt gleichzeitig das Leben als Form in seiner ästhetischen Struktur selbst dar:

    Das Grundprinzip der selbstreferentiellen Konzeption, die Herstellung des >Gleichgewichts der Flächen<, ist also a priori selbst schon Darstellung: Darstellung des Lebens nämlich, das im lebendigen Spiel des Lichtes, in der lebendig-bewegten Oberfläche der plastischen Figuren seinen Ausdruck findet
    (S. 33).

    Dabei muß für Rilke der Gegenstand selbst jedoch erhalten bleiben; diesen wesentlichen Unterschied zu einer modernen Interpretation von Cézanne und Rodin akzentuiert Kahl in einem Exkurs zur Kunstauffassung Nelson Goodmans, die gerade die besondere semiotische Fülle einer vom Gegenstand völlig emanzipierten abstrakten Kunst begründet. Dieser Umweg wirkt zwar klärend bezüglich der abstrakten Tendenzen bei Cézanne und Rodin, trägt aber wenig dazu bei, Rilkes Beharren auf der Referentialität zu erklären.

    Insofern hätte es sich vielleicht doch angeboten, zumindest zusätzlich auf die Formeln zurückzugehen, die Rilke oder auch Cézanne in ihren theoretischen Äußerungen geprägt haben. Der bekannten Definition Cézannes von der Kunst als Harmonie parallel zur Natur und seinem unermüdlichen Streben nach réalisation sowie Rilkes beinahe metaphysischer Überhöhung des >Dings< und seiner Insistenz auf der >Sachlichkeit< liegt nicht nur ein altmodisches Beharren auf Referentialität der Kunst zugrunde, sondern ein durchaus werthafter Begriff von Gegenständlichkeit als eigener Seinsweise und von Künstlertum als emphatischer Lebensform.

    Daß dieser letzte Punkt im übrigen beinahe überhaupt nicht zur Sprache kommt, obwohl er doch eine der zentralen und offensichtlichen Bezugspunkte für Rilkes Rezeption von Cézanne und Rodin ist, zeigt ebenfalls die Grenzen eines rein strukturell aufgefaßten Lebensbegriffs: Die produktionsästhetischen Aspekte, die Rilke mit der Verehrung der Künstler-Persönlichkeiten Cézanne und Rodin und ihrer Arbeitsweise verbindet, kommen ebensowenig in den Blick wie die Überlegungen zur künstlerischen Umsetzung von möglichst ungefilterten Wahrnehmungsdaten.4

  2. Raum-Zeit-Konzepte in der Plastik

    Einen weiteren Schwerpunkt der Auseinandersetzung Rilkes mit den bildenden Künsten legt Kahl auf die Umsetzung von Raum und Zeit in der Plastik Rodins – was ja gleichzeitig ein zentrales Thema des traditionellen Vergleichs der verschiedenen Künste ist. Er zeigt, daß Rilke bei Rodin eine "Synthese von Raum und Zeit" (S. 59) umgesetzt sieht, die im wesentlichen darauf beruht, daß die Plastik Bewegung in einer geschlossenen Form darstellt. Wiederum weist Kahl hier auf die Doppelbedeutung des Lebens als Gegenstandsbezug und Formgesetzlichkeit hin: Das bewegte Leben des Lichts entfaltet sich am Gegenstand, dem menschlichen Körper in seiner plastisch geformten Oberfläche und es demonstriert gleichzeitig die ästhetischen Gesetze der Plastik. Wichtige Merkmale der Rodinschen Plastik in der Rilkeschen Interpretation sind damit erfaßt.

    Kahl vernachlässigt jedoch andere Aspekte, die teilweise sogar noch stärker auf eine lebensphilosophische Grundlage schließen ließen – wie beispielsweise die besondere Betonung der Lebensfülle, die nach Rilke gerade im häßlichen Gegenstand liegt, der eben nicht auf traditionelle ästhetische Kategorien reduzierbar ist, sondern viel unvermittelter das Lebens selbst spiegelt.5

    Damit verbunden ist ein weiterer produktionsästhetischer Aspekt: Wie der Gegenstand selbst durch die vielfältigen Einflüsse von Erfahrungen und Schicksalen geprägt ist, zeigt auch das Kunstwerk die Geschichte seiner Entstehung als Prozeß wachsender Einsichten des Künstlers.

  3. Intermedialität als Problem

    Besonderen Wert legt Kahl darauf, ein Bewußtsein der Verschiedenheit der Künste wachzuhalten, wie es auch Rilke bei seinem Versuch gewonnen habe, seine an der bildenden Kunst gewonnenen ästhetischen Erkenntnisse auf die Dichtung zu übertragen. Die Vergleichspunkte der Handwerklichkeit, des >Machens< von Kunstwerken sowie der Aneignung der Wirklichkeit im >Schauen< werden deshalb nur kurz erwähnt; diese Punkte würden allerdings eher auf eine Annäherung der Künste hinweisen, die Kahl jedoch im Kontext seines stark werkorientierten Zugangs systematisch von sich weist. Er konzentriert sich deshalb stärker auf das poetologische Konzept, wie es im konkreten Werk seinen Niederschlag findet.

    Dabei ergibt sich bezüglich des >Ding<-Konzepts für Kahl das Problem, daß poetische Werke zwar Gegenstände ebenso als Stoff benutzen können wie die Werke der bildenden Kunst, daß jedoch deren Selbstreferentialität qua Reduktion auf das künstlerische Material und dessen besondere ästhetischen Gesetze in literarischen Texten nicht ohne weiteres umgesetzt werden kann: Die Sprachzeichen sind nicht von sich aus >bedeutend<, sondern nur aufgrund einer konventionellen Bedeutungszuweisung.

    Durch die Art der poetischen Sprachverwendung in den Neuen Gedichten ergibt sich nach Kahl aber trotzdem eine Möglichkeit, die Arbitrarität der Zeichen semantisch aufzuladen: indem beispielsweise Bedeutungszusammenhänge durch Reim oder syntaktische Verknüpfungen hergestellt werden, zeitliche Strukturen durch Rhythmus und Metrum realisiert werden, Räumlichkeit – oder zumindest raumähnliche Strukturen – durch die Sonettform simuliert wird.

Selbstbeschreibung der Dinge in den Neuen Gedichten: Fragment und Totalität, Bewegung und Ruhe, metonymische Metaphern

In seiner anschließenden Deutung der Neuen Gedichte zeigt Kahl verschiedene Möglichkeiten, wie in einem Gedicht Gegenstandsbezug und Selbstreferentialität der Dichtung verbunden werden können. Dabei ist es erstaunlich und auch bedauerlich, daß der materialen Struktur der Gedichte im Einzelfall trotz des postulierten Bezugs Rilkes auf das sprachliche Material und dessen semantische Potenzen im großen und ganzen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird; vielmehr bewegt Kahl sich auch hier zumeist auf der Ebene ästhetischer Großkonzepte.

So wird am Beispiel von Leda das Verhältnis von Fragment und Totalität untersucht. Im Gedicht geht – wie bei Rodins Torsen – die ästhetische Totalität nicht mehr vom Gegenstand selbst aus, sondern wird durch die Kunstwirkung erst hergestellt. Beides wiederum läßt sich zurückführen auf das >Leben<, das sich in beliebigen fragmentarisierten Körperteilen nach den gleichen Gesetzen vollzieht wie im Gesamtorganismus. Ein anderes Muster ist die Darstellung von Bewegung in den Neuen Gedichten, die Kahl am Beispiel des Panther und des Ball-Gedichtes nachzeichnet.6

Kahl argumentiert mit seiner Deutung der Neuen Gedichte gegen eine verbreitete symbolische oder symbolistische Interpretationstradition. Dagegen betont er zum einen die besondere Bedeutung des Körpers für die Texte: Vielfach würden traditionelle symbolische Deutungsmuster destruiert, indem die Körper von ihrer geistigen Deutungsmasse befreit und auf ihre reine Oberflächlichkeit – im Rodinschen Sinne – zurückgeführt würden, die dann wiederum mit Bedeutungen aufgeladen werden kann.7

Wichtiger erscheint das zweite Argument, das verkürzt so formuliert werden kann: In den Neuen Gedichten weisen die Dinge nicht über sich hinaus, sondern auf sich selbst zurück;8 und sie tun dies mittels einer besonderen Bildlichkeit, indem sie die metaphorischen Verknüpfungen zugleich referentiell fundieren, nämlich als Metonymie.9 Die metonymische Metapher erweist sich als ein Stilmittel, das die Dissoziationstendenzen des >Dinggedichts< auffangen kann, indem die analytischen Komponenten der Metapher – die den Gegenstand sozusagen in Vergleichsmerkmale zerlegen muß – an einen einheitlichen räumlichen Zusammenhang gebunden bleiben.

Diese Analyse der spezifischen Bildlichkeit der Neuen Gedichte ist eines der interessantesten Ergebnisse der Studie und geht deutlich über die bisherige Forschung zum Vergleich als wichtigster Bildform hinaus. Es ist jedoch bezeichnend, daß Kahl an dieser Stelle keine Verbindung mehr zum lebensphilosophischen Kontext herstellt: Offensichtlich wird dieser hier nicht mehr benötigt, weil die poetische Sprache selbst die Einheitsleistung vollbringt – bzw. der Dichter in einem sehr bewußten Verfahren.

Diese forcierte Mittelbarkeit bleibt deshalb auch für Kahl ein Problem im Hinblick auf den lebensphilosophischen Ansatz und dessen Intention auf Unmittelbarkeit. Zu fragen wäre allenfalls, ob die Unmittelbarkeit nicht auf einer anderen produktionsästhetischen Stufe angesiedelt werden müßte, nämlich bereits in der besonderen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Rilke als "Schauen" bezeichnet und die Züge einer Epiphanie annehmen kann – und damit stark auf intuitiven Komponenten des Erlebens beruht. Die vermittelte sprachliche Umsetzung wäre dann nur noch der handwerkliche Akt, der ja auch bei Rodin und Cézanne extrem reflektiert geschieht.

Rilkes lebensphilosophisches Romankonzept – zum Malte Laurids Brigge

Unzweifelhaft ist es einer der Vorzüge der Kahlschen Studie, daß die Umsetzung der neuen ästhetischen Positionen Rilkes in zwei verschiedenen Gattungen untersucht wird. Damit wird zum einen der innere Zusammenhang der "mittleren Phase" deutlicher; zum zweiten versucht Kahl nun an einem anderen poetischen Modell zu zeigen, wie sich Rilkes aus der Lebensphilosophie gewonnenen ästhetischen

Grundsätze unter den Bedingungen des Erzählens umsetzen lassen. Deshalb rekonstruiert er zunächst allgemeine erzähltheoretische Überlegungen zum Roman der Jahrhundertwende, insbesondere zur Darstellung von Handlung und Zeit. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Romantheorie von Georg Lukács – was sich auch deshalb anbietet, weil dort lebensphilosophische Spuren noch deutlich erkennbar sind. In einem weiteren Schritt wird Rilkes Romankonzept anhand seiner Rezeption von Jacobsens Niels Lyhne sowie seiner Rezensionen zu Huchs Peter Michel und Obstfelders Pilgerfahrten rekonstruiert.

Auch hier setzt Kahl also früher an: All diese Texte liegen zeitlich entweder vor dem Beginn der Arbeit am Roman oder fallen in die erste Arbeitsphase. Für bestimmte Themenkomplexe des Romans kann Kahl damit eine lebensphilosophische Prägung nachweisen, die um die schon im Lyrik-Kapitel thematisierten Fragen nach dem Zeitkonzept, dem Verhältnis von fragmentarisch-kontingenten Einzelaufzeichnungen und dem Roman als Totalität (a), und nach dem Zwiespalt zwischen intendierter Unmittelbarkeit und sprachlicher Vermittlung (b) kreist.

  1. Zeitlichkeit; Fragment und Totalität

    Kahl entwickelt das Zeitkonzept im Malte anhand überzeugender Interpretationen mehrerer Einzelaufzeichnungen. Auch hier arbeitet er einen engen Zusammenhang räumlicher und zeitlicher Elemente heraus: Zeitliche Entwicklungen werden im Roman simultan dargestellt, indem sie in räumliche Zustände verwandelt werden – zum Beispiel die "gelebte Zeit", die sich im Körper des Grafen Brahe oder des Kammerherrn angesammelt hat und dort nun sozusagen räumlich vereinheitlicht vorliegt; oder die Wege Maltes durch Paris, die eine räumlich-geometrische Bewegung nachzeichnen und sich in Maltes Inneren als Stationen gelebten Lebens simultan versammeln.

    Diese Zeitauffassung führt Kahl auf Zeitkonzepte der Lebensphilosophie zurück – beispielsweise bei Bergson, der gegen die fliehende Zeit der mechanischen Zeitmessung, des Chronometers, das Totalitätserlebnis der durée setzt, in der alle Zeitebenen im Bewußtsein des Subjekts gleichermaßen präsent sind.

    Dieses Zeiterleben findet im Malte eine angemessene Ausdrucksform, indem der Text sich sowohl räumlich in die Breite ausdehnt wie zeitlich in die Tiefe. Schließlich bestimmt es nach Kahl sogar die Makrostruktur des Romans, indem die Einzelaufzeichnungen zwar in sich abgeschlossen und >ganz< sind, in ihrer Abfolge jedoch ein immergleiches Muster wiederholen, den Zeitverlauf also quasi aufheben.

  2. Poetik des Körpers und ästhetische Vermittlung

    Kahls Interpretation des Gesamtzusammenhangs des Romans als Reihe gleichgearteter "Mikro-Modelle" (S. 210) steht im Widerspruch zu Deutungen, die in der Abfolge der Aufzeichnungen eine Entwicklungslinie sehen und auch inhaltlich deutlich verschiedene Phasen unterscheiden; sie ignoriert zudem die Darstellung der Thematik des Erzählens selbst. Hier rächt sich einmal mehr die Aussparung der produktionsästhetischen Komponenten im ästhetischen Modell, zumal wenn sie mit der >Ungeschichtlichkeit< des streng lebensphilosophischen Lebensbegriffs verbunden wird.

    Damit soll einzelnen Ergebnissen von Kahls Interpretation nicht unbedingt widersprochen werden; sicherlich ist die Verbindung von räumlichen und zeitlichem Erzählen und das allmähliche Herstellen von Simultaneität im Bewußtsein der erzählenden Figuren ein wichtiger Aspekt der Poetik des Romans. Kahl privilegiert jedoch recht einseitig die Ebene der unmittelbaren Wirklichkeitserfahrung und -darstellung.

    Das zeigt sich auch in seiner Darstellung der zentraler Motive des Romans. Hier versucht Kahl, eine Poetik des Körpers zu rekonstruieren, in der dessen Materialität und diejenige der Sprache unvermittelt zusammenfallen: Das Gehen kann so beispielsweise zum Schreiben werden und umgekehrt; im Körper Maltes werden seine Eindrücke "Blut", "Blick" und "Gebärde". Der Roman erreicht auf diese Weise dasselbe, was das Gedicht durch seine metonymische Metaphorik verwirklicht: das Ineinsfallen von (räumlicher/körperlicher) Wirklichkeit und sprachlicher Darstellung.

    Kahl gibt abschließend jedoch selbst zu, daß diese Form der Poetik nur eine Schicht der Darstellung umfaßt:

    Die Reflexionen über die Motive Wand, Maske und Gesicht bilden einen Gegenpol vor allem zur Poetik des Körpers, in der sich die Kunst widerstandslos ins Leben aufzulösen scheint. Sie sollten als Warnung davor dienen, das Ideal des unmittelbaren Schreibens, das im Malte gewiß eine wichtige Rolle spielt, auf Kosten des Moments ästhetischer Vermittlung absolut zu setzen (S. 234).

    Wie beide Modelle zusammengehören könnten, bleibt allerdings außerhalb der Darstellung.

Resümee

Kahls Studie überzeugt insgesamt durch die Stringenz und Klarheit der Argumentation, das theoretische Niveau der ästhetischen Reflexion und die überzeugenden Einzelanalysen. Wesentliche Züge von Rilkes Poetik der "mittleren Phase" werden entweder erstmals hervorgehoben oder neu akzentuiert.

Nicht an allen Stellen ist hingegen der Bezug auf die Lebensphilosophie überzeugend dargestellt; deutlicher sollte auch herausgearbeitet werden, inwiefern sich Rilke im Laufe des dargestellten Zeitraums von deren Konzepten entfernt bzw. diese variiert.

Schließlich erscheint der Bezug auf den Lebensbegriff allein als Strukturmodell zu einschränkend; Kahl verschenkt durch die Konzentration auf dessen genuin ästhetische Komponenten einige sinnvolle Anknüpfungspunkte bezüglich der Produktion und Rezeption von Texten wie auch der Art ihrer Gegenstände.

Die Studie bietet schließlich ein recht vollständiges Literaturverzeichnis zu den behandelten Texten; demgegenüber erscheint die Reflexion auf den Forschungsstand im Text selbst eher schwach ausgeprägt und wird zudem in überlange Fußnoten verdrängt.


Dr. Jutta Heinz
Lauwiesenweg 13
D-73266 Bissingen

Ins Netz gestellt am 02.05.2001

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Anmerkungen

1 Also nicht etwa den dritten Teil des Stunden-Buchs oder die neuen Texte für den zweiten Teil des Buch der Bilder, die ja auch in diese Phase fallen würden.   zurück

2 Eine Ausnahme bildet die kurze Erwähnung des Briefwechsels mit Lou Andreas-Salomé im Kontext des Konflikts von Leben und Kunst (S. 19) sowie im Kontext der Reflexion über das Handwerk des Dichters (S. 65f.).   zurück

3 Diesen Terminus stellt Kahl als zentrale Kategorie der Analyse von Gesellschaft und Lebenswelt der Jahrhundertwende dar; er bildet den dissoziierenden Gegenpol zu den Einheitsbestrebungen der Lebensphilosophie.   zurück

4 Dieser Aspekt wird kurz gestreift – bezeichnenderweise im Kontext eines der seltenen biographischen Exkurse (vgl. S. 65-68).   zurück

5 Kahl geht im Zusammenhang der Diskussion des Fragmentcharakters von Rodins Plastik nur kurz auf diese Problematik ein (vgl. S. 81f.).   zurück

6 Seine Interpretation des Panther hebt vor allem auf das besondere Problem ab, das sich hier durch die Betonung des Gegenstandsbezugs ergibt. So unterscheidet Kahl zwei Arten von Bewegung im Text, die sich jedoch konträr zueinander verhalten: Während die äußere Bewegung des Panthers sich kreisförmig vollzieht, bricht die innere Bewegung des Bildes im Herzen abrupt ab. Die natürlich nicht mehr gegebene Verbindung der inneren und der äußeren Bewegung stellt statt dessen die poetische Sprache durch eine Vermittlungsleistung wieder her: Auf der Ebene der Darstellung kulminieren beide Bewegungen am Schluß und stellen dadurch Einheit her, wo auf der Ebene des Gegenstandes die Dissoziation erhalten bleibt: "Der Abbruch der inneren Bewegung, der >Tod< des Bildes im Herzen des Panthers, bildet auf der Ebene des Gegenstands die eigentliche Katastrophe des Geschehens, vollendet andererseits aber die Harmonie des Gedichts: Erst indem die Bewegung zum Stillstand kommt, wird die Analogie zur unterbrochenen Bewegung des Panthers perfekt" (S. 97). Hier greift das magische Vermittlungsmuster >Leben< offensichtlich nicht; es wäre zu fragen, ob nicht vielleicht die unvermittelte Differenzerfahrung doch eher ein Ziel der Darstellung wäre.    zurück

7 Kahl demonstriert das am Beispiel des Gedichts Pieta (vgl. S. 115-118).   zurück

8 Vgl. S. 119; im übrigen würde sich hier – gerade als Analogie zur Rodinschen Gebärde, die Kahl zitiert – der Rilkesche Terminus der >Figur< anbieten.   zurück

9 Kahl demonstriert dieses Verfahren sehr anschaulich am Beispiel des Gedichts Die Kurtisane: Dort dient die Stadt Venedig der Kurtisane als Material zu ihrer Selbstbeschreibung; diese Bildlichkeit hat aber ihren realen Hintergrund in der tatsächlichen räumlichen Beziehung beider, da die Stadt Venedig die Lebenswelt der Kurtisane bildet (vgl. S. 119-123).    zurück