Heinz über Hollmeiner: Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts

IASLonline


Andrea Heinz

Rebellionen, Ehebrüche,
Vergewaltigungen und vieles mehr.
Deutschsprachige Dramen des 18. Jahrhunderts

  • Heide Hollmer / Albert Meier (Hg.) (unter Mitarbeit von Lars Korten und Thorsten Kruse): Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts. München: C. H. Beck 2001. Geb. 351 Seiten. € 34,90.
    ISBN 3-406-47451-9.

Inhalt

Auswahl der Dramen | Aufbau | Ausführung der Artikel | Verbesserungsvorschläge für die zweite Auflage | Fazit



Mit ihrem Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts haben Heide Hollmer und Albert Meier ein unentbehrliches Nachschlagewerk geschaffen, das interessierte Laien, Studenten wie auch Wissenschaftler gleichermaßen befriedigen kann, denn selbst auf das 18. Jahrhundert spezialisierte Germanisten dürften nur einen Teil der hier vorgestellten 249 Dramen von 112 Dramatikern kennen. Entgegen der Erwartung, die man nach dem allgemein gehaltenen Titel Dramenlexikon haben könnte, sind in dem Werk allerdings nur deutschsprachige Stücke berücksichtigt. Des weiteren sind die zahlreichen gedruckten und häufig gespielten Übersetzungen und Bearbeitungen ebenso wie Singspiele aus Gründen der Begrenzung auf einen Band nicht aufgenommen worden, so daß das Lexikon nur einen Ausschnitt 1 der in Deutschland im 18. Jahrhundert präsenten dramatischen Literatur bietet. Doch auch dieser Ausschnitt birgt eine Vielfalt, die das Wissen über die Dramatik jenseits der bekannten Autoren wesentlich bereichern kann. Nun ist ein Lexikon zwar bekanntermaßen als Nachschlagewerk konzipiert, doch es kann durchaus empfohlen werden, das Lexikon als Buch zu lesen und dabei die faszinierende Vielfalt der Sujets und den Einfallsreichtum der Autoren im 18. Jahrhundert zu entdecken.

Die Herausgeber des Dramenlexikons legen in einem zweiseitigen Vorwort kurz ihre Intentionen und ihr Vorgehen bei der Erarbeitung des Lexikons dar. Diese Selbstaussagen sollen im folgenden mit der Realisierung kontrastiert werden. Dabei erscheinen drei Punkte von entscheidender Bedeutung für die Qualität des Lexikons:

  • Auswahl der Dramen

  • Aufbau der Artikel

  • Ausführung der Artikel

Auswahl der Dramen

Die Herausgeber betonen in ihrem Vorwort einschränkend, daß es bei der Auswahl "nicht in jedem Einzelfall gerecht zugehen kann" (S. 6). Es ist selbstverständlich, daß jeder Verantwortliche auf Grund seiner individuellen Kenntnisse und Vorlieben unterschiedlich auswählen würde, im folgenden sei daher die Auswahl von Hollmer und Meier anhand der im Vorwort dargelegten Kriterien analysiert und kritisiert.

Vorrangiges Kriterium der Auswahl ist die Repräsentativität des Werkes: entweder des zeitgenössischen Erfolgs wegen oder als Beleg für ein seinerzeit beliebtes Genre bzw. ein originelles Formexperiment. (S. 5f.)

Mit dieser Aussage definieren die Herausgeber als erstes ein rezeptionsgeschichtlich orientiertes Vorgehen, das sich am meßbaren Erfolg eines Werkes auf der Bühne oder an hohen Auflagen orientiert. An zweiter Stelle werden solche Texte genannt, "die für die Entwicklung im 18. Jahrhundert aussagekräftig sind" (S. 6). Angesichts dieses Konzepts überrascht es dann doch, daß der germanistische Kanon (fast) vollständig aufgenommen wird, obwohl viele dieser Stücke gerade nicht repräsentativ sind und nachweislich keinen Erfolg hatten. Die Dramatiker, von denen die meisten Stücke vorgestellt werden, sind ausschließlich die kanonisierten: Goethe, Lessing, J. E. Schlegel, Klinger, Weisse, Ayrenhoff, L. Gottsched, Klopstock, Lenz, Schiller. Die erfolgreichsten Dramatiker der Jahrhundertwende, Kotzebue und Iffland, sind zwar auch vertreten, allerdings mit deutlich weniger Stücken.

Letztendlich stellt sich daher die Frage, warum man bei den meisten bekannten Autoren Vollständigkeit anzustreben scheint: Die beiden Stücke von Lenz, "Pandaemonium germanicum" und "Der verwundete Bräutigam", und Schillers dramatischer Scherz "Ich habe mich rasieren lassen", die erst im 19. Jahrhundert aus dem Nachlaß herausgegeben wurden, sind m. E. doch relativ unwichtig für die Dramenlandschaft des 18. Jahrhunderts. Bei Goethe wurde dagegen verhältnismäßig rigoros ausgewählt, wobei die Kriterien nicht ganz nachvollziehbar sind. Zum einen wurden — entsprechend den allgemeinen Prinzipien — die Singspiele ausgelassen, zum anderen sind die Frühwerke ("Die Laune des Verliebten", "Die Mitschuldigen"), aber auch einige Stücke der Weimarer Zeit ("Die Geschwister", "Der Triumph der Empfindsamkeit") nicht berücksichtigt worden. Der Ausschluß des Dramas "Die Geschwister", eines der wenigen Dramen Goethes, das auch auf der Bühne im 18. Jahrhundert erfolgreich war, ist nicht nachvollziehbar, insbesondere wenn man gleichzeitig Schillers "Ich habe mich rasieren lassen" oder Goethes Fragment "Elpenor" einen Artikel widmet.

Mir scheint es sinnvoll, die im Vorwort benannten Kriterien umzuformulieren und von theatergeschichtlich und / oder literaturwissenschaftlich relevanten Dramen zu sprechen. Goethes "Die Geschwister" hätte aus beiden Gründen einen Eintrag verdient. Johann Karl Wezel hätte ebenfalls aus beiden Gründen Erwähnung finden müssen, aber leider wird von Wezel kein einziges Stück erwähnt.

Bühnenerfolge

In theatergeschichtlicher Hinsicht erscheint das Dramenlexikon manchmal lückenhaft, wenn man das im Vorwort erwähnte Kriterium des Erfolgs zu Grunde legt. Mehrere herausragende Erfolgsstücke auf deutschen Bühnen werden nicht berücksichtigt:

"Der Jurist und der Bauer" von Rautenstrauch;

"Der dankbare Sohn" und "Der Edelknabe" von Engel;

"Olivie" von Brandes;

"Die Hagestolzen" und andere Stücke von Iffland;

"Die beiden Klingsberg" und andere Stücke von Kotzebue;

"Die Entführung" oder andere Stücke von Jünger;

"Liebhaber und Nebenbuhler in einer Person" und andere Stücke von Ziegler;

"Herzog Michel" von Krüger;

"Das Mädchen von Marienburg" von Kratter;

"Die Strelitzen" von Babo;

"Die beiden Billets" von Wall (Goethes "Bürgergeneral", eine erfolglose Fortsetzung dieses Erfolgsstücks, erhält dagegen einen Artikel, in dem ausdrücklich auf Walls Lustspiel verwiesen wird, das man dadurch um so schmerzlicher vermißt).

Gottscheds "Deutsche Schaubühne" und Trauerspiele

Es zeigt sich bei einer genauen Analyse, daß die Auswahl doch sehr von den in Bibliotheken vorhandenen Ausgaben abhängt — und damit sehr von Werkausgaben bekannter Autoren oder Sammelwerken wie Gottscheds "Deutsche Schaubühne". Insbesondere die Originalwerke aus der "Deutschen Schaubühne" wurden für das Dramenlexikon fast vollständig übernommen. Damit übernimmt man das von Gottsched ausgewählte und propagierte Dramenideal und verfälscht die Dramengeschichtsschreibung im Sinne Gottscheds. Wenn man die aufgenommenen Dramen nach Erscheinungszeiträumen betrachtet, wird deutlich, daß die Herausgeber die meisten Dramen aus den 40er, 70er und 80er Jahren ausgewählt haben. Die 40er Jahre sind überrepräsentiert, weil in ihnen die "Deutsche Schaubühne" erschien, die Jahrzehnte davor sind dagegen im Dramenlexikon fast gar nicht vertreten.

Daneben scheint es noch einen ähnlichen Filter oder ein unbenanntes, vielleicht unbewußtes Auswahlkriterium zu geben, denn bei den ausgewählten Dramen überwiegen ganz deutlich die Trauerspiele. Im Dramenlexikon liegt insgesamt eine unterschwellige Aufwertung des Trauerspiels gegenüber dem Lustspiel vor, da dieses Mißverhältnis der beiden Gattungen weder dem Aufführungsverhältnis noch der Dramenproduktion im 18. Jahrhundert entspricht. Symptomatisch ist auch, daß beispielsweise die einzigen Dramen, die aus dem vierten, fünften und sechsten Teil der "Deutschen Schaubühne" nicht in das Dramenlexikon übernommen werden, zwei Lustspiele und ein Schäferspiel sind. Letztere sind im Dramenlexikon noch deutlicher unterrepräsentiert als Lustspiele, insgesamt sind mir nur drei Schäferspiele aufgefallen. Bezeichnend auch hier, daß nur die Schäferspiele anerkannter Autoren Aufnahme fanden: "Sylvia" von Gellert, "Atalanta" von Gottsched und "Der Schatz" von Pfeffel.

Protestantischer Norden versus katholischer Süden

Eine weitere Diskrepanz zwischen Dramenproduktion im 18. Jahrhundert und Repräsentation im Dramenlexikon ergibt sich aus einem Mißverhältnis in der bisherigen Dramengeschichtsschreibung, das die Herausgeber im Vorwort sogar selbst thematisieren:

das besonders reiche Bühnenleben des katholischen Südens wird von den namhaften Werken protestantischer Orientierung in den Schatten gestellt; was tatsächlich gespielt wurde, hat wenig mit dem zu tun, was im literaturgeschichtlichen Rückblick heute als entscheidend gilt. (S. 5)

Erstaunlicherweise setzen die Herausgeber dann aber — nicht nur unter Einfluß von Gottscheds "Schaubühne" — diese protestantisch dominierte Literaturgeschichtsschreibung teilweise fort. Dabei sind viele Dramen des spielfreudigen katholischen Südens durchaus im Druck überliefert, so daß man diese leicht hätte berücksichtigen können: Stephanie d. J., als überaus erfolgreicher und produktiver Wiener Autor, ist nur mit einem einzigen Stück im Dramenlexikon vertreten. Rautenstrauchs Dauererfolg, das Lustspiel "Der Jurist und der Bauer", hätte zumindest aus seinem kleinen Oeuvre erwähnt werden sollen. Jünger, ein fleißiger und erfolgreicher Theaterdichter am Wiener Hoftheater, findet ebenfalls keine Berücksichtigung.

Aufbau

Das Werklexikon ist alphabetisch nach Autoren geordnet. Bei mehreren Titeln eines Autors sind diese wiederum alphabetisch angeordnet. Die Informationen pro Drama nehmen einen Raum von 1 bis 2½ Seiten ein. Die Einträge lassen eine — wenn auch nicht immer streng durchgeführte — Gliederung erkennen, die sich an bekannten Gliederungen anderer Werklexika (wie beispielsweise dem Standardwerk "Kindlers Neues Literaturlexikon") orientiert:

  1. Bibliographische Daten des zugrundeliegenden Drucks (meist Titel, Untertitel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr), Uraufführungsdatum (soweit bekannt);

  2. Einführende Bemerkungen und Informationen zu: Entstehung, Quellen, Vorbilder, Sujet, Gattung, Aktzahl, Vers oder Prosa;

  3. Inhaltsangabe;

  4. Deutung;

  5. Literaturhinweise (bis zu drei Titel).

Ausführung der Artikel

Der Aufbau der einzelnen Einträge ist gut durchdacht und berücksichtigt alle notwendigen Informationen, die man von einem kurzen Lexikonartikel erwarten kann. Die Inhaltsangabe nimmt in der Regel den meisten Platz ein, teilweise fließt auch schon die Deutung mit in die Inhaltsangabe ein. Die Interpretationen geben meist allgemein akzeptierte Forschungsmeinungen wieder und beschränken sich auf die Hauptaspekte des Dramas. Gelegentlich werden auch konträre Ansichten der Forschungen gegenübergestellt. Die möglichst neutrale Wiedergabe der Forschungsmeinungen auf aktuellem Niveau (die Literaturangaben reichen erfreulicherweise bis ins Jahr 2000) ist besonders positiv hervorzuheben.

Dabei wird keine Forschungsrichtung oder Methode unzulässig favorisiert.

Die Kunst, auf engstem Raum den Inhalt eines Dramas verständlich wiederzugeben und gleichzeitig die Besonderheiten herauszuarbeiten, wird von fast allen Beiträgern beherrscht. Die meisten Artikel sind informativ, plausibel und gut verständlich geschrieben. Die formale Analyse konzentriert sich vor allem auf Angaben zu Aktzahl, Prosa oder Vers und den aristotelischen Einheiten. Nähere Angaben zu Stil und Sprache findet der interessierte Leser hingegen sehr selten. Eine der wenigen Ausnahme ist der Artikel von Helga Brandes, in dem sie die ">natürliche Schreibart< mit umgangssprachlichen Elementen (lebhaften Wechselreden, Ausrufen, Ellipsen, Kraftausdrücken u.ä.)" hervorhebt. Wer nun denkt, es handele sich um die Beschreibung eines Sturm-und-Drang Dramas, der irrt, denn die Rede ist von "Die Pietisterey im Fischbein-Rocke" von Luise Gottsched, der man die Kraftausdrücke vielleicht gar nicht zugetraut hätte.

Insgesamt zeigt das Dramenlexikon, wie wenig dramenanalytische Beschreibungssprache im Sprachgebrauch verankert ist, denn über die gelegentliche Benutzung des Wortes "Vorgeschichte" geht sie kaum hinaus. Heutige Einordnungskriterien scheinen noch größtenteils denen des 18. Jahrhunderts zu entsprechen, denn die Beachtung der Einheiten und die Einordnung als regelmäßiges oder unregelmäßiges Drama stehen bei fast allen Artikeln im Vordergrund. Der Sinn dieser Informationen soll nicht generell bestritten werden, aber ihre Relevanz sollte doch angesichts der historischen Dramenentwicklung heute nicht mehr so hoch eingestuft werden wie im 18. Jahrhundert. Aufschlußreicher als die pauschale Auskunft, ob die Einheiten beachtet werden oder nicht, erscheint mir eine kurze Darstellung, auf welche Art und Weise Handlung, Ort und Zeit gestaltet werden und der Bedeutungsstiftung im jeweiligen Drama dienen.

An dem Beispiel der "Einheiten" soll im folgenden auch mit der Kritik an einzelnen Artikeln begonnen werden, wobei ich angesichts des insgesamt positiven Gesamteindrucks des Lexikons lieber optimistisch von Verbesserungsvorschlägen für die zweite Auflage sprechen möchte.

Verbesserungsvorschläge für die zweite Auflage

Einheit von Handlung, Zeit, Ort oder Raum?

Die Be- oder Nichtachtung der Einheiten wird bei fast allen Dramen erwähnt. Während gelegentlich nur von den "Einheiten", meistens von den "aristotelischen Einheiten" die Rede ist, gibt es auch die Variante "klassizistische Einheiten" (S. 235). Letzteres verführt den Leser zu unnötigem Rätselraten: Unterscheiden sich die "klassizistischen" von den "aristotelischen"? Soll hier betont werden, daß die sogenannten "aristotelischen" Einheiten eigentlich gar nicht bei Aristoteles stehen, sondern erst später — insbesondere von den französischen Klassizisten — aufgestellt bzw. beachtet wurden?

Ähnliche Unsicherheiten ergeben sich durch den uneinheitlichen Sprachgebrauch, wenn die Einheiten einzeln benannt werden, denn meistens ist zwar von der Einheit des Orts die Rede, aber manchmal auch von der Einheit des Raums (z. B. S. 184). Soll hier nur etwas Abwechslung in den Stil gebracht werden? Ist der im 18. Jahrhundert gebräuchliche Begriff "Ort" durch den neueren Begriff "Raum" zu ersetzen? Bezeichnet vielleicht "Raum" einen größeren Bereich als "Ort" oder umgekehrt? Wer diese Ausführungen für abwegige Spekulationen hält, der wird im Dramenlexikon schließlich wirklich mit einer solchen unverständlichen Differenzierung konfrontiert: Sodens "Ignez de Castro" wird dort als "fünfaktige Prosatragödie, die die Einheit von Zeit und Raum, nicht aber die des Ortes wahrt" (S. 288) vorgestellt. Um solche Irritationen zu vermeiden, sollte von den Herausgebern auf einen einheitlichen Gebrauch dramenanalytischer Terminologie der verschiedenen Beiträger geachtet werden.

Wer ist regelmäßiger?
"Dom Karlos" oder "Nathan der Weise"?

Manchmal werden nicht ausdrücklich die drei Einheiten erwähnt, sondern es folgt die Einordnung eines Dramas als regelmäßig oder unregelmäßig. Unklar ist dabei gelegentlich, ob diese Einstufung allein auf die Beachtung der Einheiten oder auch auf andere Kriterien wie Gattungskonventionen, Stilhöhe o.ä. zurückzuführen ist. Die Dichotomie regelmäßig-unregelmäßig ist allerdings ähnlich wie die — im Lexikon sehr selten gebrauchte — Dichotomie geschlossene-offene Form problematisch, da die beiden Extreme selten in reiner Ausprägung vorhanden sind. Statt dessen liegen die meisten Dramen auf verschiedenen Stufen einer breiten Skala.

Die Einordnung von Dramen als regelmäßig oder unregelmäßig scheint darüber hinaus im Dramenlexikon je nach Bearbeiter sehr unterschiedlich vorgenommen zu werden. Als vergleichbares Beispielpaar erscheinen mir die beiden dramatischen Gedichte "Dom Karlos" von Schiller und "Nathan der Weise" von Lessing geeignet: Claudia Stockinger bezeichnet "Nathan" als "(gemessen an klassizistischen Vorgaben) unregelmäßig", während Lesley Sharpe "Dom Karlos" als "regelmäßiges Blankversdrama" einstuft. Nun ist aber nicht ganz einleuchtend, wieso "Dom Karlos" regelmäßig sein soll, der z. B. diverse Ortswechsel nicht nur innerhalb des Palastes in Madrid hat, sondern auch anfangs in Aranjuez und später in einem Kloster spielt, wodurch zwangsläufig auch die Einheit der Zeit verletzt ist, während "Nathan", der ausschließlich in Jerusalem spielt, unregelmäßig sein soll. Die — von Stockinger angeführte — sehr zurückhaltende Integration von komischen Elementen im "Nathan" kann m. E. nicht dafür ausschlaggebend sein. Ich denke, daß für beide Dramen eine Feinabstufung und eine Unterscheidung, in welchen Punkten sie regelmäßig sind und in welchen nicht, sinnvoller wäre.

"Emilia Galotti" — ein Drama der offenen Form?

Eine ähnliche Irritation wie die Einstufung "Nathans" als "unregelmäßig" ruft die folgende Beurteilung "Emilia Galottis" hervor:

In dramaturgischer Hinsicht weist Lessings letztes Trauerspiel eine deutliche Tendenz zur offenen Form auf, wie sie in den Tragödien des Sturm und Drang realisiert werden sollte: Die Szenenabfolge verzichtet ansatzweise auf strikte Kausalität, da Episoden wie die um den Maler Conti an anderer Stelle plaziert sein oder fehlen könnten. (S. 197)

Es ist in gewisser Weise verständlich, daß für Albert Meier, der ein ausgewiesener Kenner Gottscheds und der "Dramaturgie der Bewunderung" ist (so der Titel seiner 1993 publizierten Monographie, die im Dramenlexikon sehr oft — u.a. auch bei "Emilia Galotti" — als Referenztext angeführt wird), besonders die Freiheiten, die sich Lessing im Vergleich zu Gottsched erlaubt, auffällig sind. Im Vergleich zu anderen Dramen, die gleichzeitig oder später entstanden, und angesichts der von Volker Klotz definierten Merkmale der offenen Form halte ich es aber für nicht haltbar, "Emilia Galotti" eine "deutliche" Tendenz zur offenen Form zuzuschreiben.

Der von Meier konstatierte Verzicht auf Kausalität widerspricht der allgemeinen Einschätzung seit über 200 Jahren. Gerade die durchdachte, kausal motivierte Konstruktion wurde von Bewunderern wie Gegnern des Dramas immer wieder hervorgehoben, an dieser Stelle sei nur an Friedrich Schlegels bekannte Charakterisierung "Emilia Galottis" als "großes Exempel der dramatischen Algebra" erinnert. Der genannte Beleg (die mögliche Umstellung oder Auslassung der Szene mit Maler Conti) scheint mir die gewagte These nicht überzeugend zu belegen. In den Szenen mit Maler Conti (I.2, I.4) werden dem Prinzen zwei Porträts präsentiert: das Bild seiner ehemaligen Geliebten Orsina und dasjenige Emilias. Der Prinz schildert bei der Betrachtung seine vergangene Liebe zu Orsina und seine neue Liebe zu Emilia, dabei charakterisiert er die beiden unterschiedlichen Frauen. Orsina werden die Eigenschaften "Stolz", "Hohn" und "Schwärmerei" (I.4) attribuiert, Emilia dagegen wird als fromme Tochter geschildert. Lessing nutzt hier die Exposition um die beiden Frauen bildlich und wörtlich gegenüberzustellen. Er favorisiert hier — wie beispielsweise auch in "Miss Sara Sampson" — die explizite, narrative Form durch andere Figuren als Verfahren der Personendarstellung.

Diese Szenen sind unverzichtbarer, ja sogar Hauptbestandteil der kunstvollen Exposition und können keinesfalls eliminiert werden, da der Leser sonst weder über die beiden weiblichen Hauptfiguren, noch über die Liebe des Prinzen und den bereits angedeuteten Konflikt zwischen Prinz und Odoardo ausreichend informiert wäre. Da diese beiden Szenen wesentlicher Bestandteil der Exposition sind und im ersten Akt, im Kabinett des Prinzen spielen müssen, wäre nur noch eine Umstellung innerhalb dieses Aktes zu erwägen. Das Porträt Emilias spielt aber in der folgenden Szene mit Marinelli (I.6) bereits als Requisit eine wichtige Rolle, die leichtfertige Unterschreibung des Todesurteils (I.8) muß zwangsläufig am Schluß des Aktes stehen, da nur das zuvorliegende Geständnis der Liebe zu Emilia, die Nachricht von ihrer baldigen Heirat die Eile des Prinzen im Umgang mit dem Todesurteil motiviert.

Ich sehe in diesem ersten Akt eine durchgängige Kausalität und Verknüpfung der Szenen vorliegen: Die Exposition der weiblichen Charaktere ist unverzichtbar und muß vor dem erregenden Moment, der Nachricht von der Heirat, liegen. Es erscheint mir sehr problematisch, in einem kurzen Lexikonartikel eine solche nicht allgemein akzeptierte These von der offenen Form und der möglichen Szenenumstellung als erwiesene Erkenntnis darzustellen, und insbesondere bei einem so bekannten Drama wie "Emilia Galotti" muß dies fast jeden Leser zum Widerspruch reizen.

Chronologie im Drama

Claudia Stockinger beginnt ihre Beschreibung von "Miß Sara Sampson" folgendermaßen:

Alles scheint sich zu Beginn der Handlung glücklich zu wenden: Sir William Sampson bietet seiner Tochter [...] die Hand zur Versöhnung, weil er ihr Verhalten als >Fehler eines zärtlichen Mädchen< billigen gelernt hat. Obwohl Sara ihrer Schuldgefühle wegen zunächst nicht fähig ist, das Verzeihen des Vaters anzunehmen, scheint dem guten Ende nichts mehr im Wege zu stehen, als überraschend Mellefonts ehemalige Geliebte Marwood auftritt. (S. 206)

Die Schilderung, die Stockinger von dem Beginn des Dramas gibt, entspricht aber nicht der Situation des 1. Aktes, sondern dem 3. Akt. Zwar tritt Sir William zu Beginn des Stücks auf und signalisiert im Gespräch mit seinem Diener seine Versöhnungsbereitschaft, aber er bietet nun gerade nicht die "Hand", er geht nicht sofort persönlich zu seiner Tochter, sondern schickt erst einige Zeit später seinen Diener mit einem Brief zu ihr. Die Briefübergabe und die anfängliche Weigerung Saras, die Versöhnung anzunehmen, erfolgen erst in der Mitte des Stücks (III.3). Inzwischen ist bereits Marwood eingetroffen, ihr Brief wird Mellefont bereits gegen Ende des ersten Aktes überreicht.

Diese Chronologie, die Stockinger auf den Kopf stellt, und der zeitliche Verzug der Begegnung Vater-Tochter sind aber entscheidend für die Entwicklung des Trauerspiels und den tragischen Ausgang. Die persönliche Kommunikation wird vermieden, die Versöhnung wird herausgezögert, so daß Marwood Zeit für ihre Intrigen, die schließlich in den Mord Saras münden, bekommt. Sir William macht sich am Schluß selbst Vorwürfe, daß er gezaudert habe und nicht sogleich zu Sara geeilt sei (vgl. V.9). Stockinger erzählt den Vorgang so, daß ein des Dramas Unkundiger denken muß, die Begegnung zwischen Vater und Tochter sei gleich zu Beginn des Stücks und nicht erst im letzten Akt erfolgt. Diese scheinbar kleine Ungenauigkeit in der Chronologie zerstört aber die ganze Konstruktion des Dramas und macht den tragischen Ausgang unplausibel.

Die bisher erwähnten Beispiele bewegen sich durchaus noch im Rahmen einer gewissen Interpretationsfreiheit oder können als mißverständliche Formulierungen gedeutet werden. Eindeutige Fehler sind selten im Dramenlexikon zu finden, was für die Solidität der Beiträge im allgemeinen spricht.

Kleine Fehler

Eine definitiv fehlerhafte Inhaltsangabe ist mir nur bei "Herr Witzling" von Luise Gottsched aufgefallen. Das Drama endet mit dem bekannten Lustspielmotiv der vertauschten Briefe, wobei es in diesem Fall sogar drei Briefe sind, die an falsche Adressaten gelangen. Oliver Jahn gibt diesen Sachverhalt folgendermaßen wieder: "Lottchen erhält den ihrem Vater zugedachten Heuchelbrief, der junge Reinhart entfaltet die Lottchen zugedachten Liebesgedichte, und Witzlings Vater wird ein zweifelhaftes Schäferspiel vorfinden" (S. 108). Nun hat aber Lottchen gar keinen Vater mehr, der Heuchelbrief war vielmehr für Witzlings Vater bestimmt.

Uraufführungsdaten

Das Dramenlexikon gibt dankenswerterweise — soweit bekannt — für jedes Stück das Datum der Uraufführung an. Dabei zeigt sich, daß viele Stücke (und nicht nur diejenigen der Trivial- oder Theaterdichter) schon vor dem Druck oder fast zeitgleich uraufgeführt wurden. Dem Germanisten wird somit die oft verdrängte Einsicht vor Augen geführt, daß die überwiegende Zahl der Dramen für die Aufführung und nicht zum Lesen konzipiert und geschrieben wurde.

Bei etlichen Dramen fehlt die Angabe zum Datum der Uraufführung. Zwei Erklärungen, die m. E. auch nebeneinander bestehen können, bieten sich an: Zum einen haben die Herausgeber offensichtlich sehr viele Stücke ausgewählt, die nie das Licht der Bühne erblickt haben, zum anderen ist es eine schwierige, mühselige und manchmal unmögliche Aufgabe, alle Uraufführungsdaten zu eruieren. Bei ermittelten Aufführungsdaten, bei denen sich die Herausgeber nicht sicher waren, ob es sich um die Uraufführung handelt, wird das Datum mit einem Fragezeichen versehen. Dieses Verfahren stellt einen guten Kompromiß dar.

Insgesamt ergibt sich aber leider der Eindruck, daß sich die Beiträger oder Herausgeber nicht allzu viele Mühe gegeben haben, die Uraufführungsdaten zu ermitteln. Eine exzessive Suche in alten Repertoireverzeichnissen und Theaterkalendern 2 nur um Uraufführungsdaten zu recherchieren, wäre sicherlich in diesem Zusammenhang zu viel erwartet. Aber daß noch nicht einmal die neuen und allgemein zugänglichen Spielplanverzeichnisse 3 der bekanntesten und besterforschten Theater wie das Burgtheater in Wien oder das Hoftheater in Weimar unter Goethes Leitung konsultiert wurden, ist als Versäumnis anzukreiden.

Hiermit hätte die fehlende Uraufführung von Schröders "Der Vetter in Lissabon" durch die erste Wiener Aufführung vom 02.10.1784 ersetzt werden, die falsche Angabe bei Schröders "Der Ring" von "1786 (?)" (S. 283) auf 04.10.1783 korrigiert werden können. Andere Angaben wären zu präzisieren: "Marie Stuart" von Spiess wurde am 12.04.1784, "Abällino" von Zschokke am 25.05.1795 uraufgeführt. Das angegebene Uraufführungsdatum (27.10.) von Gotters "Merope" — anläßlich des Geburtstages der Herzogin Anna Amalia — muß jedem, der das Geburtstagsdatum Anna Amalias (24.10.) oder andere Quellen 4 kennt, suspekt vorkommen. Da der Geburtstag im Jahr 1773 auf einen spielfreien Tag fiel, fand die Uraufführung am 25.10.1773 statt.

Den auffälligsten Fehler findet man allerdings bei dem angegebenen Uraufführungsdatum von "Egmont". Als Uraufführung wird die Weimarer Aufführung vom 31.03.1791 genannt. Davor liegen aber bereits Aufführungen an anderen Orten, die Uraufführung war am 09.01.1789 in Mainz — eine Tatsache, die man in jeder Goethe-Ausgabe nachlesen kann, so daß der Fehler bei so einem bekannten und gut erforschten Werk um so mehr verwundert. Eine weitere Aussage zu "Egmont" ist zumindest sehr mißverständlich, wenn nicht sogar falsch gemeint. Olaf Schwarz berichtet einführend: "Schillers massive Kritik (1788) ging in die Umarbeitung von 1796 ein" (S. 78). Beide Einzelaussagen — Umarbeitung von 1796 und Eingang von Schillers Kritik — sind richtig; allerdings muß jeder, der den Sachverhalt nicht kennt, aus der Formulierung schließen, daß Schillers Kritik in Goethes Umarbeitung einging. Dabei handelt es sich 1796 selbstverständlich um Schillers Bühnenbearbeitung des "Egmont", die er auf Wunsch Goethes für das Weimarer Hoftheater anfertigte.

Anonyme Stücke und Blankversdramen

Als letztes sollen noch zwei kleine Inkonsequenzen erwähnt werden: Das Drama "Die Rebellion" findet sich unter "Anonym", das anonym erschiene Trauerspiel "Ulysses" ist dagegen zwischen die Autoren "Uhlich" und "Unzer" eingereiht worden.

Eine andere rätselhafte Inkonsequenz betrifft den Umgang mit Blankversdramen. Beim Lesen des Buches stolpert man über die Aussage, daß "Atreus und Thyest" von Weisse (Uraufführung 1767) "die erste Blankverstragödie, die in Deutschland auf die Bühne gebracht wurde" (S. 323) sei. Da "Lady Johanna Gray" von Wieland bekanntermaßen das erste deutsche Blankversdrama ist und auch damals aufgeführt wurde, vermutet man erst einen Fehler, dann eine Spitzfindigkeit, denn "Lady Johanna Gray" wurde ja in der Schweiz geschrieben und aufgeführt. Doch schlägt man den Artikel "Lady Johanna Gray" auf, so wird dort das Stück als das "erste vollendete Blankversdrama in Deutschland" (S. 336) bezeichnet. Man würde sich wünschen, daß sich die Verfasser der beiden Artikel (Jan-Oliver Decker und Nicola Graap) einigen, ob sie nun Wielands in Zürich geschriebenes und in Winterthur uraufgeführtes Trauerspiel als erstes in Deutschland geschriebenes und aufgeführtes Drama gelten lassen wollen oder nicht.

Fazit

Das Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts schließt mit der Darstellung von 249 Dramen eine Lücke in der Dramengeschichtsschreibung, die bisher immer noch viel zu sehr auf die bekannten Stücke der kanonisierten Autoren ausgerichtet ist. Die benannten kleinen Unstimmigkeiten und Fehler in der Ausführung sind bei der ersten Auflage eines Lexikons, das bei den Einträgen zu den vielen unbekannten Autoren auf keine Vorbilder und wenig Vorarbeiten zurückgreifen konnte, zu entschuldigen. Eine zweite, überarbeitete Auflage und die Fortsetzung durch ein entsprechendes Dramenlexikon des 19. Jahrhunderts — unter Beibehaltung und konsequenter Beachtung der formulierten Auswahlkriterien (Repräsentativität, Erfolg, Formexperiment) und mit dem bewährten Aufbau der Artikel — wären sehr wünschenswert.

Der Verlag C. H. Beck hat mit dem Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts eine notwendige Ergänzung zu seinem 1995 herausgebrachten "Lexikon der Aufklärung" geliefert. Während sich damals unter den Beiträgern fast ausschließlich Professoren und einige Privatdozenten befanden, haben die jetzigen Herausgeber die verschiedensten Beiträger, darunter auch viele Frauen, zur Mitarbeit aufgefordert. Da das Dramenlexikon leider kein Verzeichnis der beteiligten Autoren enthält, seien zum Abschluß zumindest die fleißigsten Mitarbeiter namentlich genannt:

Jan-Oliver Decker, Hans-Ulrich Wagner, Wolfgang Lukas, Claudia Stockinger, Werner Konrad, Ulrike Leuschner.


Dr. Andrea Heinz
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Literaturwissenschaft
Fürstengraben 18
D-07740 Jena

Ins Netz gestellt am 05.02.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Norbert Otto Eke. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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Anmerkungen

1 Der geringe Umfang dieser Dramenauswahl wird schlagartig deutlich, wenn man ihn mit der verdienstvollen vielbändigen und immer noch nicht abgeschlossenen "Bibliographia Dramatica et Dramaticorum" von Reinhart Meyer vergleicht.   zurück

2 An dieser Stelle sei an die Bibliographie von Schuster erinnert, die 465 Seiten umfaßt, obwohl er nur die gedruckten Spielplanverzeichnisse stehender Bühnen auflistet: Ralf S. Schuster: Gedruckte Spielplanverzeichnisse stehender deutscher Bühnen im Ausgang des 18. Jahrhunderts bis 1896. Frankfurt / M. 1985.   zurück

3 Z. B.: Burgtheater 1776—1976. Aufführungen und Besetzungen von zweihundert Jahren. 1. Band. Herausgegeben vom Österreichischen Bundestheaterverband. Wien 1979; C. A. H. Burkhardt, Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1791—1817. Hamburg und Leipzig 1891.   zurück

4 Z. B. Rudolf Schlösser: Vom Hamburger Nationaltheater zur Gothaer Hofbühne. 1767—1779. Hamburg und Leipzig 1895.   zurück