Helbig über Gutberlet: The State of the Nation

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Jörg Helbig

Neues britisches Kino

Kurzrezension zu
  • Kerstin Gutberlet: The State of the Nation: Das britische Kino der neunziger Jahre (Filmstudien; 18) St. Augustin: Gardez! Verlag 2001. 347 S. Kart. EUR (D) 29,95.
    ISBN 3-89796-038-9.


Dass in Deutschland eine Monographie zum britischen Kino erscheint, ist ein seltenes Ereignis und als solches grundsätzlich begrüßenswert. Dies gilt im vorliegenden Fall um so mehr, als der von Kerstin Gutberlet vorgelegte Band dem britischen Kino der 90er Jahre gewidmet ist, mithin einem Zeitraum, über den mit Robert Murphys Sammelband British Cinema of the 90s (London: BFI, 2000) bislang erst ein Buch veröffentlicht wurde.

Gutberlets Studie ist kulturwissenschaftlich fundiert, und ihr Titel ist durchaus wörtlich zu verstehen: Es geht Gutberlet keineswegs nur um eine Analyse der britischen Filmlandschaft der 90er Jahre, sondern auch um eine Untersuchung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen sich diese entwickelte. Symptomatisch hierfür ist die Bibliographie, die neben einschlägiger Filmliteratur auch zahlreiche Titel zu Kulturgeschichte, Politik, Geschlechterdiskurs, Jugendkultur und Philosophie ausweist.

Propädeutik

Das mit siebenundzwanzig Schwarzweiß-Abbildungen ausgestattete Buch ist in elf Abschnitte gegliedert. Nach einer Einleitung und einem kurzen Forschungsüberblick befassen sich die propädeutischen Kapitel 2 bis 4 (S. 19–46) kursorisch mit verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens in Großbritannien. Diskutiert werden dabei insbesondere die Problematik eines im Wandel befindlichen Verständnisses von "Britishness", die (behaupteten) nationalen und kulturellen Eigenheiten der Briten, die britische Innenpolitik im Übergang von den konservativen Regierungen Thatcher und Major zu >New Labour<, die britische Filmpolitik in den 80er und 90er Jahren, sowie die für die Filmproduktion wichtige Inbetriebnahme des Fernsehsenders Channel Four am 2. November 1982.

Kapitel 5 (S. 47–73) untersucht, inwieweit das britische Gegenwartskino bestimmten nationalen Filmtraditionen verpflichtet ist und erkennt in den Filmen der 90er Jahre die "Fortführung einer spezifischen Form britischen Erzählens. Sozialdrama, Art House Movies, Heritage-Cinema und die Komödie der neunziger Jahre setzen jene Erzählweise fort, die von Beginn an stets als >typically british< [sic!] identifiziert wurde" (S. 72).

Filmanalysen

Im dem anschließenden filmanalytischen Teil geht Gutberlet der Frage nach, wie sich der in den vorausgegangenen Kapiteln diagnostizierte >state of the nation< im zeitgenössischen britischen Kino widerspiegelt. In ihren gewichtigsten Kapiteln 6 bis 8 (S. 74–212) setzt sich die Studie mit Konstruktionen von (hetero- und homosexueller) Männlichkeit und Weiblichkeit im britischen Kino der 90er Jahre auseinander und positioniert sich damit schwerpunkthaft im Umfeld der gender studies. In Kapitel 9 (S. 213–251) tritt das Thema Jugend- und Subkultur hinzu. Die in diese vier Kapitel integrierten ausführlichen Analysen von insgesamt dreizehn Spielfilmen zählen zu den überzeugendsten Leistungen der Studie. Die Analysen zeichnen sich durch Kenntnisreichtum und originelle Beobachtungen aus, denen dank einer leicht verständlichen Diktion auch ein nicht-akademisches Lesepublikum jederzeit mühelos folgen kann.

Besonders hervorzuheben ist, dass es Gutberlet immer wieder gelingt aufzuzeigen, wie inhaltliche Aspekte und filmische Gestaltung ineinandergreifen. Unter punktueller Hinzuziehung anderer methodischer Ansätze (z.B. Diskursanalyse) geht Gutberlet im einzelnen auf folgende Filme ein: Orlando (1992, Sally Potter), Bhaji on the beach (1993, Gurinder Chadha), Naked (1993, Mike Leigh), Funny Bonnes (1995, Peter Chelsom), Sister my Sister (1995, Nancy Meckler), Brassed off (1996, Mark Herman), Stella does tricks (1996, Coky Giedroyc), Trainspotting (1996, Danny Boyle), Nil by mouth (1997, Gary Oldman), The full monty (1997, Peter Cattaneo), Under the skin (1997, Carine Adler), Love ist the devil (1998, John Maybury) sowie My name is joe (1998, Ken Loach).

Ergänzt werden die Filme in Kapitel 10 (S. 252–275) durch eine Betrachtung der sieben zwischen 1994 und 1999 entstandenen Filme des Regisseurs Michael Winterbottom. Die Wahl Winterbottoms liegt in der Konsequenz von Gutberlets Zielsetzung, inhaltliche Gemeinsamkeiten einer Gruppe thematisch und stilistisch scheinbar heterogener Filme herauszuarbeiten.

Spektrum

Die spezifische Zusammenstellung der genannten Filme macht deutlich, dass Gutberlet bewusst selektiv vorgeht und sich auf ein relativ enges typologisches Spektrum konzentriert. Einen umfassenden Überblick über das britische Kino der 90er Jahre will die Studie, entgegen der im Titel geweckten Erwartung, daher nicht bieten. Die herausragenden Shakespeare-Verfilmungen und die meisten Erfolgsfilme des britischen Mainstream-Kinos bleiben ebenso im Hintergrund wie alles, was im weitesten Sinne dem in den 90er Jahren so erfolgreichen Heritage Cinema nahesteht, von Four weddings and a funeral bis zu Elizabeth. Der Blick, den Gutberlet auf das britische Kino der 90er Jahre wirft, ist somit zwar verengt, aber in sich stimmig und konsequent und bietet, zumindest für das spezifische Spektrum der fokussierten Filme, einen substantiellen Erkenntnisgewinn.

Kurzes Fazit

Eine übersichtlich gegliederte Bibliographie sowie eine alphabetisch geordnete neunzehnseitige Filmographie, die man sich gerade angesichts ihrer erfreulichen Ausführlichkeit zumindest grob nach Produktionsland und -datum differenziert gewünscht hätte, schließen das Buch ab. Leider fehlt ein Titelindex, so dass die Suche nach den rund 200 Filmen, die laut Filmographie im Buch erwähnt werden, oft zum Geduldsspiel wird.


HD Dr. Jörg Helbig
Universität zu Köln
Englisches Seminar
D-50923 Köln
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Ins Netz gestellt am 11.01.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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