Helbig über Chibnall/Petley: Rubrik: Britisches Kino

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Jörg Helbig

Rubrik: Britisches Kino

Kurzrezension zu
  • Steve Chibnall / Julian Petley (Ed.): British Horror Cinema (British Popular Cinema 3) London / New York: Routledge 2002. 242 S. Geb. £ 55,-.
    ISBN 0-415-23004-7.


Anspruch und Dilemma der Buchreihe
British Popular Cinema

Der britische Horrorfilm, von der Kritik lange Zeit ignoriert oder reflexartig verrissen, fand erst durch David Piries wegweisende Studie A Heritage of Horror: The English Gothic Cinema 1946–1972 1 (1973) eine nennenswerte Beachtung. Seither wurden zahlreiche Studien zum britischen Horrorfilm veröffentlicht, wobei sich die meisten Publikationen auf relativ wenige Kernbereiche des Genres konzentrieren. Es gehört zum Konzept der von Steve Chibnall und I.Q. Hunter 1999 gegründeten Buchreihe British Popular Cinema, jene Genres, Filme und Filmschaffende in den Mittelpunkt zu stellen, die nicht zum etablierten Kanon der Filmkritik gehören. Daher kann es niemanden überraschen, dass der vorliegende Band die bislang am besten dokumentierten Bereiche weitgehend ausspart. Ein Kapitel über die bekannteste Produktionsstätte britischer Horrorfilme, die Hammer Studios, sucht man hier beispielsweise vergeblich.

Stattdessen verfolgen die Herausgeber den Anspruch, die Landkarte des britischen Horrorfilms zu erweitern und vornehmlich jene Aspekte in den Vordergrund zu rücken, die noch nicht von der jüngsten Publikationswelle profitiert haben. Wie bereits die vorausgegangenen Bände British Crime Cinema 2 und British Science Fiction Cinema 3 zeigt diese an sich lobenswerte Absicht erneut das Dilemma auf, das die Buchreihe insgesamt kennzeichnet. Wer sich einen repräsentativen Überblick über die Entwicklung des britischen Horrorfilms erhofft, ist mit dem vorliegenden Buch schlecht beraten (Andy Boots 1995 erschienene Monographie Fragments of Fear 4 leistet auf diesem Gebiet wesentlich mehr), hingegen ist es hervorragend dafür geeignet, spezifische Wissenslücken zu schließen und neue Forschungsfelder anzuregen.

Aufbau und Inhalt
des vorliegenden Bands

Die vierzehn Beiträge sind recht unterschiedlichen Aspekten gewidmet, von Überblicksartikeln über Epochen und Belange der Filmindustrie bis zu Betrachtungen einzelner Subgenres und individueller Filme. Die angestrebte Erweiterung der historischen Bandbreite gelingt in Ian Conrichs Erörterung früher Tonfilm-Klassiker wie The Ghoul (1933) und Dark Eyes of London (1939) überzeugend, in dem zu subjektiv gefärbten Essay des Filmemachers Richard Stanley zu Entwicklungen in den 90er Jahren dagegen weniger. Die gattungstypologisch ausgerichteten Beiträge von Leon Hunt und Kim Newman fokussieren mit dem okkultistischen Film und dem in der typologischen Grauzone zwischen Horror- und Kriminalfilm angesiedelten Psycho-Thriller zwei bislang wenig beachtete Subgenres des Horrorfilms.

Peter Hutchings' Vorstellung der Produktionsfirma Amicus vermag deren Renommee als originellste zeitgenössische Alternative zu den Filmen der Hammer-Studios zu festigen. Erfreulich ist es, dass Steve Chibnall dem bislang unterbewerteten Regisseur Pete Walker einen Beitrag widmet, wenngleich der Aufsatz nur ein Nebenprodukt von Chibnalls 1998 erschienenem Buch Making Mischief: The Cult Films of Pete Walker 5 ist. John C. Tibbetts und Marcelle Perks setzen sich in ihren Beiträgen mit zwei individuellen Filmen auseinander. Tibbett zieht dabei einen aufschlussreichen Vergleich von Henry James' Novelle The Turn of the Screw und deren Verfilmung The Innocents (1961) durch Jack Clayton. Perks' Versuch einer Aufwertung von Gary Shermans Death Line (1972) vermag hingegen weniger zu überzeugen.

Zu den lesenswertesten Beiträgen des Bands zählt Steven Jay Schneiders substantielle Analyse der Darstellung weiblicher Neurose und Geisteskrankheit in fünf herausragenden britischen Horrorfilmen (darunter Robert Wises The Haunting (1963), Bryan Forbes Séance on a Wet Afternoon (1964) und Roman Polanskis Repulsion (1965)). Nicht minder instruktiv sind drei kontextualisierende Aufsätze, die den britischen Horrorfilm vor dem Hintergrund professioneller Filmkritik (Julian Petley), weiblicher Fangemeinde (Brigid Cherry) und des im Kontext des Horrorfilms besonders virulenten Problemfelds von staatlicher Zensur und industrieller Selbstkontrolle (Mark Kermode) betrachten. Abgerundet wird der Band durch einen Interview-Artikel mit Regisseur Clive Barker und "Pinhead"-Darsteller Doug Bradley, beide durch den Film Hellraiser (1987) bekannt geworden. Die teilweise recht vordergründigen Fragen halten den Erkenntniswert der Interviews jedoch in Grenzen.

Filmographie

Wie zuvor die anderen Bände der British Popular Cinema - Reihe bietet auch das vorliegende Buch eine umfassende Filmographie, die mehr als 350 Filme verzeichnet. Leider werden hierbei auch zwei grundlegende Monita der Reihe fortgesetzt. Zum einen werden nur Produktionen der Tonfilmära berücksichtigt, so dass beachtenswerte Pionierleistungen wie Robert William Pauls The Haunted Curiosity Shop (1901) überhaupt nicht erfasst werden, und Klassiker wie Alfred Hitchocks The Lodger (1927), nur indirekt in Gestalt ästhetisch weit unterlegener Tonfilm-Remakes (in diesem Fall Maurice Elveys The Lodger (1932)), in Erscheinung treten.

Zum anderen bleiben auch in diesem Band die Kriterien für die Aufnahme eines Films in die Filmographie zu unverbindlich. Aufgenommen wurden in der Regel Spielfilme von mindestens 60 Minuten Spieldauer, die "a significant horror element" (S. 196) beinhalten. Was unter einem "horror element" konkret zu verstehen ist, umreißt der für die Zusammenstellung der Filmographie verantwortliche Leon S. Smith mit folgender, im Grunde zirkulärer Definition: "Essentially this filmography has a single broad criterion to define whether a film should be considered >horror<: is one of its primary intentions [...] to evoke fear or horror?" (S. 196)

Dieses problematische und letztlich nur subjektiv zu evaluierende Kriterium schließt zwar Horrorkomödien wie Carry on Screaming (1966) eindeutig aus, lässt aber andererseits genügend Spielraum für die Aufnahme von Filmen, deren Status als Horrorfilm zumindest strittig ist. Beispiele hierfür sind u.a. Michael Powells Peeping Tom (1960), Stanley Kubricks A Clockwork Orange (1971 – ihm ist paradoxerweise in dem Vorgängerband British Science Fiction Cinema ein eigener Aufsatz gewidmet) und Alfred Hitchcocks Frenzy (1972). Um so nachteiliger ist es, dass die Filmographie, im Gegensatz zu den Reihenbänden zum britischen Kriminalfilm und Historienfilm, keine inhaltlichen Hinweise bzw. Angaben von Subgenres liefert.


PD Dr. Jörg Helbig
Universität zu Köln
Englisches Seminar
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Ins Netz gestellt am 23.06.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 David Pirie: A Heritage of Horror. The English Gothic Cinema 1946–1972. London: Equinox 1973.   zurück

2 Steve Chipnall: British Crime Cinema. London / New York: Routledge 1999.   zurück

3 I.Q. Hunter: British Science Fiction Cinema. London / New York: Routledge 1999.   zurück

4 Andy Boot: Fragments of Fear: An Illustrated History of British Horror Films. New York: Creation 1995.   zurück

5 Steve Chibnalls: Making Mischief: The Cult Films of Pete Walker. Goldaming: FAB Press 1998.   zurück