Helmstetter über Luhmann: Einen Unterschied kann man nicht anbeten

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Rudolf Helmstetter

Einen Unterschied kann man nicht anbeten:
Luhmanns Systemtheorie als
>negative Theologie<?

  • Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2000. 362 S. Geb. € 22,80.
    ISBN 3-518-58291-7.


Niklas Luhmann hat in den etwa fünfunddreißig Jahren seiner Theorieproduktion etwa ebenso viele Bücher und mehrere hundert Aufsätze geschrieben. Als er im November 1998 starb, hinterließ er außerdem einen umfangreichen Nachlass mit weiteren, nahezu abgeschlossenen und druckfertigen Manuskripten. André Kieserling hat aus diesem Nachlaß ein Buch über Religion herausgegeben, mit dem Luhmann der Editionsnotiz zufolge unmittelbar nach der Drucklegung seines theoretischen Hauptwerkes "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (1997) begonnen hat und das im Wesentlichen als abgeschlossen gelten könne. Unfertig wirkt nicht der Text, sondern die Edition: man vermisst ein Nachwort, das dieses Buch ins Verhältnis setzt zu Luhmanns früheren Arbeiten über Religion, darunter immerhin eine Buchpublikation 1 und zahlreiche Spezialstudien, die zum Teil in überarbeiteter Form Kapitel von "Die Religion der Gesellschaft" bilden; auch "Die Gesellschaft der Gesellschaft" enthält ein Teilkapitel "Geheimnisse der Religion und die Moral". Zumindest eine Bibliographie der früheren Arbeiten Luhmanns zur Religion wäre also anlässlich einer solchen Edition nicht unangebracht gewesen.

"Die Religion der Gesellschaft" gehört in die Serie der Bücher, in denen Luhmann eine Gesamtdarstellung einzelner Funktionssysteme unternimmt. Luhmann hat parallel zur Ausarbeitung einer Gesellschaftstheorie und zu semantikgeschichtlichen Studien die theoretischen Grundlagen und soziologischen Perspektiven mit den Paradigmen der einzelnen Funktionssysteme durchdekliniert ("Das Recht ...", "Die Wissenschaft ...", "Die Wirtschaft ...", "Die Kunst der Gesellschaft"; im Nachlaß fand sich auch ein inzwischen publiziertes Buchmanuskript "Die Politik der Gesellschaft"). 2

Das Buch über Religion scheint theoriebiographisch durch das Bestreben motiviert, die unterschiedliche Aspekte anschneidenden Arbeiten zum Thema zusammenzufassen, den Begriffsapparat zu aktualisieren, seine universale Zuständigkeit zu erproben und unter Beweis zu stellen. Über Phänomenologie und Analytik des jeweiligen Funktionssystems hinaus sollten durch eine universale Begriffssprache und einen in der Systematik ähnlichen Aufriss strukturelle Parallelen zwischen den Systemen verdeutlicht werden.

Das Buch dokumentiert also nicht ein >besonderes< Interesse an Religion — der "Kunst der Gesellschaft" hatte Luhmann noch die Bemerkung vorangestellt, seine Beschäftigung mit Kunst sei nicht durch "besondere Neigungen des Verfassers für diesen Gegenstand" motiviert, sondern durch die "Annahme, daß eine auf Universalität abzielende Gesellschaftstheorie nicht ignorieren kann, daß es Kunst gibt". 3 Das Gleiche hätte er für Religion sagen können. Es handelt sich um ein Serienprodukt, aber wie alle Systeme gleich unmittelbar zur Gesellschaft sind (vgl. S. 125), so ist Luhmann auch gleich unmittelbar zu allen Systemen; es ist der Abstraktionsgrad der Theorie, die sein äquidistantes Interesse ermöglicht.

Eine besondere Affinität besteht allenfalls durch die der Religion und der Systemtheorie gemeinsame Spezialisierung auf Probleme der Beobachtung. Luhmanns Systemtheorie ist sozusagen >negative Theologie< in dem Sinne, daß für sie die Welt selbst, weil sie Bewußtsein und Kommunikation überfordert, "transzendent" ist (vgl. S. 109); es ist freilich eine menschenferne und >gott-lose< Religionstheorie.

Die Anlage des Buches folgt dem architektonischen Schema, das auch die anderen, den einzelnen Funktionssystemen gewidmeten Bücher Luhmanns strukturiert, und das auch hier einleuchtet:

Zunächst werden die logischen Grundlagen vorgestellt oder rekapituliert. 4 >Sinn<, seit den Anfängen von Luhmanns Theorieproduktion ein grundbegriffliches Konzept, das gemeinsame Medium von Bewußtsein und Kommunikation, also von psychischen und sozialen Systemen, bildet auch die Grundlage der Religionstheorie.

Das erste Kapitel führt Religion als "Sinnform" ein.

Das zweite Kapitel ("Codierung") behandelt die Entstehung und Fixierung eines spezifischen Codes religiöser Beobachtung und Kommunikation, der es ermöglicht, die Grenzen eines Funktionssystems zu markieren.

Kapitel 3 ("Die Funktion der Religion") beschreibt die Bildung eines solchen gesellschaftlichen Teilsystems in Hinblick auf ein besonderes Bezugsproblem — das Luhmann als Verwandlung der aller Beobachtung inhärenten Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit bestimmt.

Kapitel 4 rekonstruiert den Gottesbegriff, Prämisse aller (mono)theistischen Konfessionen, als "Kontingenzformel", als Chiffrierung und Korrelat von Beobachtung, durch die das Bezugsproblem >gelöst<, innersystemisch ersetzt und jedenfalls >chiffriert< wird.

Kapitel 5 unterscheidet Stufen der "Ausdifferenzierung religiöser Kommunikation" — Themendifferenzierung, Situationsdifferenzierung, Riten und Mythen, Rollendifferenzierung (Priester / Laien) und schließlich Systemdifferenzierung — und setzt die semantische Ausarbeitung eines religionsspezifischen Codes in Bezug zur gesellschaftlichen Ausdifferenzierung als Funktionssystem für Religion.

Kapitel 6 behandelt das im engeren Sinne religionssoziologische Gebiet "Religiöse Organisationen".

Die folgenden Kapitel durchqueren das vertrautere (religions- und kulturgeschichtliche) Terrain der "Ausdifferenzierung" und der "Evolution der Religion" — verstanden als Evolution des Zusammenhangs von Ausdifferenzierung und Codierung in Korrelation zur geschichtlichen Evolution des Gesellschaftssystems und zur Erfindung von Schrift — und thematisieren Bedingungen der gesellschaftlichen Plausibilität religiöser Semantik.

Das letzte Kapitel problematisiert die "Selbstbeschreibung" der Religion — also Theologie, Dogmatiken — , mit der das System auf seine Ausdifferenzierung reagiert, seine Identität artikuliert und sich in Bezug zu seiner gesellschaftlichen Umwelt setzt.

Luhmann beginnt mit den Paradoxien der Beobachtung, die vom Code der Religion >verarbeitet< werden, und schließt mit den Paradoxien, in die sich die religiöse Kommunikation als notwendig organisierte und dogmatisch fixierte verstrickt. Um Kirche als Gemeinschaft im Glauben herzustellen, bedarf die Religion der Organisation; damit aber entsteht die Frage nach der (In)Kompatibilität von Lehre und Verwaltung. Organisationen reproduzieren sich durch Entscheidungen, erzeugen also stets Kontingenz: "Wenn die Organisation in allem, was sie akzeptiert und reproduziert, eine Entscheidung sieht, muß das zu einer Dekonstruktion von Glaubensinhalten führen" (S. 248).

Im Anfang war der Unterschied

Luhmann beginnt mit einer Unterscheidung, die den — und jeglichen — Anfang macht: Er bestimmt Religion als "Sinnform". Sinn ist kein Fundament, sondern eine Differenz, die Einheit von Aktualität und Potentialität (alles >Gegebene<, Bezeichnete, Thematische, intentional Fokussierte, verweist auf anderes, aber nur das Bezeichnete ist >anschlußfähig<, kann in weiteren Operationen verwendet werden). Die Spezifik der >Sinnform< Religion, die wie jede Form zwei Seiten hat, ist es, daß die andere Seite ihrer Unterscheidung auf das >ganz Andere<, auf >Transzendenz< verweist; die Spezifik ihres Codes, daß sie auf die Einheit dieser Differenz verweist. Luhmann interessieren dabei nicht die theologischen, sondern die sinn- und form-logischen Implikationen. Er benutzt die Theorie der binären Codierung als "Anregung einer Neubeschreibung aller Traditionselemente" (S. 109) und erarbeitet im Unterschied zu "nur kulturspezifischen und geschichtsspezifschen Begriffen von Religion" (S. 30f.) einen elementaren weil formalen Begriff von Religion.

Anstelle einer Definition greift Luhmann theologische und religionssoziologische Grundbegriffe auf — das Sakrale, das Geheimnis, das Ausseralltägliche — und entfaltet sie differenztheoretisch, d.h. er rekonstruiert die Unterscheidung, die sie voraussetzen, und verfolgt die Wiederkehr der Unterscheidung (re-entry) im Unterschiedenen. Er grenzt Religion nicht durch Bereichsbegriffe — wie eben das >Sakrale< oder das >Transzendente< — ab, sondern durch die Unterscheidung >immanent-transzendent<, die immer von der >positiven<, gegebenen Seite aus verwendet wird und auf einen entzogenen, verborgenen Bereich verweist.

Religion ist "darauf angewiesen, Formen im Medium von Sinn zu bilden" (S. 53), das aber gilt für jede Form von Sinnverarbeitung: jeder Formgebrauch erzeugt einen unmarked space, den blinden Fleck, von dem aus die Beobachtung vollzogen wird. Auf dieser elementaren Ebene läßt sich die frappante Folgerung ziehen: "daß jeder Formgebrauch Religion involviert" (ebd.). Worin liegt also das Besondere von Religion, das nur der religiösen Sinnverarbeitung Eigentümliche?

Luhmann bestimmt Religion als diejenige Weise der Sinngebung, die zwischen dem markierten und dem unmarkierten Raum nicht nur eine Grenze zieht, sondern in eben dieser Grenzziehung ihr Bezugsproblem sieht, das dann zur Systembildung führt. Religion macht die Unterscheidung des Beobachtbaren und Unbeobachtbaren beobachtbar und ermöglicht Kommunikation des Inkommunikablen, sie spielt und schliesst die allem Beobachten inhärente "strukturelle Sperre des Beobachtens [...] in den Sinnkosmos als Irritationsfaktor, als Sinngebungsaufforderung par excellence" ein. Konstitutiv für Religion ist der "Einschluß des Ausgeschlossenen", die Chiffrierung der "zunächst gegenständlichen, dann lokalen, dann universellen Anwesenheit des Abwesenden" (S. 31f.) oder das "re-entry der Unterscheidung beobachtbar / unbeobachtbar ins Beobachtbare" (S. 32). Da diese Figur bei jeglichem Beobachten begegnet, folgt die Spezifizierung: "Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet" (S. 35). >Unbeobachtbarkeit< meint die konstitutive, bzw. operativ emergente Intransparenz des Beobachtens: das,

was das Beobachten selbst unbeobachtbar macht. Und das ist immer ein Doppeltes: das Beobachten selbst und der unmarked state der Welt, aus dem heraus es das, was es bezeichnet, unterscheidet. Es sind mithin auch keine Defekte, Sorgen, Unsicherheiten, die mit Religion kompensiert werden, sondern eine notwendige Bedingung jeder Festlegung — sei es im Erleben oder Handeln [...] — auf etwas-und-nichts-anderes. (S. 35f.)

Religion (be)zieht das Unbeobachtbare in die Beobachtung ein, vergegenwärtigt in der Beobachtung die "Realpräsenz der Differenz" (S. 88).

Die Beobachtung der Religion

Luhmann fragt nach dem Sakralen nicht in der Form der Frage: Was ist ... ?, sondern in Form der Frage: Welchen Unterschied macht ...?, das heisst also: "was geschieht mit der anderen Seite, wenn die Welt in >Sakrales< und anderes eingeteilt wird?" (S. 59). Es entsteht in der Welt ein Unterschied zur Welt, und damit etwas, von dem die Welt selbst unterschieden werden kann: "erst dadurch kann Realität gewissermaßen gehärtet werden im Vergleich zu einer eher fluiden Welt der Imagination. [...]. Insofern dürfte es die primäre Leistung der Religion gewesen sein, Realität zu konstituieren, indem sie etwas für Beobachtung bereitstellt, was nicht unter diese Kategorie fällt" (S. 59f.). Durch diese religiöse "Doppelung der Realität" entsteht ein "transzendetes Sinnkorrelat alles immanent Beobachtbaren" (S. 63).

Alle Unterscheidungen sind immanente Unterscheidungen und werden immanent vollzogen — "das, wovon aber alle Bezeichnungen und alle Unterscheidungen unterschieden sind, bleibt als unmarked space zurück" (S. 89). Und dort bleibt — >ewig<, weil mit jeder Beobachtung neu — der blinde Fleck: die Welt und der Beobachter zurück, "unbeobachtbar, weil ununterscheidbar" (S. 89): "Religion kann als der Versuch angesehen werden, dies Unvermeidliche nicht bloß hinzunehmen. Deshalb wird die durch Unterscheidungen beobachtbare Welt dupliziert und schließlich mit der Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz in die strenge Form eines Codes gebracht" (S. 89). Die Bildung eines religiösen Codes setzt ein, wenn die Ausgangsunterscheidung, die sich auf Sakrales, das Geheimnis, das Unvertraute im Sinne konkreter Bereiche, Dinge, Vorkommnisse bezieht, durch die situations- und zeitabstrakte Leitunterscheidung >immanent / transzendent< fixiert und überformt wird.

Sobald sich ein Code gebildet hat, kann alles aus transzendenter oder immanenter Sicht beobachtet werden. Bei voller Entwicklung des Codes kommen beide Seiten der Form auf beiden Seiten wieder: "Es geht jetzt nicht mehr nur um eine Einteilung der Welt in sichtbare / unsichtbare, vertraute / unvertraute, nahe / ferne Bereiche, [...]. Sondern die beiden Werte des Codes leisten eine wechselseitige Sinngebung und schließen dadurch die religiöse Signifikation gegen andere Codierungen ab" (S. 90).

Die religiöse Codierung hat eine Besonderheit, durch die sie sich von allen anderen Codierungen unterscheidet: Der "Negativ-" oder Reflexionswert (>Transzendenz<) wird

als Grund und Quelle der Codierung selbst angesetzt. Die Transzendenz wird, ihren Code erzeugend, zum Gegenüber jeder anderen Unterscheidung. [...]. [...]. Im Falle von Religion ist Begründung nicht durch Ausschluß, sondern nur durch Einschluß des Gegenwertes zu erreichen, nicht wie Wahrheit durch Ausschluß von Unwahrheit, sondern durch Neubewertung aller Unterscheidungen in transzendenter Sinngebung. (S. 91)

Anders gesagt: die Frage nach der Einheit dessen, was der Code unterscheidet, wird "über den negativen Wert des Codes, über den Reflexionswert, über die Transzendenz aufgelöst" (S. 127, Herv. i. O.). Singulär und bemerkenswert ist das deshalb, "weil andere Codes für diese letztmögliche Operation ihren positiven Wert benutzen, also sagen, es sei gut, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden" (S. 127).

Als Sinnform ist Religion universell (weil Sakrales überall auftreten und unterschieden werden kann), der religiöse Code ist universell, weil er überall und auf alles angewendet werden kann, er macht die Sinnform verfügbar. Codierung ermöglicht Umsetzung in Operationen (der positive Wert ermöglicht Anschließbarkeit) und strukturelle Kopplung von Religion und Bewußtsein. Die Anschließbarkeit an gesellschaftliche praktizierte Moralvorstellungen dagegen wird durch Zusatzeinrichtungen (Kriterien, Regeln, >Programme<) reguliert, die als "Supplemente" instruieren, wie der Code anzuwenden ist (denn das ist durch den Code selbst nicht geregelt). Auch die "semantische Ausstattung" des Codes ist eine Variable des Gesellschaftsystems und seiner evolutionären Veränderungen (S. 101): Luhmann betrachtet den Code also weder als >Ursache<, noch als unabhängige Variable, mit der sich die weitere semantische und soziale Entwicklung der Religion erklären läßt.

Die zentrale Chiffre entwickelter Religionen, also >Gott<, expliziert Luhmann als "Kontingenzformel", die in einem bereits gebildeten System den Funktionsbezug ersetzt (S. 147) und die durch den Code bearbeitete Differenz als Einheit präsentiert und kommunikativ zugänglich macht. Mit ihrer >Erlösungsperspektive<, die Transzendenz als immanent zugänglich in Aussicht stellt, bieten Religionen ein "Korrektiv für das Leiden an Unterscheidungen" an (S. 150). Wenn die sämtliche — auch zeitliche (>Ewigkeit< !) — Differenzen übergreifende Einheit Gottes, an die sich im Monotheismus eigenwillige Anforderungen an religiösen >Glauben< knüpfen, in Form von Personalität gedacht wird, steckt darin weniger ein Anthropomorphismus als ein Soziomorphismus, vor allem aber ein chiffriertes Korrelat von Beobachten und Beobachtetwerden (dann aber auch: von Vertragsfähigkeit).

Über das Konzept des (transzendenten) Beobachters wird Einheit — die Einheit der Differenz von Transzendenz und Immanenz — ins System gebracht und chiffriert. Luhmann gründet — oder eigentlich: ent-gründet — also auch Gottesvorstellungen auf Paradoxien der Beobachtung und Kommunikation. Nur durch Kommunikation kann sich Sinn gesellschaftlich realisieren (und tradiert werden), Kommunikation ist sozusagen seine (des Sinns) Ankunft auf Erden. Die Kontingenzformel >Gott< sperrt sich gegen Kommunikation und ermöglicht zugleich, Inkommunikabilität zu kommunizieren. Als drei Formen dieses Inkommunikabilitätsmanagements unterscheidet Luhmann "Geheimnis", "Paradoxie" und "externe Analyse" (S. 168 ff.).

Säkularisierung: >Funktionsverlust<
oder funktionale Spezialisierung?

Luhmann positioniert sich nicht nur gegenüber der Theologie — die auf seine früheren Anregungen kaum eingegangen ist 5 — sondern auch gegenüber der etablierten Religionssoziologie, die — so sein grundsätzlicher Einwand — auf den Menschen und sein Bewußtsein oder sein >Sinnbedürfnis< zentriert ist und nicht von Kommunikation und ihrem für die Systemreferenz >Gesellschaft< konstitutiven Status ausgeht. >Das< Individuum gibt es nicht, und empirische Menschen leben millionenfach ohne religiösen Glauben. Luhmann weist die Rede vom >Sinnbedürfnis< und anthropologische Bestimmungen überhaupt zurück — Soziologie auf der Grundlage eines >operativen Konstruktivismus< sei die "eigentlich zuständige Religionswissenschaft" (S. 44).

Indem Luhmann den Funktionsbegriff präzisiert, präzisiert er auch die "These vom >Funktionsverlust< der Religion" (S. 145): In der funktional differenzierten Gesellschaft steigen die "Chancen für Religion" (als Religion), aber nicht in dem Sinn, daß Menschen verstärkt in grösserer Zahl in eine religiös bestimmte Lebensführung inkludiert werden, sondern in dem Sinne, daß Inklusion und Exklusion stärker divergieren und "beide Seiten dieser Unterscheidung, die religiöse und die religiös unbestimmte Lebensführung mit Kommunikationsfähigkeit ausgestattet und sozial akzeptiert werden" (S. 145, Herv. i. O.).

Auch die Religion bleibt nicht unbeeindruckt von der Geschichte ihrer externen Beobachtung und der externen Beobachtung ihres >Gegenstandes<. Seit dem 18. Jahrhundert setzt die nicht-religiöse Diskussion von Religionsthemen ein, Religion verliert ihr Beobachtungsmonopol und wird nun ihrerseits beobachtet und verglichen, das heißt, Religion geht in >Kultur< auf. Den dafür eingeführten Begriff der "Säkularisation" kritisiert Luhmann als zu ungenau und eher irreführend (S. 279 ff.), wenn es darum geht, die sogenannte Krise oder den >Funktionsverlust< der Religion zu erfassen. Er behält ihn als historische Beschreibungskategorie bei, zerlegt aber den >Kompaktbegriff< in seine Komponenten, die sich je nach Perspektive des Religionssystems oder der Gesellschaft anders ausnehmen; er gewinnt dabei geläufigen Befunden eine andere und doppelte Perspektivierung ab.

Mit dem sich durchsetzenden Primat funktionaler Differenzierung und angesichts zunehmend religiös neutraler Orientierungen der Gesellschaft büßt Religion ihre Höchstrelevanz und Autorität ein, sie wird als Teilbereich der Kultur beobachtet und dem Vergleich mit anderen Religionen und anderen nicht-religiösen Orientierungen ausgesetzt. Religion "ist nicht mehr eine notwendige Vermittlungsinstanz [...], die die Beziehung aller gesellschaftlichen Aktivitäten zu seinem Gesamtsinn herstellt" (S. 125, Herv. i. O.).

Perspektiven und Abblendungen

Luhmann stellt die Phänomenologie der elementaren Sinnform und die Genealogie des Codes in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen und bezieht mit doppelter, wechselnder Perspektive, also system-umwelt-theoretisch, das System und seine gesellschaftliche Umwelt, in der es operiert, aufeinander. Er behandelt dann die Funktion von Religion in der Gesellschaft und betrachtet Religion in der zweiten Hälfte des Buches in Korrelation mit der strukturellen Differenzierung des Gesellschaftssystems; dabei werden jedoch die Funktionen (genauer: >Leistungen<) der Religion für einzelne Funktionssysteme und für psychische Systeme nur gestreift — und damit auch die >brisanten< Probleme der psychologischen Effektivität und der politischen Instrumentalisierung von Religion: man denke an das Problemfeld der >Politischen Theologie< (Carl Schmitt) und der >Politischen Religionen< (Eric Voegelin) 6 und die damit verknüpfte Problematik von Autoritäts- und Legitimitätsstiftung.

Der schlichte Titel des Buches enthält ein anspruchsvolles Programm und markiert nicht nur einen Unterschied. "Die Religion der Gesellschaft" — das heisst nicht: die Religion der Theologie, es heisst auch nicht: die Religionen der Gesellschaft und nicht die Religion der Soziologie, soweit man sie als >Religionssoziologie< kennt. Luhmanns Anspruch ist es, Religion so stark zu abstrahieren, dass die Genese von Religion aus den Gesetzmäßigkeiten der Beobachtung und der Formbildung im Medium Sinn und das Bezugsproblem von Religion deutlich werden, das von den historischen Religionen, ihren Programmen und Glaubensartikeln nur unterschiedlich bearbeitet, überformt und verwaltet wird. Die Gestalten der historischen Religionen und die Vielfalt religiösen Erlebens (Willliam James) werden in einem allgemeinen Begriff von Religion aufgehoben. Womöglich werden Theologie, Religionsgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft ihren Gegenstand kaum wiedererkennen, aber gerade in dieser verfremdenden Perspektive und Re-Konstruktion liegt der analytische Ertrag des system- und differenztheoretischen Ansatzes.

Der Ertrag der Präzisierungen und Neubeschreibungen ist vor allem im Falle geläufiger historischer Befunde schwer abzuschätzen. Dass "die Funktion der religiösen Symbolisierung" seit dem 18. Jahrhundert "von der Ästhetik übernommen, zumindest mitgetragen" wird, ist eine neue Formulierung für einen nicht ebenso neuen Sachverhalt, den Luhmann nur mit einem Hinweis auf Schellings "Philosophie der Kunst" (S. 281) erwähnt und nicht weiter ausführt; ebenso daß in der Romantik ein "displacement", eine "Verschiebung religiös getönter Erwartungen in außerreligiöse, in weltliche Bereiche" (S. 282) und "in vor allem ästhetische, aber auch individuell-biographische Bereiche" (S. 319) stattfindet. Auch die Bemerkungen zur heutigen Situation der Religion — und zu >aktuellen< Phänomenen wie >Fundamentalismus< — bleiben so schwach wie der einzige >Trost<, den Religion soziologisch gesehen zu bieten hat: Religion inkludiert auch dann noch, wenn alle anderen Funktionssysteme exkludieren, sie unterbricht den Teufelskreis der Exklusionen, ohne indes mehr als eben Religion bieten zu können: wer nicht schreiben und zahlen kann, kann beten; wer von Wirtschaft, Recht, Politik ausgeschlossen ist, kann immer noch an Religion teilnehmen (vgl. S. 243 f.).

Luhmann nimmt, obwohl es keine welteinheitliche Religion gibt, ein Funktionssystem der >Religion< als Subsystem der Weltgesellschaft und ein System von nicht-integrierten Selbstbeschreibungen (S. 346) an. Ihn interessieren dabei nicht die sich voneinander abgrenzenden Hochreligionen und die Vielzahl der Sekten, Kulte und oft nur kurzlebigen >Bewegungen<, sondern der Unterschied religiöser von "anders orientierten Kommunikationen" (S. 341). Luhmanns >Religion< abstrahiert von allen historischen Formen, den Weltreligionen, und dabei lässt sich der Eindruck nicht abweisen, daß Luhmann >Religion< besser und ursprünglicher versteht als die >Organisationen<, die sie gesellschaftlich verwalten. Man könnte sagen: Luhmann erklärt der Gesellschaft >Religion<, aber auch der Religion die >Gesellschaft<. Er gebraucht dazu allerdings eine (Theorie-)Sprache, die beide Adressaten erst noch lernen müßten. Der Darstellungsduktus kommt diesem Ziel zwar entgegen, da jeder Begriff immer wieder erläutert und paraphrasiert wird, zugleich erscheint die Argumentation aufgrund der damit entstehenden Redundanzen aber auch umständlich und unübersichtlich. Die Schwierigkeiten für Theologen und "Religionspraktikanten" (S. 105) lassen sich in der Tat auf die lapidare Formel bringen: "Einen Unterschied kann man nicht anbeten" (S. 92).

Die eigentliche Adresse des Buches ist jedoch das Wissenschaftssystem. Ob Luhmann mit seinen umfassenden Reformulierungen und seiner Restrukturierung des thematischen Feldes die ansonsten zuständigen Disziplinen — Theologie, Religionssoziologie, vergleichende Religionswissenschaft, Religionsgeschichte — überbietet oder überfordert, sei dahingestellt. 7 Einerseits erprobt er das Auflöse- und Rekombinationsvermögen des systemtheoretischen Begriffsapparats und schafft damit eine Art Komparatistik der Systeme und ihrer Codierungen. Andererseits findet die Auseinandersetzung mit den klassischen oder auch nur älteren Religionssoziologien nur en passant, in pointierten, meist lapidaren Bemerkungen (und durch Verweise in Fußnoten) statt. 8 Die Bezüge, Widersprüche, Konfliktlinien müssen von den Lesern einerseits selbst interpoliert werden, andererseits ist das Buch so auch voraussetzungslos und als >Einstieg< zu lesen.

Schwierig abzuschätzen sind auch die unmittelbaren Erträge für die Literatur- und Kulturwissenschaften. Religion ist derzeit kein vitales Bezugsfeld wie Politik, Recht, Wirtschaft; religiöse und religionsgeschichtliche Fragen gehören nicht zu den aktuellen Interessen und Agenda der Literatur- und Kulturwissenschaften. Ein erster, von früheren Arbeiten Luhmanns ausgehender Versuch, Religion als eine Umwelt der Literatur und Literatur als eine Umwelt der Religion zu betrachten, wird bereits in Gerhard Plumpes und Niels Werbers Spektrum der "Beobachtungen der Literatur" 9 unternommen; an diese doppelte Perspektivierung und wechselseitige Beobachtung könnten weitere Arbeiten anknüpfen — mit historischen, aber auch mit theoretischen Interessen. So könnte gefragt werden, ob die Figur der religiösen Duplizierung der Realität ein funktionales Äquivalent in der literarischen Fiktion hat, die zwar kein "transzendentes Sinnkorrelat alles immanent Beobachtbaren" (S. 63) produziert, aber immerhin ein ästhetisches oder fiktionales.

Wenn von >Religion als Literatur< und >Literatur als Religion< gesprochen wird, kann nun mit Luhmann begrifflich genauer bestimmt werden, in welchem Sinn >Religion< gemeint ist und was beim Transfer religiöser Semantik in den literarischen Diskurs oder bei literarischer Bearbeitung religiös besetzter Themen geschieht. 10

Bei funktionaler Abstraktion sollte sich ein erweitertes Vergleichsspektrum ergeben, und damit wäre auch die Frage nach Metaphern oder Metonymien von >Religion< und >religiös< oder die (dann als solche ausgewiesene) metaphorische Rede von >Religion< legitim. In "Funktion der Religion" hat Luhmann gelegentlich solche Perspektiven angedeutet ("Man müßte, um die Funktionsstelle der Religion zu erreichen, Marxismus und Rauschsucht kombinieren können [...]"), durch die Süffisanz der Formulierung aber auch gleich wieder abgeblendet. 11 Ob in den Industriegesellschaften nicht längst andere Institutionen die Funktionen (oder >Leistungen<) von Religion — in einem womöglich metaphorischen oder metonymischen Sinne — übernehmen oder welche Phänomene der Massenmedienkultur sich als funktionale Äquivalente oder Inkognito von Religion beschreiben lassen — solche Fragen zu stellen wird einem weniger theoretisch disziplinierten und weniger theoriearchitektonisch motivierten Denkstil überlassen bleiben.


PD Dr. Rudolf Helmstetter
Universität Konstanz
Fachbereich Literaturwissenschaft
D-78457 Konstanz

Ins Netz gestellt am 05.03.2002
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Anmerkungen

1 Niklas Luhmann: Funktion der Religion (stw; 407) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1977. Das zweite Kapitel ist die stark überarbeitete Fassung des Beitrags zu einem damals schon vergriffenen Buch: Niklas Luhmann / Karl-Wilhelm Dahm / Dieter Stoodt: Religion — System und Sozialisation (Sammlung Luchterhand; 85) Darmstadt / Neuwied: Luchterhand 1972; Ein Aufsatz mit dem Titel des ersten Kapitels ("Die Sinnform Religion") ist in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 2. Jg., H. 1, 1996, S. 3—33 erschienen; Luhmanns "Gesellschaftsstruktur und Semantik 3" enthält ein umfangreiches Kapitel des Titels "Die Ausdifferenzierung der Religion" (Frankfurt / M.: Suhrkamp 1988, S. 259—357). Vgl. auch: Niklas Luhmann: "Ich denke primär historisch": Religionssoziologische Perspektiven. Ein Gespräch mit Fragen von Detlev Pollack (Leipzig). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39. Jg., H. 9, 1991, S. 937—956, sowie außerdem: Niklas Luhmann: Religion als Kultur. In: Otto Kallscheuer (Hg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Frankfurt / M.: Fischer 1996, S. 291—315 und Niklas Luhmann: Das Medium der Religion. Eine soziologische Betrachtung über Gott und die Seelen. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 6. Jg., H. 1, 2000, S. 39—53.   zurück

2 Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2000.   zurück

3 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996, S. 10.   zurück

4 In "Funktion der Religion" (Niklas Luhmann [Anm. 1]) arbeitet Luhmann noch ohne den Begriff der >Beobachtung< — der Erleben und Handeln, Kognitions- und Willensaktivitäten umfasst - und ohne die Begrifflichkeit aus George Spencer Browns "Laws of Form" (G. S. B.: Laws of Form / Gesetze der Form [1969]. Lübeck: Bohmeier 1997); eine komparative Lektüre der sich thematisch überschneidenden Kapitel böte Gelegenheit zu fragen, was dadurch im einzelnen gewonnen wird.   zurück

5 Vgl. schon Michael Welker (Hg.): Theologie und funktionale Systemtheorie. Luhmanns Religionssoziologie in theologischer Diskussion (stw; 495) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1982 (für pro- und kon-fessionelle Obstacles epistemologiques siehe exemplarisch S. 120 ff.). Siehe außerdem Hans-Ulrich Dallmann: Von Wortübernahmen, produktiven Mißverständnissen und Reflexionsgewinnen. Niklas Luhmanns Systemtheorie in der theologischen Diskussion. In: Henk de Berg / Johannes F. K. Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie (stw; 1501) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2000, S. 222—253 und Hans-Ulrich Dallmann: Immanenz, Transzendenz, Kontingenz: Luhmann und die Theologie. In: Helga Gripp-Hagelstange (Hg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen. Konstanz: Universitätsverlag 2000, S. 105—137.   zurück

6 Siehe dazu etwa Walter Seitter: Illusion der Illusionslosigkeit. In: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft, Bd. 26: Pierre Legendre. Historiker, Psychoanalytiker, Jurist. Hg. von Cornelia Vismann (2002), S. 64 -74.   zurück

7 Zur einschlägigen Diskussion vgl. schon Detlef Pollack: Religiöse Chiffrierung und soziologische Aufklärung. Die Religionstheorie Niklas Luhmanns im Rahmen ihrer systemtheoretischen Vorsaussetzungen. Frankfurt / M.: Lang 1988 sowie die Beiträge von Detlef Pollack, Rudolf Schlögl, Peter Beyer, Christoph Dinkel, Rudolf Stichweh u. a. in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 7. Jg., H. 1, 2001.   zurück

8 Das Buch enthält kein Literaturverzeichnis, eine Unsitte Luhmanns oder seines Verlages, die leider beibehalten wurde.   zurück   

9 Bettina Gruber: Die Literatur der Religion. In: Gerhard Plumpe / Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 135—163.   zurück

10 Daß sich auch in einer ganz anderen, relativ theoriefreien, >philosophisch-essayistischen< Sprache nicht-trivial und - dies sei ausdrücklich angemerkt: ohne missionarischen hohen Ton à la George Steiner - von >Kunstreligion< (Hegel) sprechen läßt, hat gerade Gert Mattenklott in einer kleinen Skizze gezeigt. Mattenklott fragt, "in welchem Licht sich heute ein Thema darstellt, das für die Hochschätzung der Künste in Europa, speziell aber in Deutschland, zumindest seit der Frühromantik, von besonderer Bedeutung gewesen ist". Mattenklott meint "Verklärung" der Kunst "als eine Manifestation des Absoluten, sei es in seiner lautersten und ätherischsten, sei es in seiner luziferisch dämonischen Gestalt" (Gert Mattenklott: Kunstreligion. In: Sinn und Form. Januar / Februar 2002, S. 97—108). Zu fragen ist allenfalls, ob man hier statt von "-religion" nicht auch von >-metaphysik< sprechen könnte.   zurück   

11 Niklas Luhmann (Anm. 1), S. 47.   zurück