Hennig über Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher

IASLonline


Beate Hennig

Die Erschließung deutscher Wörterbücher
als Quelle von Kulturgeschichte: ein Desiderat

  • Ulrike Haß-Zumkehr: Deutsche Wörterbücher — Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte (de Gruyter-Studienbuch) Berlin, NewYork 2001: De Gruyter. IX, 411 S. Kart. DM 57,-.
    ISBN 3-11-014885-4.


Inhalt

1. Die Ausgangslage | 2. Korpus und Zielgruppe | 3. Gliederung und Inhalt | 3.1 Von den Anfängen bis zum 17. Jahrhundert | 3.2 Beginn der Neuzeit: Stieler und Kramer | 3.3 Die Bemühungen um eine Leitvarietät | 3. 4 Das "Deutsche Wörterbuch" | 3. 5 >Populäre< Wörterbücher | 3. 6 Hermann Paul | 3. 7 Ideologie im Wörterbuch | 3. 8 Europäisches und anderes | 3.9 Wörterbücher und EDV | 4. Die Mängel und das Positive | 4. 1 Das Zielgruppenproblem | 4. 2 Der Umgang mit der Forschung | 4. 3 Formales | 4. 4 Der anregende Ansatz

1. Die Ausgangslage

Wörterbücher, die den Wortschatz einer Sprache dokumentieren, gibt es, seit Sprache schriftlich fixiert wurde. Das erste Zeugnis der deutschen Sprache, der "Abrogans", ist ein Wörterbuch. Es verzeichnet lateinische Wörter (z.B. abrogans) mit ihrem jeweiligen deutschen Äquivalent (aotmuoti), ist also ein zweisprachiges Wörterbuch, das für das Verstehen von lateinischen Texten konzipiert wurde. Im Lauf der Geschichte der deutschen Lexikografie sind eine große Zahl und viele unterschiedliche Typen von Wörterbüchern mit vielfältigen Darstellungsformen, Ordnungsweisen und Funktionen entstanden.

Neben zweisprachige oder Fremdwörterbücher traten einsprachige Bedeutungswörterbücher, neben solche, die den Allgemeinwortschatz darstellen, solche, die den Wortschatz von Dialekten, Fach- oder Sondersprachen beschreiben, und solche, die den Wortschatz von alten Sprachzuständen erfassen. Es gibt (meist) alphabetisch geordnete semasiologische und (meist) nach Begriffen geordnete onomasiologische Wörterbücher. Manche Wörterbücher wollen eine pädagogische Funktion erfüllen, andere eine Norm etablieren oder vorgefundenes Material dokumentieren und bewahren.

In ihrer Gesamtheit repräsentieren alle diese Wörterbücher die Entwicklung des deutschen Wortschatzes. Jedes einzelne Wörterbuch enthält allerdings nur eine Auswahl von Wörtern, die der jeweilige Wörterbuchautor auf Grund seiner Weltsicht vornimmt und auf Grund der Ziele, die er mit seinem Wörterbuch verfolgt. Auch ist die Überlieferungsgeschichte des Wortschatzes dadurch bestimmt, dass ein Wörterbuch auf dem anderen aufbaut. Deshalb sind Wörterbücher nicht nur Dokumente, die die Veränderung des Wortschatzes aufzeigen, sondern auch Zeitdokumente, die jeweils die historische Einstellung und das Verhältnis zur Sprache widerspiegeln.

Bisher gibt es keine Monographie, die von den Anfängen bis zur Gegenwart die Geschichte der gesamten deutschen Lexikografie beschreibt. Angesichts der großen Zahl von Wörterbüchern ist dies eine kaum zu leistende Aufgabe, die auch Haß-Zumkehr nicht auf sich nehmen will. Nur "die für wichtig gehaltenen Wörterbücher zur deutschen Sprache" (S. 4) sollen mit dem Begriff >Deutsche Wörterbücher< gemeint sein, und der Materialfülle versucht sie dadurch zu begegnen, dass sie >nur< eine Überblicksdarstellung leisten will. Zudem beschränkt sich ihre Darstellung der Lexikografiegeschichte auf die Frage, welche Wechselwirkungen "zwischen Wörterbuch- und Gesellschaftsgeschichte" bestehen (S. 2).

2. Korpus und Zielgruppe

Die "Auswahl der notgedrungen wenigen zu behandelnden Gegenstände" (S. 5) nimmt Haß-Zumkehr vor auf der Basis eines "Kanons der wichtigsten Wörterbücher", der "sich in Spezialistenkreisen durch die Jahrhunderte hindurch" (S. 5) herausgebildet habe (Dasypodius, Maaler, Stieler, Frisch, Adelung, Grimm, Paul). Sie begründet ihre Entscheidung damit, dass dieser Kanon die Grundlage für viele Wörterbuchautoren gewesen sei, "die neue Wörterbücher niemals ohne mehr oder weniger kritischen Bezug auf die ihnen zugängliche Lexikografie schreiben können" (S. 5). Da eine Beschränkung auf "diese >Höhenkamm-Lexikografie<" aber "das Bild auf [sic] die Wörterbuch-Landschaft" verzerre (S. 5), erweitert sie ihren Überblick auf "diejenigen Wörterbücher, die aus wisssenschaftspolitischen Gründen nicht in den Kanon aufgenommen" worden seien (S. 5). Ihre Autoren (Kramer, Campe, Heyse, Sanders u.a.) sieht sie mit den >wissenschaftlichen< Lexikografen in einem Konkurrenzkampf (S. 6), der die kulturgeschichtlichen Bedingungen des >klassischen Kanons< erhellen könne.

Die ausgewählten Wörterbücher sind Bedeutungswörterbücher, bei denen es sich, sofern sie nicht das Lateinische als Zielsprache oder, wie bis ins 17. Jahrhundert üblich, als Erklärungssprache haben, um einsprachige Wörterbücher des Allgemeinwortschatzes handelt. Unter >Lexikografie< versteht Haß-Zumkehr aber nicht nur die oben genannten Typen von Wörterbüchern, sondern neben der "Menge aller deutschsprachigen Wörterbücher" auch die "sachlichen Nachschlagewerke" (S. 4), d.h. Werke, die nicht den Wortschatz beschreiben, sondern Wissensinformationen vermitteln wollen. Deshalb bezieht sie in ihren Überblick auch Begriffswörterbücher und Enzyklopädien ein, da sie diesen "in kultureller Hinsicht besondere Bedeutung" zumisst (S. 6).

Eine Reihe von weiteren Wörterbuchtypen, vor allem diejenigen, die den Wortschatz von Sprachvarietäten dokumentieren, ist durch diese Auswahl ausgeschlossen, "ihre Geschichten müssen anderswo geschrieben werden" (S. 65). Eine überzeugende Begründung für den Ausschluss gerade dieser Wörterbuchtypen gibt Haß-Zumkehr nicht. Die Bedeutung, die etwa die Mundarten auf dem Weg der deutschen Sprache zur Standardsprache gehabt haben, lässt Dialektwörterbücher sowohl unter sprachlichem als auch kulturhistorischem Aspekt besonders interessant erscheinen, was Haß-Zumkehr an späterer Stelle selbst formuliert: "Die Mundartwörterbücher […] wurden immer fraglos als nationale Kulturleistungen angesehen" (S. 257). Die Ausweitung auf die Sachlexikografie hingegen erscheint im Licht des Untertitels des Buches "Brennpunkt von Sprach-und Kulturgeschichte" zumindest fragwürdig, da der sprachliche Aspekt hier erst in zweiter Linie eine Rolle spielt und besonders der Wortgebrauch nicht im Interesse der Enzyklopäden liegt.

Der Titel >Deutsche Wörterbücher< hätte also zumindest mit einer spezifizierenden Einschränkung versehen werden müssen. Das gilt umso mehr, als Haß-Zumkehr ein Kapitel auch der europäischen Lexikografie widmet, "ohne die es eine deutsche Wörterbuchtradition nicht" gebe (S. 6).

Die Motive, von denen sie sich in ihrem Buch leiten lässt, formuliert Haß-Zumkehr in drei Punkten (S. 1—3):

  1. Die Vermittlung eines Zugangs zu historischen Wörterbüchern als Forschungsgegenstand "für Studierende der Germanistik und für Angehörige anderer Fachrichtungen".

  2. Die Vermittlung von Hintergrundwissen "über die soziale und kommunikative Einbettung" (S. 2) der Wörterbücher, damit deren historisches Material leichter empirisch genutzt werden kann.

  3. Die Untersuchung des Gesellschaftsbezugs und der Zeittypik von Wörterbüchern an historischen Beispielen im Licht des neueren Kulturbegriffs, der die "Werthaltungen und Orientierungen sozialer Milieus" und deren "konstruktiven Charakter" (S. 2) einbezieht.

Damit sind auch die Adressaten ihres Buches benannt: Studierende, Nicht-Germanisten und die Benutzer von historischen Wörterbüchern, d.h. vor allem Sprachwissenschaftler und Historiker. Speziell auf Lexikografen zielt ihre zusammenfassende Formulierung: "Wenn Lexikografiegeschichte differenziert zeigen kann, inwiefern Wörterbücher kulturelle Orientierung leisten, dann könnte >Kultur< eine reflektierte Größe in Theorie und Methodologie der Lexikografie werden" (S. 3).

Das Buch soll also von einem sehr disparaten Adressatenkreis genutzt werden. Die unterschiedlichen Bedürfnisse von Fach-Anfängern, Nicht-Fachleuten und Fachleuten im engeren Sinn gleichzeitig zu befriedigen, scheint fast unmöglich.

3. Gliederung und Inhalt

Nach einem einführenden Kapitel "Wie Wörterbücher entstehen und wie man sie liest" folgt die Darstellung, wie in einem Überblick zu erwarten, weitgehend einer chronologischen Ordnung. Die ausgewählten Wörterbücher werden im Zusammenhang ihrer "gesellschaftsgeschichtliche[n] Epochen" (S. 7) vorgestellt (Kap. 3—11, 16). Die einzelnen Epochen erhalten dabei — zum Teil wegen der unterschiedlich breiten Materialgrundlage — ein unterschiedliches Gewicht: Die Zeit vom Frühmittelalter bis zum Humanismus wird auf knapp 25 Seiten abgehandelt, während das 19. Jahrhundert durch drei (wenn man Hermann Paul dem 19. Jahrhundert zuordnet, vier) umfangreiche Kapitel repräsentiert wird.

Die chronologische Abfolge wird nach der Darstellung der Gegenwartslexikografie unterbrochen durch Kapitel, die Haß-Zumkehr als thematische Kapitel (Kap. 12—15) bezeichnet, und in denen der kulturgeschichtliche Aspekt im Vordergrund stehen soll. In diesen Kapiteln werden die europäische Lexikografie, onomasiologische Wörterbücher und die Enzyklopädik mit einem jeweils eigenen historischen Überblick und das Thema Sprachnorm ("Das Wörterbuch als Sprachrichter") abgehandelt. Erst dann folgt mit der Computerlexikografie ein Kapitel zur jüngsten Gegenwart. Die Unterbrechung der chronologischen Ordnung ergibt sich nicht zwingend. Die Aussagen der kurzen Kapitel zum europäischen Rahmen der deutschen Lexikografie und zu den Begrifffswörterbüchern hätten problemlos in den historischen Überblick eingeordnet werden können. Die Enzyklopädik erscheint als Fremdkörper, auch wenn die Traditionen von Sprach- und Sachlexikografie "in Wechselwirkung miteinander stehen" (S. 291), und wäre in einer eigenen Publikation besser vertreten. Die Reflexionen über die Rolle von Wörterbüchern als >Sprachrichter< hätten das Buch beschließen können. Das Kapitel hat seinen Schwerpunkt in der Kritik an Gegenwartswörterbüchern und beschreibt weniger die Intentionen historischer Wörterbücher.

Das einführende 2. Kapitel soll "einen Überblick über den Inhalt des >lexikografischen Werkzeugkastens<" (S. 19) bieten. Kriterien für die Auswahl der Stichwörter, die Quellengrundlage von Wörterbüchern, die Arten von Angaben und die Rolle von Beispielen und Belegen in der modernen Lexikografie werden hier vorgeführt, damit der Leser "vor dem Hintergrund der heute gegebenen Möglichkeiten […] die allmähliche Entwicklung lexikografischer Methoden und Begriffe im Laufe der Zeit" nachvollziehen könne (S. 19).

3. 1 Von den Anfängen bis zum 17. Jahrhundert

Das 3. Kapitel "Vom Wörterbuch als Hilfsmittel im Mittelalter zum patriotischen Symbol im 17. Jahrhundert" umfasst die Entwicklung der Lexikografie von ihren relativ bescheidenen Anfängen mit Wort- und Sachglossaren im 8. Jahrhundert bis zu ihrer qualitativ und durch die Erfindung des Buchdrucks auch quantitativ gesteigerten Produktion im 16. Jahrhundert. Der Prozess der allmählichen Loslösung von der zunächst bestimmenden lateinischen Kultursprache und die zunehmende Bedeutung der volkssprachlichen Elemente in den Wörterbüchern werden in diesem Kapitel thematisiert. Der Prozess wird auf die Tendenz einer Verlagerung der Nutzerinteressen vom Verstehen lateinischer Texte zur Produktion volksprachiger Texte zurückgeführt.

An einigen Beispielartikeln aus dem 16. Jahrhundert demonstriert Haß-Zumkehr, dass die Bindung an die antike Kultur und ihren Wortschatz trotzdem für die gesamte Epoche bestimmend bleibt. Daraus zieht sie die wichtige Schlussfolgerung, "dass man vom Wortschatz der humanistischen Wörterbücher nicht ohne weiteres auf die allgemeine deutschsprachige Kultur und den deutschen Wortschatz des 16. Jahrhunderts schließen darf" (S. 54). Diese Erkenntnis kann auch für spätere Wörterbücher gelten. Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen aus dieser Zeit, "die so gar nicht sprachüblich waren (z.B. werckig für operosus)" (S. 58), wurden immer weiter tradiert, so dass Untersuchungen über den Wortschatz einer bestimmten Zeit mit Wörterbüchern als Materialgrundlage "womöglich ein verzerrtes Bild der lexikalischen Wirklichkeit" zeichnen könnten (S. 58). Eine Erklärung, wie die lexikalische Wirklichkeit einer Zeit ermittelt werden könnte und wie man bestimmen kann, was >sprachüblich< war, bleibt Haß-Zumkehr dem Leser schuldig: "über die tatsächlichen Verhältnisse im Wortschatz der damaligen Zeit [ist] wenig sicheres Wissen vorhanden" (S. 58).

3. 2 Beginn der Neuzeit: Stieler und Kramer

Das 4. Kapitel "Die Lexikografie der >Haupt- und Heldensprache< in Dreißigjährigem Krieg und Barock" stellt "die gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe" (S. 66) in der auf den Dreißigjährigen Krieg folgenden Zeit in Zusammenhang mit den Bemühungen der Sprachgesellschaften um eine Ordnung und Normierung der Sprache. Sie hatten das Ziel, eine leistungsfähige Hochsprache zu schaffen. Den Ausschluss von Fremdwörtern und Mundartwörtern aus den Wörterbüchern dieser Zeit beschreibt Haß-Zumkehr als eine Folge dieses Strebens.

Die beiden Wörterbuchautoren, die in dem Kapitel vorgestellt werden, Kaspar Stieler und Matthias Kramer, werden als Neuerer der lexikografischen Praxis bezeichnet. Beide haben die von Schottelius herrührende Stammworttheorie umgesetzt und damit die (damals rein spekulative) Etymologie in die Wörterbücher eingeführt. Sie haben eine stärkere Lösung vom Lateinischen und vom lexikografisch überlieferten Wortschatz des Späthumanismus betrieben, indem sie sich erstmals in der Geschichte der deutschen Lexikografie am alltäglichen Sprachgebrauch ihrer Zeit orientierten. Als Beleg dafür führt Haß-Zumkehr die Aufnahme obszöner Wörter und Bezeichnungen für Körperfunktionen an. Der Wortschatz des bürgerlichen Handwerks und Gewerbes und des öffentlichen Leben überwiegt bei Kramer gegenüber Stielers Wortschatz zu Verwaltung und Hof. Damit repräsentieren Stieler und Kramer zwei gesellschaftspolitisch unterschiedliche Pole. Neue Wörter, Ableitungen und Zusammensetzungen und vor allem grammatische Angaben werden erstmals aufgenommen. Eine "bahnbrechende Neuerung" (S. 85) konstatiert Haß-Zumkehr für Kramer: die Berücksichtigung der Ebene der syntagmatischen Relationen und damit der Wortsemantik (S. 86).

3. 3 Die Bemühungen um eine Leitvarietät

Das 5. Kapitel "Vom Nutzen des Wortschatzes — die Antworten der Aufklärer" geht aus von dem Prozess der Herausbildung einer Leitvarietät der deutschen Sprache vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, die als kulturelle Vorwegnahme der deutschen Einheit gelten könne. In diesem Kontext werden die Bemühungen um ein gesamtsprachbezogenes Wörterbuch gesehen, in denen das Interesse an Mundarten und Fachwortschätzen eine Rolle spielt, deren Dokumentation im 18. Jh. beginnt.

Die Diskussion eines solchen Konzepts durch Leibniz, Frisch u.a. und seine Verwirklichung durch Steinbach, Frisch, Adelung und Campe sind Gegenstand des Kapitels. Die Berücksichtigung von fachsprachlichen, dialektalen und sozialen Varietäten und die von Frisch in die Lexikografiegeschichte eingeführten Kompetenzbeispiele und semantisch-pragmatischen Kommentierungen sind wichtige Merkmale dieses Konzepts.

Adelung stuft Haß-Zumkehr ein als "Meilenstein, an dem sich alle späteren Wörterbücher messen lassen mussten" (S. 106). Sie hebt seine Abwendung von der Stammworttheorie hervor, seine Dokumentierung des Wortgebrauchs in einem "gewissen sozialen Rahmen" (S. 106), seine Beachtung der Sprachregeln, die über die Hälfte selbst gebildeten Beispiele, die Orientierung an der Rhetorik mit der Bezeichnung von eigentlicher und übertragener Bedeutung sowie die klare Struktur seiner Artikel.

Leider sind die von Haß-Zumkehr angekündigten Beispiele nicht zu finden, die Adelungs Praxis in Bezug auf "Bedeutungsbeschreibung; soziostilistische Kommentierung, Etymologie zwecks Motivierung der Bezeichnung; literarische Belege, wissenschaftliche Diskussion" belegen sollten (S. 111).

Der als Sprachpurist bekannte Campe wird als Gegenpol zu Adelung dargestellt, der sein Wörterbuch als Instrument der Sprachbildung des Bürgertums verstand. Seine politischen, von der französischen Revolution geprägten Vorstellungen sieht Haß-Zumkehr in dem Wortschatz widergespiegelt, der sich auf gesellschaftlich-politische Verhältnisse bezieht; in seinen pragmatischen Kommentaren habe Campe "das Missverhältnis zwischen alten Umgangsformen und neuer Gesellschaftsordnung" thematisiert (S. 116).

3. 4 Das "Deutsche Wörterbuch"

Die lange Entstehungsgeschichte (von 1852—1960) des "Deutschen Wörterbuchs" von Jakob und Wilhelm Grimm wird im 6. Kapitel dargestellt. Die Idee eines Nationalwörterbuchs sieht Haß Zumkehr im Kontext der gesellschaftlich-politischen Situation des 19. Jahrhunderts, in der Nationalsymbole im Vorgriff auf eine vereinte deutsche Nation eine große Bedeutung hatten. Die Brüder Grimm, die als Romantiker gegen den Rationalismus der Aufklärung kämpften, sahen ihr Wörterbuch als Zeugnis "einer altehrwürdigen Vergangenheit des Volks als Sprachgemeinschaft" (S. 123). Durch die Rückführung der Wörter auf ihre Wortwurzeln, erstmals auf wissenschaftlicher Grundlage, wollten die Brüder den Wert und die Schönheit der deutschen Sprache vermitteln. Ihr Ziel war die Wahrung der alten Sprache; der aktuelle Sprachgebrauch lag nur am Rande ihres Interesses, da sie in ihm den Niedergang der Sprache zu erleben glaubten.

Dieses Konzept habe sich in den vier Phasen der Entstehungsgeschichte nicht wesentlich geändert. Im 20. Jahrhundert sei das Grimmsche Wörterbuch "als nur historisches Museum" (S. 141) sogar von den ideologischen Einflüssen des Nationalsozialismus frei geblieben, ebenso wie nach der parallelen Einrichtung von Wörterbuch-Arbeitsstellen in Ost- und Westdeutschland von der Ideologie des Sozialismus. In dem Abschnitt "Rezeption und Reaktionen" weist Haß-Zumkehr aber auf die öffentliche Auseinandersetzung bei der Fertigstellung des Wörterbuchs hin, in der an Hand der Belege bzw. der Quellenauswahl der Nachweis einer deutsch-nationalen, antijüdischen und antisozialistischen Prägung versucht worden sei. Mit dieser polemisch-ungerechten Kritik sei die Diskussion "um den Einfluss, den die kulturellen oder ideologischen Orientierungen der Lexikografen auf ihr jeweiliges Werk haben können, erstmals angestoßen worden" (S. 140).

3. 5 >Populäre< Wörterbücher

Im Zentrum des 7. Kapitels steht Daniel Sanders als Repräsentant der bügerlichen Sprachbildung, der im Gegensatz zu den Brüdern Grimm den geltenden Sprachgebrauch seiner Zeit und seine usuellen Regularitäten dokumentiert habe. Die Aufnahme von Zeitungen als Wörterbuchquellen, die Berücksichtigung der Sprecherperspektive und die Differenzierung des Wortgebrauchs nach gesellschaftlichen Schichten sind Gründe dafür, dass Haß-Zumkehr Sanders "als aufgeklärten Germanisten" bezeichnet (S. 169), dessen demokratische Gesinnung sie durch den Vergleich des Artikels zum Stichwort >frei< von Sanders und von Jacob Grimm nachzuweisen versucht.

Im 8. Kapitel "Wissenschaftliche versus >bloß< praktische Wörterbücher" stellt Haß-Zumkehr die >populären< Wörterbücher, zu denen sie auch Sanders zählt, in die Tradition der nutzerorientierten Lexikografie. Den Beginn dieser Tradition setzt sie mit den Schulwörterbüchern des 16. Jahrhunderts an. Seit dem 18. Jahrhundert erschienen Wörterbücher mit speziellem Sach- und Berufsbezug und polyglotte Wörterbücher immer zahlreicher. Auf Grund des Praxisbezugs mutmaßt sie, dass diese Wörterbücher einen "größeren Einfluss auf die Sprachentwicklung besaßen" als die >wissenschaftlichen< Wörterbücher (S. 162). Obwohl sie feststellt, "die Charakteristik der populären Lexikografie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist aber unvollständig ohne Einbeziehung der mehrsprachigen Wörterbücher" (S. 170), klammert sie diese Wörterbücher aus ihrer Darstellung aus. An Beispielen aus dem populärsten Wörterbuch des 19. Jahrhunderts von Karl Wilhelm Ludwig Heyse weist Haß-Zumkehr anschaulich nach, dass nur ausführliche Bedeutungserläuterungen und Kommentare den kulturellen Kontext der Wortverwendungen deutlich erkennen lassen, während einbändige Populärwörterbücher mit nur knapper Bedeutungserläuterung beim politischen Wortschatz die Verfestigung von sozialen Stereotypen unterstützten.

3. 6 Hermann Paul

In der Lexikografie Hermann Pauls, die Gegenstand des 9. Kapitels ist, sieht Haß-Zumkehr die Verbindung von >wissenschaftlichem< und >populärem< Wörterbuch. Sein Wörterbuch solle anregen, über Sprache nachzudenken. Hermann Paul geht nach Haß-Zumkehr vom Sprachgebrauch der Gegenwart aus, dessen verschiedene Vernetzungsebenen er historisch erklärt. Seine Methode, "Strukturen und Vernetzung im Wortschatz" darzustellen, führt sie an dem Artikel zum Stichwort >Frau< (S. 189—90) vor. Die pragmatischen Informationen gehen von der Prämisse aus, "dass okkasionelle Bedeutungen immer von usuellen ausgehen" (S. 191).

Das Paulsche Wörterbuch erscheint bis in die Gegenwart in ständig neu bearbeiteten Auflagen. "Prinzipien und Praxis der Neubearbeitungen" können "die Beziehungen eines Wörterbuchs zur jeweiligen Umgebungskultur zeigen" (S. 193), die allerdings nur für die neuesten Auflagen vorgeführt werden, da Haß-Zumkehr wegen fehlender Forschung über die früheren nur Vermutungen anstellen kann. Die neueste Auflage von 1992, nach den Vorstellungen der Bearbeiter ein modernes "Museum der Sprache", fungiere als "historisches Gedächtnis" (S. 200), das den politisch-sozialen Wortschatz angemessen vertrete und auch den Wortschatz der Nationalsozialisten sachlich-kritisch wiedergebe.

3. 7 Ideologie im Wörterbuch

Im 10. Kapitel "Wörterbücher im Dienst der NS-Propaganda", die gut erforscht sind, beschäftigt sich Haß-Zumkehr mit der Frage, ob der allgemeinsprachliche Wortschatz der Wörterbücher "den Bedingungen einer totalitären Ideologie angepasst wurde" (S. 202). Sie betont, dass Ideologiewörter der NS-Zeit aus älteren Traditionen stammten und in der Alltagskommunikation nicht geläufig gewesen sein müssten. Eine kulturhistorische Untersuchung dürfe deshalb die Wörter nicht isoliert von ihrem textuellen und situativen Kontext sehen. Einen Vergleich der Wörterbucheinträge mit der >Alltagskommunikation< bietet Haß-Zumkehr allerdings nicht.

Die Etablierung einer >Leitvarietät< des Nationalsozialismus in den Wörterbüchern geschieht ihrer Meinung nach weniger durch >Ideologiewörter< als durch die Formulierungen der Bedeutungsangaben, Belege und Beispiele. In ihnen seien "Umdeutungen selbst von ideologisch ganz >unverdächtigen< Wörtern" erkennbar (S. 214). Am Beispiel von Trübners "Deutschem Wörterbuch", das im übrigen nicht vorgestellt wird, führt Haß-Zumkehr vor, wie vor allem "Wörter der humanistischen, der liberalen und der christlichen Tradition" (S. 216) umgewertet wurden.

Das "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" von Klappenbach / Steinitz für die DDR, der Duden ("Universalwörterbuch" und "Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache") und Wahrigs Wörterbücher für die BRD sind im 11. Kapitel Zeugen für die "Wörterbuchlandschaft mit und ohne Mauer".

Das "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" bezeichnet Haß-Zumkehr vor allem auf Grund der Exzerption aus eigener Quellenbasis als einen "Meilenstein in der Lexikografiegeschichte der Nachkriegszeit" (S. 226). Die Grundlage ist die Sprache der bildungstragenden Schicht aus dem bildungsbürgerlichen Kanon der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Schon dieses Konzept wird ideologisch begründet und sei ">von oben verordnete, normative Sprachkultur<" (S. 227). Mit der "weltanschaulich gebundene[n] Darstellung des Wortschatzes" (S. 230), die ab dem vierten Band festzustellen sei, beschäftigt sich Haß-Zumkehr weniger als mit den innovativen Leistungen auf dem Gebiet der "systematische[n] Behandlung der Stilmarkierungen und […] der Wortbildung" (S. 228).

Auch bei den bundesrepublikanischen Wörterbüchern setzt sich Haß-Zumkehr nicht vorrangig mit dem gesellschaftspolitischen Wortschatz auseinander. Für die Duden-Wörterbücher betont sie die prinzipielle Nähe zur Alltags- und Umgangssprache und die Breite der Quellengrundlage. Die Berücksichtigung von Veränderungen des Wortschatzes in den Neuauflagen sieht Haß-Zumkehr kritisch, da die Aktualisierung des Wortschatzes oft nicht mit einer Anpassung der Bedeutungen einhergehe.

Zu dem Thema der deutschen Teilung hätte interessiert, ob und wie weit in den Wörterbuchausgaben nach der Wende regionalsprachliche Varianten aus den neuen Bundesländern aufgenommen wurden und wie die Ideologiewörter der DDR behandelt werden. Diese Fragen werden nicht gestellt. Statt dessen wird die CD-Rom-Fassung der dritten Auflage des 10-bändigen Duden ausführlich auf die Praktikabilität ihrer Suchfunktionen untersucht und die Schwächen bei der Aufbereitung von Wörterbüchern für elektronische Medien aufgezeigt — ein Vorgriff auf das 16. Kapitel zur Computerlexikografie.

3. 8 Europäisches und anderes

Im 12. Kapitel "Über die Grenzen — der europäische Rahmen der deutschen Lexikografie" sollen die Fragen nach dem >Deutschen< in der Lexikografiegeschichte, nach europäischen Gemeinsamkeiten und außereuropäischen Wechselbeziehungen beantwortet werden. Die Antworten auf diese Fragen sind wenig spektakulär, da sie nur auf einzelnen verstreuten Beobachtungen aus Überblicksdarstellungen zur Wörterbuchtradition europäischer und außereuropäischer Sprachen beruhen. Dass "die Bindung an Sprache, Literatur und Kultur der eigenen Nation […] der deutschen Lexikografie ihre nationalen Grenzen gezogen" hat (S. 256), dass "von den Lexikografien der größeren westeuropäischen Länder methodische Innovationen aufeinander […] ausstrahlten" (S. 260) oder "international diskutierte […] Prinzipien […] national spezifisch interpretiert werden" (S. 261), sind Erkenntnisse, für deren Begründung es nicht eines eigenen Kapitels bedurft hätte.

"Weil Sinnverwandtschaften häufig mit Sachverwandtschaften zusammenfallen" (S. 265), sieht Haß-Zumkehr das 13. Kapitel (" Sinn- und Sachverwandtschaften — Ordnung der Wörter oder Ordnung der Welt?") in engem Zusammenhang mit dem 14. ("Die Sachlexikografie und ihr Verhältnis zur Sprachlexikografie"). Jedes Stichwort in einem Wörterbuch oder einem Sachlexikon könne man "als Sprachzeichen oder als nur in sprachlicher Form dargebotenen Ersatz einer Sache auffassen" (S. 277). Diese These zu begründen und die Vielfalt der Typen von onomasiologischen Wörterbüchern und sachbezogenen Nachschlagewerken und ihre Geschichte adäquat darzustellen, erfordert jedoch einen weitaus größeren Raum als ihn Haß-Zumkehr in diesem Rahmen zur Verfügung hat. Die komprimierte Darstellung in diesen Kapiteln wird weder der Sache noch den Lesern gerecht.

Das 15. Kapitel "Das Wörterbuch als Sprachrichter" verlässt die historische Perspektive weitgehend. Nach der Schilderung des Beitrags der Wörterbücher zu der Herausbildung der >Leitvarietät< der deutschen Sprache bis zum 19. Jahrhundert geht es in diesem Kapitel hauptsächlich um die Frage, wie moderne Lexikografen "auf die deskriptive oder präskriptive Deutung ihrer Angaben im Wörterbuch Einfluss nehmen" (S. 343). Auch wenn die deskriptive Tendenz bei den Lexikografen überwiege, würden sprachliche oder soziale Normen immer implizit durch Beispiele und Belege vermittelt. Hinzu komme das "Orientierungsbedürfnis der Wörterbuchbenutzer in normrelevanten Fragen"(S. 349), so dass sich in Deutschland ein Image der Wörterbücher als Sprachrichter etabliert habe. Vor allem Fremdwörterbücher und Rechtschreibwörterbücher werden als unantastbare Autorität angesehen.

Zum Schluss beschreibt Haß-Zumkehr ein ideales, rein deskriptives "Wörterbuch, das auf Vorschriften ganz verzichtet und auch nicht (mehr) präskriptiv interpretiert würde" (S. 360). Es könnte, da es nur kommunikativ-ethischen Normen verpflichtet wäre, statt als >Sprachrichter< als >Sprachaufklärer< wirken.

3.9 Wörterbücher und EDV

In der Frage im Titel des 16. Kapitels "Computer in der Lexikografie — eine Revolution?" deutet sich an, dass Haß-Zumkehr eine revolutionäre Verbesserung der Lexikografie durch die elektronischen Medien noch nicht verwirklicht sieht. Zwar führt sie ausführlich die verbesserten Möglichkeiten durch computergestützte Herstellung vor und — in komprimierter Form — die Möglichkeiten der "Computerlexikographie im Dienst linguistischer Forschung". Eine wirkliche Veränderung der Wörterbucher sieht sie aber erst in der >Hypertextualisierung<, bei der "eine echte Vernetzung der Informationsinhalte auf der Ebene der Artikelstrukturen bzw. des Wortschatzes" stattfindet (S. 374). Der für eine solche Vernetzung notwendige konzeptionelle Aufwand sei jedoch noch nicht geleistet worden; die CD-Rom-Versionen heutiger Wörterbücher seien bisher nur digitalisierte Printwörterbücher.

Ein kurzer informativer Anhang mit Tabellen zum Umfang der deutschen Sprache bildet den Abschluss des Buchs.

4. Die Mängel und das Positive

Ob Haß-Zumkehr ihre Intention verwirklichen kann, einen Überblick über die Geschichte der deutschen Wörterbücher unter kulturgeschichtlichem Aspekt zu bieten, liegt nicht zuletzt daran, ob und wie sie durch ihre Darstellung die unterschiedlichen Adressaten erreicht, die in der Einleitung genannt werden. Da sie auch Studienanfänger ansprechen möchte, müsste diese Gruppe mit dem geringsten Vorwissen das Niveau bestimmen. Dieses Niveau mit den Bedürfnissen von Fachleuten abzustimmen, gelingt ihr nicht.

4. 1 Das Zielgruppenproblem

Das zweite Kapitel z.B. ist ausschließlich auf Studienanfänger bezogen, denen erklärt werden muss, dass "Lemmatisierung […] das hier besprochene Verfahren der Festlegung der Stichwortform" ist (S. 24), und die man mit saloppen Formulierungen motivieren muss, sich mit der Materie zu beschäftigen ("es ist […] noch nie jemand mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe belegt worden, der nachweislich ein nicht im Duden […] stehendes Wort verwendet hat" S. 20). Offensichtlich wurde hier im wesentlichen unverändert eine Einführung in ein Seminar zur Lexikografie übernommen, in der beschrieben wird, wie ein Wörterbuch zustandekommt und woran man die Qualität eines Wörterbuchs erkennt ("ein Wörterbuch, in dem Schlafanzug mit >Anzug zum Schlafen< erläutert wird, ist offensichtlich nicht informativ" S. 29). Sachliche Fehler wie: "Pudel ist Hyperonym zu Hund" (S. 33) sollten gerade in einem solchen Kontext vermieden werden.

Dass dieses Kapitel nicht primär für das vorliegende Buch konzipiert worden sein kann, zeigt sich auch daran, dass die historische Perspektive, die eingenommen werden soll, nur am Rande vorkommt: Die >historische Entwicklung des lexikografischen Werkzeugkastens<, die in diesem Kapitel vorgeführt werden soll (S. 28), wird nur in einem kurzen Abschnitt (S. 28) vorgeführt und in zwei weiteren Sätzen erwähnt (S. 30, 32).

Auch das dritte Kapitel "Vom Wörterbuch als Hilfsmittel im Mittelalter zum patriotischen Symbol im 17. Jahrhundert", das einen großen Zeitabschnitt auf engem Raum zusammenfasst, verlässt das Niveau einer Einführungsveranstaltung nicht: Der folgende Abschnitt, der die Erfindung von Glossensammlungen anschaulich machen soll, ist in einem gedruckten Werk mit wissenschaftlichem Anspruch deplatziert:

Stellen Sie sich vor, Sie lebten um die Mitte des 10. Jahrhunderts als noch junge Nonne in einem Kloster […] Sie fragen Ihre älteren Mitschwestern nach der Bedeutung dieses oder jenes lateinischen Worts […]. Irgendwann kommt die Zeit, dass Ihre Äbtissin Sie mit der Anfertigung einer weiteren Bibelhandschrift beauftragt, denn die Technik des Buchdrucks ist ja noch nicht erfunden … eines Tages kommt Ihnen eine pädagogische Idee (S. 40).

In den anderen Kapiteln hingegen wird Wissen vorausgesetzt, über das Studienanfänger nicht verfügen ("das Modell der Topik ist ein Stück sprachnäher als die Modelle der Artes liberales", S. 299) und das auch Nicht-Fachleute überfordert. Uneingeführte Begriffe ("das exemplarische Prinzip der pansophischen Enzyklopädie" S. 305) oder Begriffe, die erst an späterer Stelle erkärt werden (Thesaurus S. 268 / 270, Stammworttheorie S. 70 / 72) verunsichern diese Adressaten zusätzlich. Der Zugang zu historischen Wörterbüchern als Forschungsgegenstand wird ihnen auf diese Weise nur eingeschränkt vermittelt.

4. 2 Der Umgang mit der Forschung

Der Zugang zu dem Hintergrundwissen "über die soziale und kommunikative Einbettung"der Wörterbücher (S. 2) wird hingegen auch Fachleuten erschwert. Das ergibt sich aus dem Verfahren, ausschließlich bereits vorliegende (in einem Fall demnächst erscheinende) lexikografiegeschichtliche Forschung zu nutzen: "Die chronologischen wie die thematischen Kapitel [d.h. das ganze Buch] beruhen teilweise auf eigenen, teilweise auf den lexikografiegeschichtlichen Forschungen anderer" (S. 3). Diese Einzeluntersuchungen "galt es in angemessener Weise auf einander zu beziehen und so zusammenzufassen, dass Schlussfolgerungen inbezug auf epochenübergreifende Linien und systematische Zusammenhänge" möglich wurden" (S. 4). Der Versuch, "die soziokulturelle und die wissenschaftshistorische Perspektive auf [sic] die deutsche Wörterbuchlandschaft einzunehmen" könne nur so weit führen, wie "die Forschungslage es eben zulässt" (S. 3). Die Forschung zu nutzen, ist natürlich notwendig und legitim; der Hinweis auf Forschungslücken für manche Bereiche ist fruchtbar, da er "Anreize zur Weiterarbeit" geben kann (S. 4). Die Art und Weise, wie Haß-Zumkehr die Forschung nutzt, ist jedoch problematisch:

  1. Die Auswahl der Gegenstände des Buches erfolgt nicht ausschließlich nach den Kriterien, die für die Fragestellung relevant sind, sondern danach, ob in der Forschung Untersuchungen dazu vorliegen. Die Aufnahme des Kapitels zur Enzyklopädik z.B. scheint auch dadurch bestimmt zu sein, dass "die Geschichte der Enzyklopädik […] weit besser zusammenfassend dokumentiert [scheint] als die der Sprachlexikografie" (S. 292). Größeres Gewicht bekommen die Fälle, die gut erforscht sind, oder zu denen Haß-Zumkehr selbst gearbeitet hat (z. B. Grimm, Sanders).

  2. In Fällen, in denen die Forschung Lücken aufweist, erliegt Haß-Zumkehr häufig der Versuchung, Forschungsergebnisse durch Vermutungen oder Eindrücke zu ersetzen und subjektive Urteile abzugeben ("eingehendere Untersuchungen der Bearbeitung durch Euling fehlen, aber es scheint, als sei …" S. 194; "man hat beim Lesen irgendwann den unbeweisbaren Eindruck …" S. 192).

  3. Bei der Auswahl der Beispiele, mit denen sie ihre Interpretation belegt, verlässt sie sich auf die Forschung, obwohl diese nach ihrem eigenen Urteil den kulturhistorischen Aspekt bisher nur unzureichend verfolgt habe (die "Forschungslage [ist] bisher weitgehend lexikografiezentriert und sprachhistorisch ausgerichtet", S. 3). Eine eingehende Analyse der Beispielartikel nimmt sie nur bei den Wörterbüchern vor, die sie selbst untersucht hat.

  4. Die Forschung wird nur als Fundgrube für Informationen genutzt; eine kritische Auseinandersetzung mit der Forschung findet nur in Ausnahmefällen statt (vgl. die Wiedergabe der feministischen Interpretation des "Duden" durch Luise Pusch [S. 8 / 9]).

  5. Besonders ärgerlich ist das Zitieren aus zweiter Hand: Quellen werden überwiegend nach einem Forschungsbeitrag zitiert, so dass die Originalstelle oder die Begründung für eine Information erst aufgesucht werden kann, wenn man den Forschungstext nach der Herkunft des Zitats befragt hat. Dieses Prinzip wird so konsequent durchgehalten, dass Haß-Zumkehr selbst aus ihren eigenen Werken nicht die Originalstelle mit Seitenangabe, sondern "nach Haß-Zumkehr" (z.B. S. 181, 283) zitiert. Fehlende Seitennachweise in den Belegangaben (z.B. S. 127) oder Zitate nach Originalquellen, die nicht im Literaturverzeichnis enthalten sind (S. 244: "Garbe zit. in v. Polenz 1994, 244") erschweren die Benutzung zusätzlich.

Gesellschaftsbezug und Zeittypik sind, wie angekündigt, der "rote Faden" (S. 8) des Überblicks, der auf Grund der oben genannten Einschränkungen mehr oder weniger deutlich verfolgt werden kann.

4. 3 Formales

Form und Stil des Buches weisen Mängel auf, die die Nutzung des Buches beeinträchtigen. Der Inhomogenität der einzelnen Kapitel entspricht ein äußerst nachlässiger Umgang mit der Sprache, der auf übergroße Eile bei der Herstellung des Buches schließen lässt. Der durchgehaltene Duktus des mündlichen Vortrags in Form von Fragen ("wie sahen nun die Ordnungsentwürfe […] konkret aus?" S. 274) und häufige saloppe Formulierungen (CD-Rom = "Silberscheibe" S. 377) können noch als persönlicher Stil aufgefasst werden. Aber fehlende Kongruenz ("Ressentiments […] die in der damaligen Gesellschaft […] gang und gäbe war", S. 146; "die herausragende Bedeutung, die das Konversations […]lexikon […] spielte", S. 319), Stilblüten ("Möglichkeiten […], der Chronik lexikografischer Werke einen roten Faden zu verleihen" S. 7; "dass Überzeugungsvielfalt schon innerhalb des postmodernen Individuums blüht" S. 289; "wenn eine Anfrage […] längere Sekunden dauert" S. 378; "das ganze Spektrum […] kulturell wacher Benutzungsmöglichkeiten" S. 257) oder eine Kombination aus beidem ("welche Bezüge ergaben all dieser Aktivitäten innerhalb desselben Kopfes?" S. 104) hätten bei größerer Sorgfalt vermieden werden können.

Am Literaturverzeichnis, das "die wesentlichen und benutzten Titel" der Forschung aufführt (S. 3), ist zu beanstanden, dass die im Text verwendeten Siglen DWB, HWDG und WDG im Literatur-Verzeichnis alphabetisch (DWB z.B. hinter "dtv-Wörterbuch") eingeordnet werden und lapidar mit "Deutsches Wörterbuch", "Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" und "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" erklärt werden. Die Volltitel stehen an einer anderen Stelle im Alphabet (Deutsches Wörterbuch hinter Deutsches Fremdwörterbuch); dort findet man erst die komplette bibliografische Angabe.

Die vielen Tippfehler sowohl im Text (S. 4, 158, 304 …) als auch in den Kopfzeilen (S. 369) sowie die miserable Wiedergabe der Auszüge aus älteren Wörterbüchern (besonders schlimm der Auszug aus dem "Deutschen Wörterbuch" auf S. 125) müssen der mangelhaften Betreuung des Buches durch den Verlag angelastet werden.

4. 4 Der anregende Ansatz

Trotz dieser Mängel, die es erschweren, die Verdienste des Buches angemessen zu würdigen, muss hervorgehoben werden, dass Haß-Zumkehr der Forschung wichtige Denkanstöße liefert. Der Hinweis auf die "Zeit- und Gesellschaftsgebundenheit von Wörterbüchern", die Forderung nach einer "kritische[n] Sichtweise […] der in Wörterbüchern enthaltenen Inhalte und der ihnen zugeschriebenen autoritativen Gültigkeit"(S. 9) ist in einer Zeit längst überfällig, in der Mentalitätsgeschichten eine neue Perspektive auf historische Gegenstände ermöglichen. Auch die Fragen nach den Bedingungen der Produktion und vor allem der Rezeption von Wörterbüchern, die Haß-Zumkehr teilweise unbeantwortet lassen muss, sollten die Forschung anregen, den Ansatz dieses Buches weiter zu verfolgen.


Dr. Beate Hennig
Universität Hamburg
Institut für Germanistik I
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 22.01.2002
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