Hettling über Parr/Wülfing/Bruns: Literarische Vereine

IASLonline


Manfred Hettling

Literarische Vereine im 19. Jahrhundert

Kurzrezension zu
  • Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 75) Tübingen: Max Niemeyer 2000. X / 460 S. / 34 Abb. Kart. EUR (D) 60,-.
    ISBN 3-484-35075-X.
  • Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Hg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 18) Stuttgart: J.B.Metzler 1998. XVIII / 597 S. Geb. EUR (D) 79,90.
    ISBN 3-476-01336-7.


Der Mythos des einsamen Genies, das weltabgeschieden vor sich hin arbeitet und für sich allein seine Gedanken ausbrütet und zu Papier bringt, ist schon lange als Stilisierung des 19. Jahrhunderts entlarvt worden. Doch so überzeugend die Abkehr von diesem heroischen Bild der singulären Schöpfung ästhetischer Produkte gefordert und auch vollzogen worden ist, so ungeklärt ist die Antwort auf die Frage geblieben, wie nun tatsächlich Literatur in einem Prozeß vielfältiger Wechselwirkungen zwischen Individuum und Kollektiv zu Stande – und aufs Papier – kommt. Wer nicht die radikal zugespitzte Polemik Foucaults von der Auflösung des Autors mitmachen will, hat wenig an alternativen Deutungsmöglichkeiten zur Verfügung, die überzeugen können.

Eine Theorie
literarischer Geselligkeit?

Auf dieses Defizit versucht Rolf Parr eine Antwort zu finden, indem er eine "Literatursoziologie literarisch-kultureller Gruppierungen" entwirft, die >Literaturanalyse als Interdiskursanalyse< betreibt, und – als historischen Gegenstand – Associationen von Schriftstellern untersucht. Die Konzentration liegt auf Vereinigungen von Produzenten, ausgespart werden sowohl berufsständische Vereinigungen (also klassische Interessenverbände), wie auch Zusammenschlüsse von Rezipienten (damit Vereinigungen des Publikums im weitesten Sinne). Seine Arbeit, entstanden aus der intensiven Mitarbeit am Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, wurde an der Universität Dortmund als Habilitationsschrift angenommen. Sie enthält ein ausführliches Kapitel, in welchem die theoretischen Grundüberlegungen vorgestellt werden, einen etwa 120-seitigen empirischen Teil zum Werdandi-Bund nach der Jahrhundertwende, und einen etwa 250-seitigen Quellenanhang zu den behandelten Künstlergesellschaften.

Die Grundfrage seiner Arbeit lautet: "Wie lassen sich die sozialen an die ästhetischen und die ästhetischen an die sozialen Materialitäten anbinden, ohne beide immer nur wechselseitig aufeinander abzubilden?" (S. 11). Anders gewendet: In welchem Verhältnis stehen >Gesellschaft< und >Text< zueinander?

Parrs Antwort greift auf Foucault und von der Literaturwissenschaft im Anschluß daran entwickelte Überlegungen zurück. In dem Maße, wie sich spezialisierte Fachdiskurse, Fachsprachen, Fachwissenschaften entwickeln, entsteht das Problem, wie diese überhaupt noch miteinander in Beziehung gesetzt werden können und ein Vermitteln und Verstehen über diese Teilgrenzen hinaus möglich bleiben kann. Literatur nun sei – so Parr – ein privilegiertes Medium für diese Verständigung. Indem etwa in literarischen Texten verschiedene Spezialdiskurse in Berührung gebracht werden, indem Metaphern und Symbole übergreifende Deutungsfiguren formulieren. Durch diese ästhetischen Verfahren bieten die unterschiedlichen >Interdiskurse< gleichsam Vorlagen an, um über die gesellschaftlichen Teilbereiche hinaus >Einheiten< denkbar zu machen. Sowohl die Vorstellung des >Subjektes< als auch von >As-Sociationen< (identitätsbezügliche Gemeinschaften, von der Familie bis zur Nation und zur Menschheit) basieren auf diesen Interdiskursen und den entsprechenden ästhetischen Verfahren.

Parr nun untersucht literarische Vereinigungen, in denen diese Verbindung auf doppelte Weise hergestellt wird: einerseits im sozialen Nebeneinander der Akteure, andrerseits in den Praktiken und Texten, die hier entstehen. Er konzentriert sich hierbei auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und konstatiert, daß Literatur wohl in der ersten Jahrhunderthälfte noch als ein privilegierter Interdiskurs anzusehen sei, diese Dominanz dann jedoch sukzessive verliere und an die Stelle der >reinen< Literatur angestrebte Verbindungen von Kunst, Religion, Wissenschaft und Weltanschauung träten. Sowohl die Kulturkritik als auch politische Ideologien haben hierin wichtige Antriebe gefunden.

Parrs Verbindung von sozialer und ästhetischer Dimension bleibt dabei blass. Er konstatiert im Prinzip lediglich, welche sozialen Akteure sich in den Vereinigungen fanden. Überzeugender ist seine Analyse der interdiskursiven Verbindungen und der Suche nach neuen übergreifenden sprachlichen und künstlerischen Ausdrucksformen. Die Sehnsucht nach Ganzheit, die die Jahrhundertwende als Leitmotiv durchzieht, wird hier plausibel analysiert. Seine Analyse des Werdandi-Bundes zeigt zugleich, in welchem Ausmaß die Suche nach Gemeinschaft und Totalität die zeitgenössische Gesellschaft verändern konnte. Die Erwartungen, die auf eine Überwindung der fragmentierten Wirklichkeit gerichtet waren, wurden schließlich auch zu einer wichtigen Bedingungen für die radikale Umformung der Wirklichkeit.

Das generelle Problem vieler neuer Kulturtheorien wird jedoch auch an Parrs Arbeit deutlich: Es klafft eine große Lücke zwischen dem sehr umfassend erhobenen Anspruch auf Erklärung der Wirklichkeit einerseits – und dem andererseits relativ engen Untersuchungsterrain. Wer die Vorannahmen nicht teilt, wird deshalb die Ergebnisse durchaus würdigen, ihnen jedoch nicht unbedingt den umfassenden Erklärungsanspruch zubilligen.

Handbuch literarischer Vereine

Parrs Arbeit demonstriert an einem Beispiel ausführlich, was im Handbuch in enzyklopädischer Breite und zum Teil in lexikalischer Kürze vorgelegt wird. In 132 Artikeln werden – auch hier unter Ausschluß von berufsständischen Vereinen und >Lesegesellschaften< – literarische Vereine vorgestellt. Deutlich wird dadurch, wie sehr die meisten Schriftsteller in organisierte Vereinigungen eingebunden waren. Netzwerke, Kontakte, Beziehungen, aber auch Konflikte und Streitfälle lassen sich nun auf einer weit gründlicheren empirischen Grundlage untersuchen als bisher. Vor allem auch werden dadurch lokale und regionale Kreise überhaupt erst faßbar. Wenn sonst nur die großen Namen der Literatur in ihren sozialen und geselligen Verästelungen nachvollziehbar sind, tritt hier die zweite und dritte Reihe von Produzenten hervor. Dadurch werden, wie die Herausgeber zu recht betonen, neuartige Verflechtungen zwischen Lokalgeschichten und systematischen Fragestellungen möglich.

Man kann das Handbuch als Grundlagenarbeit im besten Sinne des Wortes verstehen. Als solche ist es uneingeschränkt zu würdigen. Damit ist aber vermutlich das Thema >Verein< noch nicht endgültig ausgereizt. Die Geschichtswissenschaft hat das Thema >Verein< bereits sei längerem entdeckt und sich bisher meist auf die Entstehungszeit im 18. Jahrhundert konzentriert. Im Kontext der Aufklärungsforschung sind Lesegesellschaften, Logen, Akademien auf vielfältige Weise und in großer empirischer Dichte untersucht worden. Das Handbuch schließt sich methodisch an diese Arbeiten an und erweitert die Perspektive zugleich auf das 19. Jahrhundert. Das ist wichtig, da im Verlauf des Jahrhunderts der Verein zur ubiquitären Sozialform wurde. In dem Maße, wie die innere Staatsbildung voranschritt, entwickelte sich im bürgerlichen Zeitalter auch der innere Ausbau der Gesellschaft durch die Sozialform >Verein<.

Die historische Forschung hat nun inzwischen begonnen, neue Fragen an die >Vereine< als historischen Gegenstand zu stellen. Im Anschluß an Klassiker wie Kant und Schleiermacher, aber auch Tocqueville und Weber wird der Verein zunehmend als Form menschlicher Interaktion untersucht, die eine meist unterschätzte prägende Wirkung auf sozialpsychische Prozesse ausübte. Was Weber als >Züchtung einer Qualität< bezeichnet hat, rückt heutzutage, vor allem auch in Arbeiten aus Frankreich und den USA, in den Mittelpunkt der Vereinsforschung: die Formung der Mitglieder durch die im Verein erlebten Prozesse sozialer Interaktion. Die Vereinswirkung nach innen, auf die Mitglieder und ihre Anschauungen und Einstellungen, wird dadurch zum eigentlichen Thema der Vereinsforschung. Was die historische Forschung untersucht hinsichtlich der Vermittlung politischer und sozialmoralischer Normen (und was der Kommunitarismus etwa als Grundlage jeder Gesellschaft ansieht), ließe sich – so ist zu hoffen – in einen weiterführenden fruchtbaren Dialog mit dieser Art literatursoziologischer Arbeiten bringen. In welchem Maße wirkten diese Vereinigungen normbildend, wertprägend, in welchem Maße beeinflußten sie ästhetische Darstellungsmöglichkeiten?

Wenn man sich hierbei vor der Illusion hütet, in sozialen Konstellationen eine Erklärung für ästhetische und ideelle Phänomene zu suchen, sondern vielmehr die Sozialgeschichte als Bedingungen ansieht, Ästhetik in komplexeren Kontexten analysieren zu können, dann kann zukünftig eine intensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Literaturgeschichte und Geschichte zu Stande kommen, die sich um den >Verein< als Sozialform konzentriert.


Prof. Dr. Manfred Hettling
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Institut für Geschichte
Kröllwitzerstr. 44
D - 06120 Halle (Saale)
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 08.07.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Wolfgang Braungart. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]