Heydebrand über Dahlke / Langermann / Taterka: LiteraturGesellschaft DDR

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Renate v. Heydebrand

Literatur — ein Schlüssel
zum Verständnis der DDR

  • Birgit Dahlke / Martina Langermann / Thomas Taterka (Hrsg.): LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2000. XIV, 423 S. Kart. DM 68,-.
    ISBN 3-4764-5236-0.


Um es gleich zu sagen: Dieses Buch ist, wie sonst wenige literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen, spannende Lektüre. Zwar kennt, wer das Geschehen um die Literatur in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik auch nur vom Westen her immer mit verfolgt hat, alles Dargestellte im Umriß. Aber die zehn Fallstudien, die dieser Band versammelt, zeichnen dieses Geschehen bis in die kleinsten, oft aufregenden Details nach:

  • die Auseinandersetzungen um den Expressionismus (Dieter Schlenstedt) und um Franz Kafka (Martina Langermann)

  • die Schwierigkeiten mit Bertolt Brecht (Stefan Mahlke)

  • die Kämpfe um die >richtige<, die >Massen erreichende< Schauspielmethode — Stanislawski oder Brecht (Renate Ullrich)

  • die wechselnden Geschicke Georg Lukács' und seines Werkes (Matthias Marquardt)

  • die Zensurmaßnahmen und die Strategien (oder auch nur Voraussetzungen) für die Durchsetzung >problematischer< Autoren, an den Beispielen Günter Kunerts (Holger Brohm) und des Hinstorff-Verlags in den 60er und 70er Jahren (Kirsten Thietz)

  • die Rezeption Christoph Heins in den westlichen Medien vor und nach 1989, quasi als Vergleichsfall (Terrance Albrecht)

  • den literarischen Umgang mit tabuisierten Themen wie Vergewaltigung von Frauen in den Nachkriegsjahren oder auch Flucht und Vertreibung (Birgit Dahlke) und

  • die diskursive Inszenierung der nationalen Gedenkstätte Buchenwald, nicht zuletzt durch Bruno Apitz' Lagerroman "Nackt unter Wölfen" (Thomas Taterka)

Und wer von all dem noch nichts oder nur wenig gehört hat, erhält eine vorzügliche Einführung.

Theoretische Grundlegung
(Martina Langermann, Thomas Taterka)

Die Zielsetzung des Bandes reicht jedoch über diese exemplarischen Darstellungen hinaus: Die Herausgeber möchten auch einen theoretisch fundierten Versuch vorlegen, der die Besonderheiten des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft in der DDR gegenüber dessen Modellierungen für die westlichen Gesellschaften charakterisieren soll. Ihre These lautet: Die übliche Beschreibung der literarischen Kommunikation als — seit ca. 1800 — ausdifferenziertes autonomes Literatursystem, das zu anderen ebenso ausdifferenzierten Teilsystemen der Gesellschaft in Austausch tritt, oder als abgegrenztes literarisches Feld, das auch in antagonistische Frontstellung zu Staat und Gesellschaft geraten kann, trifft auf die Literaturkommunikation in der DDR nicht zu. Vielmehr arbeiten Autoren und Literaturvermittler, Gesellschaft, Partei und der von ihr gelenkte Staat gemeinsam am Projekt einer neuen sozialistischen Gesellschaft, der DDR. Von allen Beteiligten wird Literatur als maßgebendes Instrument zur Herstellung dieser neuen Gesellschaft verstanden. Daher ist für die Verfasser die DDR als ganze eine "Literaturgesellschaft" und damit Gegenstand ihrer Untersuchung.

Allerdings variieren, ja konfligieren in diesem einen Handlungsraum DDR die genaueren Leitvorstellungen von der neuen Gesellschaft und der Literatur, die sie befördern soll. Und zwar treten solche Konflikte nicht nur zwischen den Agenten, sondern oft in ihnen selbst auf. Die Differenzen, häufig in der Gewichtung des politisch Wünschbaren und der ästhetischen Qualität oder in der Prognose erwarteter oder gefürchteter Wirkungen, manifestieren sich in den Kanonkämpfen, die der Band untersucht. Unter "Kanon" verstehen die Autoren diejenige in- und ausländische Literatur der Tradition wie der Gegenwart, die in der Gesellschaft der DDR verbindliche Anerkennung genießen sollte — also einen >akuten< Literatur-Kanon 1 — , aber auch literaturbezogene Argumentationen von zeitweise kanonischer Geltung, wie Dahlke und Taterka sie darstellen.

Der Literaturkanon war in der Literaturgesellschaft DDR weder tradierter oder in literarischen Zirkeln sich ausbildender Konsens noch auch konnte er von Staat und Partei einfach verordnet werden. Er war vielmehr, bei durchaus asymmetrischer Verteilung realer Macht, Gegenstand ständiger Kontroversen, Verhandlungen, Kompromisse. Ausgetragen wurden die Kämpfe um den >materialen< Kanon von Autoren, Werken, aber auch Interpreten (Lukács oder Stanislawski) über gegensätzliche Deutungen und Wertungen. Diese verhärten sich im >Deutungskanon< der Konfliktparteien, besonders der offiziellen Seite, oft zu Klischees, deren Abbau die Gegner mit wechselndem Glück betreiben. Der innere Zustand der Republik und die äußeren Umstände entscheiden über den Ausgang.

Für die Kombattanten — für die verantwortlichen Kulturfunktionäre wie vor allem für die Literaturproduzenten und -vermittler — war, wie die nachfolgenden Beiträge in Fülle belegen, das jeweilige Resultat der Kämpfe von existentieller Bedeutung: Nicht nur Gewinn an Macht und Ansehen, auch der Verlust der Position, Gefängnis, Ausweisung, ja Tod standen für sie auf dem Spiel. Aufs ganze gesehen zeichnet sich aber seit den 60er Jahren ein wachsender Terraingewinn derjenigen ab, die durch Literatur andere als die offiziellen Vorstellungen einer sozialistischen Gesellschaft propagierten oder auch schlicht literarisch-ästhetische Autonomie in Anspruch nahmen und erreichten.

Der Einleitungsessay beeindruckt durch die Vielfalt der Aspekte, unter denen er die Sonderstellung der "Literaturgesellschaft DDR" in Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien und Beschreibungen von Literaturverhältnissen zu begründen sucht. Allerdings behindert die Form der Darstellung das Verständnis des Lesers: Der Aufbau des Beitrags ist wenig durchsichtig und bringt verschiedentlich Wiederholungen, die theoretischen Kontexte, von denen die Verfasser sich abgrenzen, sind nicht genügend expliziert, und das eigene Konzept kommt nicht zu griffiger Klarheit. Es wäre zu wünschen, daß die differenzierenden Ansätze der Herausgeber namentlich zur Modellierung von Kanonbildungsprozessen aufgegriffen und, auch mit präziseren, nicht überall nur kontrastierenden Vergleichen zu Prozessen in den "westlichen" Gesellschaften, weiterentwickelt würden.

Gemeinsame Voraussetzungen der Beiträge

Der noch experimentierende, sehr offene Status der Einleitung hat zur Folge, daß die weiteren Beiträge von dieser Grundlegung sowohl theoretisch wie praktisch nicht durchgängig angeleitet erscheinen oder gelegentlich theoretisch neu ansetzen. In der Sache jedoch liefern die einzelnen Untersuchungen eine Fülle von Belegen für alle die Züge der "Literaturgesellschaft DDR", von denen die Einleitung handelt, und sind auch ohne den theoretischen Rahmen voll verständlich.

Die Verfasser hatten ein einmaliges Material zur Verfügung: Wohl keine Gesellschaft der Vergangenheit oder Gegenwart hat über ihre Literatur und deren Vermittlung derart akribisch und auch von offiziellen Stellen aus Buch geführt wie die DDR. Freilich wurden sehr viele Dokumente von staatlicher oder parteiamtlicher Seite bis zum Ende der Republik unter Verschluß gehalten, und auch die Seite der Kritiker kommunizierte häufig kryptisch. In den letzten zehn Jahren ist sehr viel von diesem Material zugänglich geworden, diverse Archive — prominent das Bundesarchiv, aber auch Archive verschiedener Institutionen und vieler Autoren — wurden von den Beiträgern intensiv genutzt (leider gibt es darüber außer durch die Anmerkungen und das Abkürzungsverzeichnis keine eigene Information).

Freilich sind die Materialien höchst interpretationsbedürftig, damit auch das Ungesagte, im Nachhinein Verschwiegene oder gar Vernichtete zum Sprechen gebracht werden kann. Die Beiträger bringen dafür gute Voraussetzungen mit. Sie haben wohl durchgängig noch selbst an der literarischen Kommunikation in der DDR teilgenommen: Zwei von ihnen, Schlenstedt und Ullrich, waren bereits renommierte Literatur- bzw. Theaterwissenschaftler, die andern, zwischen 1960 und 1963 geboren, erhielten ihre Prägung in den Auseinandersetzungen, die sie nun erforschen.

Ein musterbildender Beitrag (Dieter Schlenstedt)

Das wohl wichtigste Beispiel für die theoretischen Ausführungen der Einleitung ist die fast 70 Seiten umfassende Rekonstruktion der Geschichte des Verhältnisses von Kommunismus / Marxismus zum Expressionismus durch den Doyen des Bandes, Dieter Schlenstedt. Die Studie führt von der Ausgrenzung des Expressionismus unter den Prämissen eines traditionalen Literaturbegriffs schon in den 30er Jahren, erneut forciert in der DDR mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus während der 50er Jahren, über die Wiederbelebung der Diskussion durch einen russischen >Abweichler< ab 1961 bis zur Aufnahme der verfemten Literaten in den Kanon des anzueignenden "Erbes" in der DDR in den 80er Jahren. Herausgearbeitet wird eine Linie, auf der ästhetisch sensible Autoren und Kritiker zunächst ohne, am Ende dann doch mit Erfolg der Verurteilung des Expressionismus entgegentraten, die von den Führungskräften in Staat und Partei zunächst der Sowjetunion und dann der DDR betrieben wurde.

Die Untersuchung kann als Modell für viele der weiteren Beiträge dienen, weil sie zum einen diachron an sechs Fällen die Kommunikation über Literatur in Phasen gegliedert zeigt, die in andern Studien wiederkehren. Zum andern führt sie grundlegende Muster des literaturbezogenen Diskutierens und Handelns in der DDR vor. Die Phasen werden, wie in der Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung über die DDR bekannt, einerseits durch Zäsuren in der politischen Geschichte gebildet: Gründung der DDR, 17. Juni 1953, Mauerbau 1961 mit noch stärkerer, polit-ökonomischer wie ideologischer Abkoppelung vom Westen, Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1967, Parteitage und Schriftstellerkongresse mit einschlägigen Beschlüssen, z.B. Biermann-Ausbürgerung 1973. Andererseits, und das ist mindestens teilweise neu, schaffen diskursive Ereignisse markante Einschnitte. Im Falle des Expressionismus sind das

  • 1956 Hans Mayers "Opulenztheorie", die den vielfältigen Reichtum der Literatur der 20er Jahre dem dürftigen Einerlei der Gegenwartsliteratur entgegensetzte,

  • 1961 nach dem Mauerbau Ilja Fradkins Plädoyer für ein differenziertes, auch die >linken< Tendenzen im Expressionismus würdigendes Bild,

  • gleichzeitig die Erarbeitung einer sozialistischen Literaturgeschichte in der SU, später in der DDR,

  • und die Kontroverse anläßlich der Geburtstage von Trakl und Heym, die die Grundfesten der Akademie der Künste erschütterte,

  • weiter der in den 60er Jahren beginnende Lyrik-Boom, Indikator für einen neuen Individualismus und Infragestellung des Primats der sozialistisch-realistischen Prosa

  • und schließlich, 1982, der Trakl-Essay Franz Fühmanns mit seiner neuen Ästhetik der Betroffenheit.

Für andere Kanonisierungsgeschichten sind natürlich wieder andere Ereignisse wichtig, so für Stanislawski die Theaterkonferenzen 1953, für Kafka bekanntlich die Konferenz in Lidice 1961, für Kunert die Ausstrahlung seiner Fernsehoper Fetzers Flucht 1962 usf.

Methodisch hat Schlenstedt den von Georg Klaus 2 übernommenen Begriff "aggregiertes Symbol" für seine Analyse des Expressionismus fruchtbar gemacht und mehrere andere Beiträger zu dessen Übernahme motiviert. Das Konzept zielt auf Namen oder Begriffe, die vorhandene subjektive Meinungen, Urteile oder Gefühle bündeln und auf eine intersubjektive Ebene heben, so daß durch ein einziges Wort ein ganzer wertbesetzter Komplex abgerufen werden kann. Mit dem aggregierten Symbol >Expressionismus<, aber ähnlich auch mit dem Namen >Kafka< oder >Trakl<, werden andere aggregierte Symbole wie >Formalismus< und >Dekadenz<, aber auch >Modernismus< assoziiert, und mit dem allen Verfall und Niedergang; so entsteht ein griffiges "Feindbild". Auch >Buchenwald< gerinnt durch den "Lagerdiskurs" zu einem solchen Symbol: Es transportiert nach Taterka die Legende von der Befreiung des KZs durch organisierten Widerstand der kommunistischen Häftlinge und den Mythos der Gründung der DDR auf diesen Widerstand.

Gemeinsame Strategien und Ergebnisse
der Beiträge zu Autoren

Die Einzelheiten der Beiträge des Bandes lassen sich in einer Rezension nicht referieren, obwohl gerade in solchen Details das Neue und Interessante steckt. 3 Gemeinsam ist allen, bei wechselnd intensiver Ausarbeitung theoretischer Aspekte, eine narrative, auf den je eigenen Gegenstand gerichtete Darstellung; übergreifende Einsichten muß, soweit sie nicht von der Einleitung erfaßt sind, der Leser bilden. Das wird jedoch, besonders für die Beiträge über Autoren, durch eine parallele Fokussierung der Aufmerksamkeit unterstützt. Die Strategien der Zensur, die beide Seiten gern über die Gutachterwahl steuern, werden durchsichtig gemacht, und ebenso ihre Konsequenzen: die Überarbeitungen, das immer wieder verzögerte Erscheinen, die Publiktionsverbote.

Im Hinblick auf die große Bedeutung der Verlage für den Kanonsierungserfolg oder -mißerfolg wird oft die Entwicklung von Auflagenhöhe und Absatz festgehalten und zu politischen Ereignissen im In- und Ausland in Beziehung gesetzt. Auffallend häufig läßt sich dabei der Einfluß der Rezeption im Ausland und besonders in Westdeutschland auf die langsame Durchsetzung eigentlich mißliebiger Autoren belegen, aber nicht zuletzt auch das Gewicht von Einzelpersonen, von Lektoren oder Kritikern wie auch von Funktionären. Das Ergebnis der verschiedenen Kanonisierungsgeschichten erstaunt: In allen Fällen — freilich auf einer mit Opfern gepflasterten Straße — kommen in der Spätzeit der DDR letztlich doch die Autoren zum Zuge, deren Werk sich durch ästhetische Qualität und nicht durch die rechte Gesinnung legitimiert. Allerdings leben auch nicht wenige von ihnen dann bereits in der Bundesrepublik.

Repräsentative Beispiele und Sonderfälle

Ein eindringliches Beispiel für Kanonkämpfe um einzelne Autoren und Werke in all den genannten Dimensionen bietet die Geschichte des Hinstorff-Verlags seit seiner Übernahme ins Volkseigentum 1958, die Kirsten Thietz hervorragend aufgearbeitet hat. Trotz der kulturpolitischen Festlegung des VEB Hinstorff auf sozialistische Agitation im Ostsee-Raum entwickelten Verlagsleiter Konrad Reich und Cheflektor Kurt Batt ihn durch kluge Strategien — Genehmes als Basis für weniger Genehmes — rasch zum führenden Verlag für Gegenwartsautoren. Deutlich erkennbar wird hier, daß die Verlagsleiter auf ihre Weise durchaus der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zuarbeiten wollten; nur vertraten sie ein entschiedenes Interesse an Freiräumen für Individualität, Abweichung, Innovation, Experiment.

Die Kosten für den Dauerkonflikt mit orthodoxen Parteiorganen hatte freilich am Ende Kurt Batt zu tragen: Seine Weigerung, der Partei beizutreten, führte 1974 zu seiner Entlassung und trotz seiner hohen auch literaturwissenschaftlichen Qualifikationen zu Stellenlosigkeit und Isolierung. Den Tod des erst 43jährigen schon im Februar 1975 wird man nicht zuletzt als Folge dieser Belastungen ansehen müssen. Daß der Verlag dann durch seinen Nachfolger und einige seiner Autoren unter Kuratel des Staatssicherheitsdienstes geriet, ist ein trauriges Satyrspiel.

Exemplarisch für die Kanonisierungsgeschichte eines einzelnen Gegenwartsautors können die Ausführungen Holger Brohms über Günter Kunert stehen, während Bertolt Brecht, wie Stefan Mahlke zeigt, einen Sonderfall darstellt: Es ist geradezu amüsant zu lesen, welche Schwierigkeiten die offizielle Kulturpolitik damit hatte, sein Werk durch das Modell einer Entwicklung auf die gewünschte Linie zu bringen, während der so geniale wie geschickte Autor seine Kanonisierung gegen alle Widerstände und Vorschriften selbst managte.

>Kanonisierungen< in erweitertem Sinn

Renate Ullrich faßt mit der >Kanonisierung< der >realistischen< Schauspielmethode Stanislawskis ein weniger beachtetes Phänomen ins Auge. Sie argumentiert überzeugend gegen die scheinbare Opposition Stanislawski / Brecht, die sich einer primitiven, von Kulturfunktionären verübten Reduktion des Stanislawski'schen Konzepts auf ein geschlossenes, unschöpferisches "System" verdankt. Seit 1953 auch in der Schauspielerausbildung durchgesetzt, führte diese erstarrende Fehl-Kanonisierung am Ende zu ihrer Selbstblockade und der Wiederentdeckung des >offenen< Stanislawski.

Der Beitrag von Birgit Dahlke läßt sich wohl nur über den Begriff des "aggregierten Symbols" der "Vergewaltigung von Frauen durch die Russen", das den ganzen Komplex der unmittelbaren Kriegsfolgen nach 1945 evozieren konnte, an das Thema "Kanonkämpfe" anbinden: >Kanonisiert< wurde hier ein Redeverbot, eine gewollte Verdrängung dieser Traumata, deren Aufhebung und Auflösung einige Autoren seit den 50er Jahren, zunehmend in den 80ern, anstrebten. Aus verschiedenen, nicht nur politischen Gründen kamen jedoch die meisten Texte um die Thematisierung des Verdrängungsvorgangs und seine Fortsetzung in anderer Form nicht hinaus. Daß Dahlke zum Vergleich auch den Umgang mit den inkriminierten Vorgängen in der Literatur der Bundesrepublik einigermaßen breit untersucht, eröffnet bedeutsame Einblicke in die Formierung kollektiver Erinnerung unter kontrastierenden politischen Bedingungen.

Zuletzt ist noch einmal auf Taterkas Rekonstruktion der Vorgänge zurückzukommen, die >Buchenwald< in einem genau abgrenzbaren Zeitraum, zwischen 1952 und 1958, zum "aggregierten Symbol" werden ließen. Nach der aufregenden Beweisführung des Verfassers spielte für die strategische Transformation des anfangs vielstimmigen, existentiell-offenen Diskurses der Überlebenden des KZs der 1947 in Dachau angestrengte Buchenwald-Prozeß eine entscheidende Rolle. Dieser stellte die kommunistischen >Funktionshäftlinge< — viele davon zu jener Zeit schon in Führungspositionen der DDR — unter Anklage und provozierte damit eine SED-offizielle Gegendarstellung, die zur Basis der DDR-Geschichtsschreibung wurde. Die >kanonische< Version machte aus den Kollaborateuren >Helden des antifaschistischen Widerstands< im Auftrag des Zentralkomitees der KPD; sie und nicht die Amerikaner — was bis dahin alle überlebenden Häftlinge bezeugt hatten — hatten angeblich im April 1945 das Lager befreit. Zahlreiche Veröffentlichungen, das Buchenwald-Denkmal, in Buchenwald vollzogene Rituale (Jugendweihe, Vereidigung zur Nationalen Volksarmee) und nicht zuletzt Bruno Apitz' Erfolgsroman Nackt unter Wölfen stützten und befestigten diese Deutung, abweichende Stimmen wurden unterdrückt. Der "Buchenwald"-Diskurs ist somit ein einprägsames Beispiel für einen auf Machtinteressen basierenden Deutungskanon.

Offene Fragen und Fazit

Einem Buch, das Allgemeines exemplarisch darstellen will, darf man nicht zum Vorwurf machen, daß anderes fehlt, was man auch hätte heranziehen können. Und doch: Gern hätte man zum Beispiel etwas über den Union-Verlag erfahren, der im Gefolge der Ost-CDU agierte und christlich geprägter Literatur eine Nische erhielt. Aus der kanonischen Tradition verschaffte er Johann Georg Hamann einen Platz und erwarb interessante Lizenzen für ältere kanonisierte Literatur, und für die Gegenwart konnte er neben viel Mittelmäßigem doch einen Autor wie Johannes Bobrowski (seinen eigenen Lektor!) bringen und — wieder mit Schubkraft aus dem Westen — durchsetzen. Für eine ganze Generation junger DDR-Schriftsteller wurde Bobrowskis eigenwillig-mündlicher Prosastil geradezu >kanonisch<.

Man könnte auch zentraler fragen, ob nicht ein Teil der lesenden Bürger der DDR (und ihr privater Kanon) nur zufällig nicht im Blickfeld der jungen Beiträger stehen: diejenigen, die dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ablehnend oder skeptisch gegenüberstanden — und damit nicht zur definierten "LiteraturGesellschaft DDR" gehörten. Überhaupt fehlen im Bild der Kanonisierungskämpfe weitgehend die Leser. Sie werden erwähnt, wo sie sich als mehr oder weniger organisierte Kollektive oder schlichte Einzelne zu Wort melden, um das Postulat der "Volkstümlichkeit" oder das Konzept des "Bitterfelder Wegs", der Literatur >von unten<, zu unterstreichen. Auf welche Weise andere — und zahlreiche — Leser und Zuhörer von Autorenlesungen und Liedvorträgen auch eine von der Parteilinie abweichende Kanonbildung beförderten oder hinderten, klingt nur am Rande gelegentlich an. Am Beispiel von Christa Wolf oder Wolf Biermann hätte man dem vielleicht einige Schritte weiter nachgehen können.

In summa bleibt aber der Sammelband eine hoch zu schätzende Erweiterung unserer Kenntnis der Literaturverhältnisse der DDR, ihrer Struktur und ihrer Praxis. Den schon erwähnten Nachteil, daß der Leser sich eine Systematik der Beobachtungen trotz der Einführung doch zum Teil noch selbst erarbeiten muß, könnte er mit der Lektüre einer nur kurz vorher erschienenen Studie von York-Gothart Mix für einen Aspekt wenigstens ausgleichen; in ihr wird auf ähnlich fundierte Weise "DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971—1989)" 4 nach ihren "Grundlagen und Erscheinungsformen" systematisiert. Allerdings steht der zweite Teil über die "Konsequenzen der Zensurierungspraxis im literarischen Leben" leider noch aus.


Prof. Dr. Renate v. Heydebrand
Südstr. 17
D-82131 Stockdorf

Ins Netz gestellt am 20.11.2001
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Anmerkungen

1 Begriff bei Renate von Heydebrand: Probleme des >Kanons< — Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991. Bd. 4: Germanistik, Deutschunterricht und Kulturpolitik. Tübingen 1993, S. 3—22.    zurück

2 Georg Klaus: Sprache der Politik. Berlin 1971, S. 56—76.   zurück

3 Zur Ergänzung vgl. die Rezension von Gerd Dietrich für H-Soz-u-Kult vom 10.08.2001 http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2001/dige0801b.htm    zurück

4 Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998), 2. Heft, S. 156—198.   zurück