Heyer über Pette: Psychologie des Romanlesens

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Petra Heyer

Der Dialog des Lesers mit dem Text

  • Corinna Pette: Psychologie des Romanlesens. Lesestrategien zur subjektiven Aneignung eines literarischen Textes. München und Weinheim: Juventa 2001. 328 S. Kart. DM 49,-.
    ISBN 3-7799-1348-8.


Corinna Pettes empirische Untersuchung von Lesestrategien erwachsener Leser gibt Anworten auf zwei zentrale Fragen, nämlich was Leser tun, wenn sie einen Roman rezipieren, und warum sie diesen Roman unterschiedlich lesen. Hierbei spielt das Konstrukt >Lesestrategie< als Erklärungsmodell eine zentrale Rolle. >Lesestrategie< meint die Intention oder Zielrichtung, nach der oder auf die hin die Handlungen des Lesers während der Lektüre organisiert werden. So übernehmen z. B. den Akt der Lektüre begleitende Lesestrategien die Funktion der Verständnissicherung. Ein Beispiel hierfür sind Bedeutungen, die der Leser den während der Lektüre aufgenommenen Inhalten des Romans zuschreibt, um für sich den >Sinn< des Textes zu konstruieren.

Pette untersucht die Lesestrategien erwachsener Leser in Einzelfallstudien, in denen reale Leser Selbstbeschreibungen von ihren die Lektüre begleitenden, aber auch die Lektüre vorbereitenden und sie verarbeitenden Handlungen geben. Diese Handlungen der Leser werden in einer Tiefenauswertung auf die zugrundeliegenden (Lese-)Strategien hin analysiert und interpretiert, wobei die Forscherin den verschiedenen Umgangsweisen der Leser mit dem literarischen Text unvoreingenommen gegenübertritt.

Ziel der qualitativen Studie ist es, die von den Lesern angewandten Lesestrategien anhand ihrer Selbstbeschreibungen von Handlungen zu rekonstruieren, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie reale Leser einen Roman lesen.

Die weiteren Ausführungen zu der von Pette vorgelegten Studie gliedern sich wie folgt:

  • Durch die für die Anlage der Untersuchung herangezogenen theoretischen und methodischen Grundlagen wird erstens ein roter Faden gelegt, der dem Leser eine Orientierung bieten soll. Im Mittelpunkt steht hierbei das handlungstheoretische Verständnis der Tätigkeit des Romanlesens als >Dialog< des Lesers mit dem Text.

  • Zweitens wird die praktische Durchführung der Studie hinsichtlich der Probanden (Einzelfalldarstellungen) und der aus dem Datenmaterial (Interview vor und nach der Lektüre, Lesetagebuch, Leseexemplar) rekonstruierten Lesestrategien zusammengefaßt dargestellt. Die in Punkt eins nur abstrakt gefaßten Lesehandlungen wie z. B. Bedeutungskonstruktion sowie die entsprechenden Lesestrategien zur Verständnissicherung werden nun konkretisiert.

  • Drittens wird eine m. E. problematische Argumentationslinie der Interpretation von Lesestrategien aus objekttheoretischer Perspektive, d. h. aus der Betrachtung des Romans als >Dialog<, verfolgt. Dadurch wird die vermeintliche Verwechslung von Realität und Fiktion auf seiten des Lesers relativiert. Und viertens werden zentrale Ergebnisse der Studie mit Blick auf mögliche Anwendungskontexte bewertet.

1. Theoretische Grundlagen
und Anlage der Untersuchung

Pettes Untersuchung von Lesestrategien erwachsener Leser steht unter der Prämisse, daß es sich um die freiwillige Lektüre eines selbst gewählten Romans in der Freizeit handelt, wobei die Leser durch die Romanlektüre Lesegenuß anstreben. Lesegenuß wird z. B. über das Abtauchen in eine von den Handlungszwängen des Alltags entlastete Welt erzielt, d. h. über eine Identifikation mit der fiktiven Welt des Romans auf der Ebene des Imaginären. Der Begriff Lesegenuß kennzeichnet beispeilsweise das Resultat des Spannungserlebens des Lesers beim Nachvollzug des fiktiven Geschehens oder das Resultat der emotionalen Involviertheit des Lesers beim Miterleben und Mitfühlen mit den oder einzelnen fiktiven Figuren des Romans.

In der Lesebiographie- und der Leseglücksforschung wird Lesegenuß vor allem als eine zentrale kindliche Erfahrung im Umgang mit Literatur ausgewiesen, die zum Aufbau von Lesemotivation führt und somit einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung einer stabilen Lesekarriere in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter leistet. Um diesen Lesegenuß zu erfahren, setzt der erwachsene Leser nach Werner Grafs Untersuchung von Lesebiographien sog. Lesekonstruktionen ein, das sind Regeln, die literarisches Lesen hinsichtlich der Motivation und Kompetenz des Lesers organisieren. 1

In Pettes Konzept der Lesestrategien werden neben diesen kognitiven Lesekonstruktionen, die im Verlaufe der literarischen Sozialisation erworben wurden und dem erwachsenen Leser als jederzeit aktivierbare Muster zur Verfügung stehen, auch emotionale und soziale Aktivitäten des Lesers einbezogen (S. 317). So kann z. B. der empfundene Ärger des Lesers über Äußerungen oder Handlungen einer fiktiven Figur im Roman zu einer Unterbrechung der Lektüre führen, damit der Leser von der inneren Beteiligung bei der Romanlektüre Abstand gewinnt. Aussagen oder Gedanken, die im Roman dargelegt sind, regen den Leser auch zu eigenen Überlegungen an und veranlassen ihn ggf., diese Überlegungen in Form von wertenden Bemerkungen oder Fragen an den Rand des Textes zu schreiben. Solche Kommentare fungieren in dem >Dialog< des Lesers mit dem Text als Mitteilung, auf die jedoch anders als in einem Gespräch keine Reaktion zu erwarten ist.

Die Lesestrategien werden im Akt des Lesens mit einer spezifischen Funktion versehen. Sie sind jedoch nicht auf bestimmte Funktionen festgelegt, sondern polyfunktional. So dient z. B. die Unterbrechung der Lektüre nicht immer dazu, die während der Lektüre aufkommenden Emotionen des Lesers zu regulieren. Eine Unterbrechung der Lektüre kann auch dazu bestimmt sein, den durch das Textangebot angeregten eigenen Überlegungen des Lesers Raum zu verschaffen. Wird auf diese Weise ein Bezug zwischen dem vom Leser konstruierten fiktiven Geschehen und seinem eigenen Leben hergestellt, spricht Pette von der Strategie der >Aneignung des Medienthemas an die eigene Lebenspraxis<. Medienthema meint in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Thematisierung von Medien im Roman, sondern das Angebot zur Sinn- und Bedeutungskonstruktion, welches der Text unterbreitet.

Lesestrategien können nach dem bisher Ausgeführten im Verlauf der Lektüre zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden. 2 Sie fungieren jedoch im wesentlichen als Mittel zur Selbstvergewisserung des Lesers, wenn er z. B. das Geschehen im Roman mit den eigenen Erfahrungen vergleicht und sich dadurch seines Alltagserlebens vergewissert oder wenn er die literarische Sprache als spezifische Ausdrucksweise des Autors rekonstruiert und sich hierdurch seiner Lesekompetenz vergewissert.

In der Interaktion mit dem Text schafft der Leser nicht nur Bedeutungen und dadurch Deutungen des Textes, die vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen, Weltsichten und Wirklichkeitskonstruktionen, der in der literarischen Sozialisation übernommenen oder neu ausgebildeten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, literarischer Normen und literarischen Wissens konstruiert werden. Er tritt zugleich in einen in der Theorie des symbolischen Interaktionismus sog. >inneren Monolog< (George Herbert Mead) mit sich selbst ein. 3 Die Interaktion des Lesers mit dem literarischen Text ist somit als Sonderform der Kommunikation, nämlich als Parakommunikation i. S. Friedrich Krotz' zu fassen, d. h., durch die Bedeutungszuweisungen des Lesers konstituiert sich das Geschehen im Roman als eine Art Dialog zwischen Leser und Text. 4

Im buchstäblichen Sinne des Wortes meint dies auch den Dialog des Lesers mit den fiktiven Figuren im Roman, mit denen er, wenn auch einseitig, da keine Antwort zu erwarten ist, in Kommunikation tritt. Wenn der Leser beispielsweise durch Textkommentierungen zu den Aussagen und Gedanken der Figuren im Roman Stellung nimmt, behandelt er die fiktiven Figuren >als ob< sie reale Gesprächspartner wären. Diese Vorgänge der Bedeutungszuschreibung und Deutung des Textes, d. h. die Parakommunikation des Lesers mit dem Text, aber auch die Parakommunikation des Lesers mit den Figuren des Textes subsumiert Pette unter dem Konstrukt >Leser-Text-Interaktion< (S. 20 / 1).

Die schon in der Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) gewonnene Erkenntnis, daß der Leser das im Text symbolisch Vermittelte nicht passiv aufnimmt, sondern die Bedeutung des Textes im Akt der Lektüre erst schafft bzw., wie in den Texttheorien des Poststrukturalismus (Roland Barthes) formuliert, mitschafft, wird somit in seiner Blickrichtung umgekehrt. Nicht der Text als symbolisches Konstrukt oder die Materialität der literarischen Sprache und ihr Potenzial der vielfältigen Bedeutungskonstruktion stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der reale Leser und dessen im Akt der Lektüre vollzogene Handlungen. Zu dem oben skizzierten >Dialog< des Lesers mit dem Text tritt in der >Leser-Text-Interaktion< auch die literarische Kommunikation 5 hinzu, d. h. die Auseinandersetzung über die im Akt der Lektüre konstruierten Bedeutungen und Deutungen des Lesers mit anderen Leserinnen und Lesern des Textes in sog. Anschlußkommunikationen. 6

Im Unterschied zum >Dialog< des Lesers mit dem Text sind Anschlußkommunikationen keine parasozialen, sondern direkte soziale Interaktionen, in denen der Leser sich seines Textverständnisses im kommunikativen Austausch mit anderen vergewissert. Da es sich hierbei auch um einen aktiven Vorgang der Bedeutungskonstruktion handelt, gelangt der Leser so möglicherweise zu einem erweiterten Textverständnis. Als eine solche Anschlußkommunikation, in der der Leser Gelegenheit zur weitergehenden Verarbeitung der rezipierten Inhalte und zur Vergewisserung des im Akt der Lektüre gebildeten Textverständnisses erhält, betrachtet Pette das im Anschluß an die Lektüre des Romans geführte Interview (S. 60). Dieses Interview nach der Lektüre dient im Untersuchungszusammenhang der Rekonstruktion des >inneren Monologs<, den der Leser während der Lektüre mit sich führt (S. 317), sowie einer Rekonstruktion der aktuellen Lebenssituation des Lesers.

Pettes Untersuchung von Lesestrategien impliziert somit auch die Ermittlung der sozialen und psychischen Situation des Lesers, wobei das Konzept des Lebensthemas zum Tragen kommt, welches lebensgeschichtlich relevante Fragen und Themen meint, die durch die aktuelle Lebenssituation der Person bestimmt sind. 7 Diese aktuell relevanten Fragen und Themen wirken sich nicht nur auf die Wahrnehmung des Textes aus, indem sie z. B. die Aufmerksamkeit des Lesers auf bestimmte Themen im Text lenken, sondern bestimmen auch das Involvement, d. i. die innere Beteiligung des Lesers bei der Textlektüre.

Des weiteren nehmen die Lebenserfahrungen des Lesers, vor deren Hintergrund Textbedeutungen konstruiert werden, und die erfahrene Lesesozialisation Einfluß auf das Textverständnis. Im Verlaufe der Lesesozialisation werden Rezeptionskompetenzen im Umgang mit literarischen Texten ausgebildet wie z. B. die Fähigkeit zur Rekonstruktion der Komposition des Textes oder die Fähigkeit, die Handlungen und Befindlichkeiten der fiktiven Figuren mitzuerleben und mitzuempfinden 8, die außer den genannten Einflüssen, welche die Person des Lesers betreffen, entscheidend bestimmen, wie der literarische Text gelesen und verstanden wird. In Pettes Untersuchung werden diese Einflüsse in einem Interview vor der Lektüre des Romans erfragt (S. 58). Dieses Interview dient einer Rekonstruktion der erfahrenen Lesesozialisation.

Der Leser selbst wird zudem angehalten, seine die Lektüre vorbereitenden und begleitenden Handlungen wie z. B. die Gestaltung der Lesesituation und die Schaffung einer bestimmten Atmosphäre, in der das ausgewählte Buch ungestört gelesen werden kann und die zur Vermittlung des Lesegenusses beiträgt, oder die Unterbrechung der Lektüre aufgrund äußerer Einflüsse, fehlender Lesemotivation u. a. in einem Lesetagebuch zu notieren.

Zusätzlich sollen die Leser in ihrem Leseexemplar Textstellen unterstreichen oder kommentieren, die ihnen bedeutsam erscheinen. Auch sollen sie an einer bestimmten Stelle des Romans eine Vorauserzählung konstruieren, die darlegt, wie sich nach der bisherigen Lektüre das Geschehen aus ihrer Sicht weiterentwickeln könnte. Sowohl die Textkommentare als auch die Vorauserzählung (S. 62—64) dokumentieren, wie der Leser den Text verstanden hat und welchen Fortgang er nach der bisherigen Konstruktion der Geschehnisse und des Handlungsgangs als möglich oder wünschenswert erachtet. Somit wird aus diesen Angaben eine Rekonstruktion der >Leser-Text-Interaktion< als Parakommunikation des Lesers mit dem Text und als >innerer Monolog< des Lesers mit sich selbst möglich. Die narratologische Auswertung des Interviews nach der Romanlektüre dient der Analyse der vom Leser eingesetzten Lesestrategien und bezieht die vom Leser unterstrichenen und kommentierten Textstellen in einer Nachbefragung ein.

Die so weit resümierte Untersuchung von Lesestrategien erwachsener Leser, in deren Zentrum die parasoziale Kommunikation des Lesers mit dem Text bzw. der Dialog des Lesers mit dem Text steht, bezieht nicht nur verschiedene theoretische Grundlagen wie die Lesebiographieforschung, die Forschungen zur Lesesozialisation, den symbolischen Interaktionismus, die Medienkommunikationsforschung und psychologische Ansätze wie das Konzept der Lebensthemen und des Leseglücks ein, um das Handeln des realen Lesers vor, während und nach der Lektüre zu erforschen. Sie leistet zudem in dem methodischen Vorgehen eine Rekonstruktion von Selbstbeschreibungen der Handlungen und Bedeutungskonstruktionen durch den Leser mit Hilfe von Befragungen in narrativen und leitfadengestützten Teilen des Interviews vor und nach der Lektüre des Romans.

Das auf diese Weise gewonnene Datenmaterial wird nach den Verfahren der Dialoganalyse und der Gesprächsanalyse aufbereitet, so daß die Selbstdarstellung des Lesers in dem Einsatz kommunikativer Mittel zur Gestaltung des Gespräches, aber auch die selektive Darbietung von Erfahrungen und Ereignissen kenntlich wird, die auf mögliche Relevanzfestlegungen des Befragten hindeuten. 9 Insbesondere die Kombination von Selbstbeschreibungen des Lesers mit der Nachbefragung im Interview zu Handlungen, die er während der Lektüre ausführte, sichert in diesem Kontext die Hypothesenbildung zu und die Interpretation von Selbstdarstellungen des Lesers.

Wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, könnte die Analyse und v. a. die Interpretation der aus dem Datenmaterial rekonstruierten Lesestrategien realer Leser des weiteren durch den Einbezug der objekttheoretischen Betrachtung des Romans als >Dialog< abgesichert werden.

2. Befragte Leser und
rekonstruierte Lesestrategien

Das Sample der qualitativen Untersuchung von Lesestrategien erwachsener Leser, die auf Falldarstellungen und nicht auf generalisierbare Aussagen zielt, bilden sechs Personen, die sich aus freien Stücken zu der Lektüre und zum Erwerb des Romans "Morgen in der Schlacht denk an mich" des spanischen Schriftstellers Javier Marias entschlossen hatten. Sie wurden über die Möglichkeit zur Teilnahme an der Studie über ein Informationsblatt in der örtlichen Buchhandlung aufmerksam. Marias' Roman lag zum Zeitpunkt der Studie nicht nur in der gerade erschienenen deutschen Übersetzung vor, sondern war am Buchmarkt ein Bestseller und daher auch Gegenstand der öffentlichen Diskussion im Feuilleton regionaler und überregionaler Tageszeitungen, Literatur- und Fachzeitschriften und in der Sendung "Das literarische Quartett".

Das Spektrum der Probanden, die sich aufgrund des Informationsblattes zur Teilnahme an der Studie gemeldet haben, umfaßt zwei Personen um das 30. Lebensjahr mit akademischem Hintergrund, wovon eine Person zudem in dem Beruf Buchhändler tätig, also als professioneller Leser einzustufen ist. Des weiteren meldeten sich drei Personen im Alter von 40 Jahren, von denen zwei einen akademischen Hintergrund und ebenfalls zwei Personen >Brüche< in ihrer Lebensbiographie (Trennung vom Lebenspartner und berufliche Neuorientierung) aufweisen. Zudem gehört zu dem Kreis der befragten Leser ein 67jähriger Rentner, der durch die Vermittlung seines Neffen als Proband der Studie gemeldet wurde.

Unter diesen sechs Personen sind vier Frauen und zwei Männer vertreten, wobei die Anzahl der Personen mit akademischem Hintergrund überwiegt, während der Rentner, ein ehemaliger Koch, und die 40jährige Umschülerin im Buchhandel, die zuvor als Hausfrau und Mutter sowie in der Landwirtschaft tätig war, eine Ausnahme bilden. Letztgenannten Probanden ist das Reden über Bücher und Leseerlebnisse, wie auch Pettes Analyse und Interpretation der Selbstdarstellungen im Interview demonstriert, im Unterschied zu den Personen mit akademischem Hintergrund nicht selbstverständlich. Ein repräsentativer Ausschnitt aus der Vielzahl erwachsener Leser ist nicht gegeben, jedoch wird durch die Rekrutierung von freiwilligen Probanden in der Studie ein gewisses Spektrum abgedeckt.

Gemeinsam ist allen Probanden die Freude an der Literatur und der ästhetische Genuß literarischer Sprache, die sich in der Kindheit im Umgang mit literarischen Werken ausgebildet hat und in der Jugendzeit und im Erwachsenenalter beibehalten wurde. Sie gelten somit als konstante und auch zum Zeitpunkt der Untersuchung regelmäßige Leser literarischer Werke. Ganz unterschiedlich sind hingegen die Lesebedürfnisse der Probanden, die von dem Wunsch nach Abtauchen in die fiktive Welt des Romans, um dadurch Abstand zum Alltag zu gewinnen, über die Möglichkeit von Fremderfahrungen in der Auseinandersetzung mit alternativen Handlungs- und Wirklichkeitsmodellen bis hin zu der Erwartung einer Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizontes und der Suche nach Orientierung in der aktuellen, krisenhaften Lebenssituation reichen. Ganz unterschiedlich sind mit Blick auf die (Lese-)Biographie der Personen auch die Kompetenzen im Umgang mit literarischen Werken, die ausgebildeten Rezeptionsstile (analytischer, identifikatorischer und Mischstil) und Lesehaltungen wie z. B. die Erwartung, eine spannende Geschichte präsentiert zu bekommen.

Die Lesebedürfnisse und Lesehaltungen sowie aktuell interessierende Themen und Fragen sind vor dem Hintergrund der erfahrenen Lesesozialisation und der aktuellen Lebenssituation entwickelt. Sie bestimmen, wie Pettes Rekonstruktion der Lesestrategien anhand der Daten aus den Einzelfalldarstellungen dokumentiert, maßgeblich die Art und Weise, wie der Text rezipiert wird, aber auch inwiefern die Lektüre des Romans den angestrebten Lesegenuß vermitteln kann.

Trotz der genannten Unterschiede zwischen den Lesern und der daher zu erwartenden unterschiedlichen Rezeptionsresultate, also der erwartbaren verschiedenen Lesarten des Textes, werden im Akt der Lektüre dennoch vergleichbare Lesestrategien zur Befriedigung der individuellen Bedürfnisse eingesetzt. Daß Marias' Roman "Morgen in der Schlacht denk an mich" von allen Untersuchungsteilnehmern zu Ende gelesen wurde, und zwar auch dann, wenn die gebildeten Vorerwartungen und Lesebedürfnisse nicht erfüllt wurden 10, läßt sich wohl auf die Selbstverpflichtung der Probanden zur Teilnahme an der Studie zurückführen. Die von Pette aus dem Datenmaterial rekonstruierten Lesestrategien geben zunächst Antwort auf die Frage, wie der Leser den für ihn geeigneten Lesestoff mit Blick auf seine individuellen Bedürfnisse und Motivationen findet. Diesbezüglich sollen im folgenden vor allem solche Lesestrategien aufgegriffen werden, die von einer Vielzahl der an der Studie teilnehmenden Leserinnen und Lesern eingesetzt wurden.

Alle Leser eignen sich, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, z. B. Vorwissen über den Inhalt des Romans an (S. 296), indem sie den Klappentext oder Rezensionen in regionalen und überregionalen Tageszeitungen lesen bzw. sich über die Besprechung des Romans in der Sendung "Das literarische Quartett" informieren und Leseempfehlungen von Freunden und Arbeitskollegen entgegennehmen. Dieses Vorwissen führt zur Ausbildung von Voreinstellungen und Erwartungen, die der einzelne Leser mit der Lektüre des Romans verbindet (S. 297) und die während der anschließenden Lektüre z. T. revidiert, verändert oder enttäuscht werden.

Welche Handlungen der Leser während der Romanlektüre ausführt und welche Strategien er dabei verfolgt, hängt nicht zuletzt davon ab, inwiefern der Konstruktion einer >kohärenten Geschichte< (sich fortschreibender Handlungsverlauf, zentrales Thema des Romans) von seiten des Lesers Bedeutung zugeschrieben wird (S. 298). Je nach Erwartung, eine solche >kohärente Geschichte< konstruieren oder sich mit der Offenheit der Komposition des Textes arrangieren zu können, setzen die Leserinnen und Leser unterschiedliche Strategien ein, um das Verständnis des Textes und der Geschichte zu sichern (S. 299.

Wesentlich ist hierbei der Befund, daß alle Teilnehmer alltagsweltliches Wissen aktivieren, das die Folie oder den Hintergrund bildet, auf der oder vor dem Textbedeutungen und die erzählte Geschichte konstruiert werden. In diesem Zusammenhang sind die >Strategien zur Erleichterung der Aneignung des Medienthemas an die eigene Lebenspraxis< (S. 302) zu betrachten, wenn Leserinnen und Leser vor dem Hintergrund ihrer aktuell relevanten Lebensthemen beispielsweise bestimmte Themen konstruieren und somit eine spezifische Lesart des Romans in inhaltlich-thematischer Hinsicht offenlegen. In den Kontext der Aktivierung von Alltagserfahrungen bei der Romanlektüre sind aber auch die >Strategien zur Selbstvergewisserung< (S. 302 / 3) zu stellen, was meint, daß in dem als Anschlußkommunikation verstandenen Interview nach der Lektüre z. B. gemachte Erfahrungen im Sprechen über Erlebnisse, an die sich die Leserinnen und Leser während der Lektüre erinnern, als solche rekonstruiert und bestätigt werden.

Aufgrund der von den Leserinnen und Lesern mehrheitlich vollzogenen identifikatorischen Lektüre, die das Mitfühlen und Miterleben mit einzelnen Romanfiguren beinhaltet, sind auch die >Strategien zur Regulation emotionaler Betroffenheit< (S. 301) von Interesse. Als Möglichkeiten der Regulation des emotionalen Involvements während der Lektüre unterbrechen die Leserinnen und Leser die Lektüre, um, angeregt durch das Textangebot, eigene Gedanken anzustellen, oder sie wechseln von der identifikatorischen zur analytischen Rezeption aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters.

Eine Schwierigkeit, die von allen Leserinnen und Lesern als solche benannt wird, ist die Einordnung einer Episode in den Kontext der Geschichte, die als Rückblende oder Erinnerung des Ich-Erzählers Victor den Gang der Handlung im siebten Kapitel des Romans unterbricht. Es handelt sich um ein zeitlich zurückliegendes Geschehen, nämlich die Suche Victors nach seiner Ex-Frau Celia, die er in der Prostituierten Victoria zu erkennen glaubt. Trotz der persönlichen Kontaktaufnahme zu Victoria gelingt es Victor nicht, zweifelsfrei zu entscheiden, ob es sich bei Victoria und Celia um ein- und dieselbe Person handelt.

Als eine Strategie der Verständnissicherung wird z. B. von Herrn A, einem Probanden der Studie, die Deklassierung dieser Episode zur Nebenhandlung angewandt (S. 136). Dies erlaubt es ihm, den Gang der Haupthandlung ohngeachtet des Verständnisses dieser Episode weiter zu verfolgen. Als eine Strategie zur Sicherung der eigenen Lesebedürfnisse wird von einer anderen Probandin, Frau B, die die Erwartung hegt, daß der Roman eine realitätsgetreue Welt abbildet, der Roman auch als Abbildung einer solchen Realität gelesen (S. 300). Auch ihr bereitet die Einordnung der Episode, in welcher Victor auf Victoria / Celia trifft, Schwierigkeiten. Vor dem Hintergrund ihrer realistischen Leserart des Textes greift sie, wie weiter unten noch ausgeführt werden wird, zu einer anderen Strategie der Verständnissicherung.

3. Zur Verwechslung von Realität und Fiktion
während der Lektüre

Bei der Interpretation der aus dem Datenmaterial rekonstruierten Lesestrategien der befragten Leserinnen und Leser scheint mir eine Argumentationslinie Pettes, nämlich daß eine Verwechslung von Realität und Fiktion vorliegt, an einigen Stellen überstrapaziert. 11

Wenn sich z. B. die Leserin Frau E während der Lektüre weitgehend mit der Figur des Ich-Erzählers Victor identifiziert, mit dem sie mitfühlt und aus dessen Perspektive sie das im Roman geschilderte Geschehen miterlebt, so nimmt sie am fiktiven Geschehen aus der Position dieser Figur teil. Die Identifikation der Leserin mit der fiktiven Figur vollzieht sich auf der Ebene des Imaginären, wobei jedoch keine fehlende Trennung von Realität und Fiktion unterstellt werden darf 12, denn die Leserin signalisiert dadurch ihre Bereitschaft, "die dargestellte Welt und auch die Instanzen im Text (...) als wirklich aufzufassen". 13 In diesem "Wirklichnehmen" sieht Jürgen Landwehr den Grund für die "Selbstvergessenheit, die Illusion und das Vergnügen am imaginierend Mithervorgebrachten" ebenso wie für "Furcht und Mitleid", die er als konstitutiv für den Gebrauch von Literatur als "Fiktion" betrachtet. 14

Eine Verwechslung von Realität und Fiktion liegt nach Landwehr dann vor, wenn die Literatur als "Ausdruck der Meinung, des Erlebens etc. des schreibenden Menschen", sprich des realen Autors, betrachtet wird. 15 In Pettes Untersuchungssample liegt diese Verwechslung im Falle von Herrn F vor, der Marias' Roman unter der Prämisse liest, der Autor schreibe eine reale Geschichte, die er selbst erlebt hat (S. 289), womit einhergeht, daß er den Ich-Erzähler Victor mit dem realen Autor gleichsetzt. Diesem Ich-Erzähler / Autor teilt Herr F seinen Standpunkt zu im Text dargelegten Aussagen und Gedanken z. B. in Form von Kommentaren mit (S. 281 / 2), wodurch die Person des Autors für ihn die Funktion eines realen Kommunikationspartners übernimmt (S. 290). Hier ist Pettes Bewertung, der Leser verwechsle Realität und Fiktion (S. 281), ebenso zuzustimmen wie der Interpretation, die parasoziale Kommunikation würde als eine soziale Handlung vollzogen (S. 290).

Komplizierter gestaltet sich hingegen das Verhältnis von Realität und Fiktion während Frau Bs Lektüre des Romans. Sie kommentiert z. B. die oben erwähnte Begegnung Victors mit Victoria / Celia dahingehend, daß sie die Ereignisse, so wie sie im Roman dargestellt sind, für unglaubwürdig hält. Mit der Bemerkung, "ich kann mir nicht vorstellen dass er das äh nicht gemerkt hat" 16, bezieht sie sich darauf, daß Victor nicht zweifelsfrei entscheiden kann, ob es sich bei der Prostituierten Vicoria um seine Ex-Frau Celia handelt. Frau B rezipiert diese Episode somit unter inhaltlicher Perspektive 17, und zwar in Hinblick auf die "Darstellung einer (subjektiv als solcher empfundenen) Wirklichkeit", die sie gemäß der Unterscheidungskriterien "(ir)real und (un)möglich" und wohl auch im Vergleich zu eigenen Erfahrungen als "irreale" Realitätsdarstellung einstuft. 18 Deutlich wird in Frau Bs Deutung, Victors Begegnung mit Victoria / Celia sei eine "reizvolle Männerphantasie", daß die Darstellung im Roman nicht den eigenen, "subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen" entspricht. 19 Ob die Leserin jedoch "im Umgang mit dem literarischen Text (keine) Trennung zwischen real und fiktiv vornimmt", sei dahingestellt. 20

Der Ich-Erzähler Victor erscheint Frau B insgesamt unglaubwürdig, wenn sie ihm attestiert, "er hat sich selbst was irgendwie so in die Tasche gelogen" 21, was in Ansgar Nünnings Modell der verschiedenen Erzählinstanzen im Roman auf das Beispiel des >unzuverlässigen Erzählers< hindeutet. Der >unzuverlässige Erzähler< gibt dem Rezipienten Anlaß, die Glaubwürdigkeit des >Erzählers< in Zweifel zu ziehen. 22 Eine solche Zuschreibung der Unglaubwürdigkeit ist aber erst dann sinnvoll, wenn die vom realen Leser erlebte Realität ebenso wie seine eigenen Wirklichkeitskonstruktionen, Normen und Moralvorstellungen als Maßstab für Glaubwürdigkeit herangezogen werden. Die Wirklichkeitsdarstellung im Roman wird von der Leserin Frau B demnach nicht als >Gegenwelt< betrachtet, sondern eher als Abbildung von Realität, die nach den Kriterien >(ir)real und (un)möglich< beurteilt wird.

>Gegenwelt< meint die durch den literarischen Text erst geschaffene Welt, in welcher die Möglichkeit "zur Erprobung und Erfahrung von Alternativen" gegeben ist, "die so anderswie und -wo nicht möglich" 23, d. h., die an den Erfahrungsraum des Fiktionalen 24 gebunden sind. In der Lesart des Romans als >Gegenwelt< bleibt der literarische Text in seinem Fiktionalitätscharakter bestehen. In der realistischen Lesart des Romans bildet hingegen die Lebenswelt 25 des Lesers den Bezugspunkt für seine Konstruktion einer >kohärenten Welt<, in der sich die fiktiven Ereignisse und Geschehnisse im Roman abspielen. Die medienunabhängige Außenwelt fungiert als Bezugsgröße für Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen des Lesers, ohne daß er deswegen die erlebte Realität mit der Wirklichkeitsdarstellung im Roman gleichgesetzt.

Bei den Reflexionen zu allgemeinmenschlichen Themen, die in Marias' Roman immer wieder den Handlungsgang unterbrechen, handelt es sich aus objekttheoretischer Perspektive strenggenommen auch nicht um "Reflexionen des Autors", "Aussagen des Autors" oder gar um "wir-Angebote des Autors", wie von Pette vermerkt (S. 106, 158, 241 und 199). Sondern solche generalisierenden Äußerungen zu allgemeinmenschlichen Themen, die nur einen "mittelbaren Bezug" zur erzählten Welt aufweisen, werden von den Erzählinstanzen im Text vermittelt und richten sich an einen fiktiven Adressaten. 26 Die >wir-Angebote< stellen ein Einverständnis zwischen der Erzählinstanz und dem fiktiven Leser her, sind also keine >wir-Angebote< des Autors an den Leser. 27 M. E. sind sie aber doppeladressiert, d. h., sowohl an den fiktiven Leser als auch an den realen Leser auf der werkexternen Ebene der Kommunikation gerichtet. Eben diese Doppeladressierung führt leicht zu einer Identifikation der Erzählinstanzen im Roman mit dem Autor — wohlgemerkt in seiner "literarisch erst erschriebenen Autorrolle" 28, wie es Landwehr formuliert, und nicht mit der realen Person des Autors. Zudem fühlt sich der reale Leser des Romans direkt angesprochen, wozu auch die Darstellungsweise wie z. B. die Form der direkten Anrede beiträgt. Die Verwechslung von Realität und Fiktion ist somit durch die die Rezeption steuernden Merkmale und Eigenschaften des fiktionalen Textes vorprogrammiert.

Zwar ist es Pettes erklärtes Ziel, die Handlungen und Strategien des realen Lesers im Umgang mit dem literarischen Text zu ermitteln. Doch ist das Handeln des Lesers, die parasoziale Interaktion bzw. die Parakommunikation des Lesers mit dem Text, entscheidend durch den Text selbst mitbestimmt.

Der fiktionale Text, wie er im Zentrum der Untersuchung von Lesestrategien steht, weist Merkmale und Eigenschaften auf, die bestimmen, wie der Leser den Text rezipiert. Das heißt zunächst, daß diese Textmerkmale und -eigenschaften bestimmen, ob der Leser den Text als einen fiktionalen oder einen nichtfiktionalen Text liest. Bis auf Herrn F lesen alle Teilnehmer der Studie Marias' Roman als einen fiktionalen Text und orientieren sich offenbar an der im Verlaufe der Lesesozialisation vermittelten Ästhetik-Konvention, welche besagt, daß "Äußerungen im Rahmen dieses [werkinternen, fiktiven, A. d. V.] Kommunikationssystems nach anderen Kriterien als denen der Wahrheit und Nützlichkeit [nämlich nach ästhetischen Kriterien, A. d. V.] zu bewerten sind". 29 Dies meint, daß die Erwartung des Lesers suspendiert wird, "einen sofortigen funktionalen Bezug oder Verwertungszusammenhang zum Alltagsleben und dem dort als gültig unterstellten Wirklichkeitsmodell" herstellen zu können. 30

Wie die von Pette anhand ihrer Analyse ermittelten zentralen Funktionsklassen >(Lese)Strategien zur Erleichterung der Aneignung des Medienthemas an die eigene Lebenspraxis< und >(Lese)Strategien zur Selbstvergewisserung< demonstrieren, ist der Leser jedoch grundsätzlich bemüht, im Akt der Lektüre ein Bezug zwischen der medial vermittelten Realität und dem eigenen Leben herzustellen (S. 302 / 3). In welchen Fällen es nun auf seiten des Lesers zu einer Verwechslung von Realität und Fiktion kommt, können objekttheoretische Betrachtungen des Romans als >Dialog< klären helfen. Die >Leser-Text-Interaktion< wäre somit ein Zusammenspiel von wechselseitigen Beeinflussungen in der parasozialen Interaktion, die sowohl vom Leser als auch vom Text ausgehen und das Handeln des Lesers im Umgang mit dem Text bestimmen. 31

4. Lesestrategien als Erklärungsmodell
für literarische Rezeptionsprozesse

Der zentrale Befund bei der Rekonstruktion von Lesestrategien erwachsener Leser scheint mir derjenige zu sein, daß der Leser zur Konstruktion der fiktiven Welt und der erzählten Geschichte im Roman auf eigene Erfahrungen, Wirklichkeits- und Sinnkonstruktionen, Normen und Wertvorstellungen etc. zurückgreift, sowie er Übereinstimmungen mit und Abweichungen von den Konstruktionen in der Textwelt feststellt. Diese Übereinstimmungen und Abweichungen verarbeitet der Leser je nach Bedürfnis, Motivation und Erwartungen.

So hegt der Leser z. B. die Erwartung, im Text Entsprechungen zu seiner Alltagswelt und den eigenen Erfahrungen vorzufinden, um sich seiner eigenen Erfahrungen, Wirklichkeits- und Sinnkonstruktionen in dem Sinne einer Bestätigung zu vergewissern. Oder aber er hegt die Erwartung, im fiktionalen Text eine Möglichkeit der Realitätsabbildung vorzufinden, die nicht unbedingt mit dem eigenen Alltagserleben und den subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen übereinstimmt. Einem solchen Leser bieten sich im fiktionalen Text alternative Handlungsmodelle, Gedanken und Wirklichkeitsmodelle dar, die er gedanklich weiterverarbeitet, um den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern.

Die skizzierten unterschiedlichen Erwartungen wirken sich auf die Rezeptionsresultate und auf die Bewertungen des gelesenen Romans dahingehend aus, daß der Leser z. B. den Realiätsgehalt des dargestellten fiktiven Geschehens in Zweifel zieht oder aber den Fiktionalitätscharakter des Romans bestehen läßt, um eigene Frage- und Themenstellungen anschließen zu können. In beiden Fällen wird ein Bezug zwischen der Textwelt und dem eigenen Leben hergestellt, der entweder zur Ablehnung oder zur kreativen Weiterverarbeitung der im Roman vermittelten Handlungsmodelle und Wirklichkeitskonstruktionen führt.

Die Selbstvergewisserung, d. h. die Tatsache, daß der Leser nicht nur mit dem Text (Leser-Text-Interaktion als Parakommunikation), sondern auch mit sich selbst (innerer Monolog) kommuniziert und in der literarischen Kommunikation zugleich mit der Beschreibung seiner Sinn- und Bedeutungskonstruktionen (Textverständnis) eine Beschreibung von sich selbst gibt 32, scheint mir in diesem Zusammenhang die dominante Funktion der von den Lesern angewandten Lesestrategien. Auch Lesestrategien, die das Verständnis des Textes sichern oder die >Aneignung von Medienthemen an die eigene Lebenspraxis< erleichtern, dienen letztlich der Selbstvergewisserung des Lesers, worin sich eine mögliche Hierarchisierung der rekonstruierten Funktionsklassen von Lesestrategien andeutet. 33

Inwiefern diese Klassifizierung von Lesestrategien erwachsener Leser als Erklärungsmodell für literarische Rezeption oder, anders formuliert, zur Klärung der Frage, warum verschiedene Personen ein- und denselben Roman anders lesen, dienen kann, ist m. E. nicht nur von der "Überprüfung der empirischen Häufigkeit" des Vorkommens solcher Lesestrategien abhängig, wie Pette im Ausblick ihrer Studie angibt (S. 320). Vielmehr sollten darüber hinaus mögliche Anwendungskontexte in Betracht gezogen werden.

Das heißt z. B. mit Blick auf das Praxisfeld Literaturvermittlung im Unterricht an Schulen, Hochschulen, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen, daß die Ermittlung der Lesestrategien, die vom realen Leser bei der Lektüre literarischer Texte angewandt werden, nicht nur zur Klärung der Frage, wie liest er bzw. sie den Text, beitragen kann. Die Ermittlung von Lesestrategien realer Leser wirkt auch auf die Praxis der Vermittlung zurück. Zwar verändern sich in diesem Praxisfeld die von Pette skizzierten Rahmenbedingungen, denn hier steht nicht mehr die freiwillige Romanlektüre in der Freizeit im Vordergrund, sondern die Lektüre ausgewählter Werke sowie die literarische Kommunikation über die rezipierten Inhalte. Zudem handelt es sich nicht, wie in Pettes Studie, ausschließlich um erwachsene Leser, denen eine vorläufig abgeschlossene Lesesozialisation — zumindest, was den institutionellen Kontext (Familie, Schule, Hochschule o. ä.) anbetrifft, — unterstellt ebenso wie der Erwerb von literarischer Rezeptionskompetenz vorausgesetzt werden darf. Doch könnte bei der empirischen Überprüfung der Lesestrategien von Lesern in diesem Praxisbereich ein Kern der von Pette ermittelten Lesestrategien bestätigt werden, der m. E. in der Funktionsklasse der >Lesestrategien zur Selbstvergewisserung< liegt.

Was die Rückwirkung einer solchen Überprüfung von Lesestrategien auf die Praxis der Literaturvermittlung anbetrifft, ist festzustellen, daß der bisherige Ansatzpunkt bei den im Bereich der Fachwissenschaft intersubjektiv vereinbarten literarischen Konventionen und dem Gattungswissen lag, durch deren Vermittlung zwar unterschiedliche, aber dennoch vergleichbare Rezeptionsresultate erzielt werden sollen. Vergleichbar sind unterschiedliche Lesarten ein- und desselben Romans dahingehend, daß z. B. unter der Maßgabe der Ästhetik-Konvention 34 die Suspendierung von Wirklichkeit für fiktionale Texte angenommen wird. Demgemäß wird der Roman als eine Möglichkeit der Realitätsabbildung in der fiktiven Welt und nicht als Abbildung der erfahrenen Wirklichkeit gelesen. Wie Pettes Untersuchung der Lesestrategien erwachsener Leser zeigt, wird im Akt der Lektüre dem konstruierten Geschehen jedoch bisweilen Realitätsstatus zugeschrieben, was darin begründet liegt, daß sich der Leser während der Lektüre mit seinen eigenen Erfahrungen, Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen in den Text einschreibt und womöglich auch die Erwartung einer Realitätsabbildung hegt.

Das Augenmerk müßte sich im Prozeß der literarischen Vermittlung daher stärker auf die Frage richten, wie der reale Leser den literarischen Text liest, wobei auch die Lesart fiktionaler Text als nichtfiktional denkbar ist, die die Ästhetik-Konvention unterläuft. Corinna Pettes Studie zu den Lesestrategien realer Leser weist hierzu den Weg.


Dr. phil. Petra Heyer
Abteilung für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur
Germanistisches Seminar
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstraße 1
D-40225 Düsseldorf

Ins Netz gestellt am 27.11.2001
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Literatur

Michael Charlton und Klaus Neumann: Medienrezeption und Identitätsbildung: kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter. Tübingen: Narr 1990.

Michael Charlton und Michael Klemm: Fernsehen und Anschlußkommunikation. In: Walter Klingler / Gunnar Roters / Oliver Zöllner (Hg.): Fernsehforschung in Deutschland: Themen — Akteuere — Methoden. Band 2. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 709—727.

Michael Charlton und Corinna Pette: Dialog und Beobachtung als Zugangsweisen zum Prozess literarischen Lesens. In: Journal für Psychologie. 7 (1999), S. 47—53.

Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks. Zur lebensgeschichtlichen Entwicklung der Lesemotivation. In: Bellebaum, A. und Muth, L. (Hg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung? Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 181—212.

Norbert Groeben und Margrit Schreier: "Die Grenzen zwischen (fiktionaler) Konstruktion und (faktueller) Wirklichkeit: mehr als eine Konstruktion?" In: Guido Zurstiege (Hg.): Festschrift für die Wirklichkeit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 165—184.

Holly und Ulrich Püschel: Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993.

Friedrich Krotz: Lebensstile, Lebenswelten und Medien: Zur Theorie und Empirie individuenbezogener Forschungsansätze des Mediengebrauchs. In: Rundfunk und Fernsehen. 39 (1991), S. 317—343.

Friedrich Krotz: Der symbolisch-interaktionistische Beitrag zur Untersuchung von Mediennutzung und -rezeption. In: Uwe Hasebrink und Friedrich Krotz, F. (Hg.): Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Verständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster. Baden-Baden: Nomos 1996, S. 52—75.

Jürgen Landwehr: Fiktion oder Nichtfiktion. In: Helmut Brackert und Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 491—504.

Ansgar Nünning: Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. 30 (1997), S. 323—349.

Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze — Personen — Grundbegriffe (2. überarbeitete und erweiterte Aufl.). Stuttgart und Weimar: Metzler 2001.

Corinna Pette und Michael Charlton: Die Dialoganalyse als ein Modell zur literarischen Lese(r)forschung. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL), 18 (1999), S. 121—137.

Corinna Pette: Psychologie des Romanlesens. Lesestrategien zur subjektiven Aneignung eines literarischen Textes. München und Weinheim: Juventa 2001.

Bernd Scheffer: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1992.

Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1989.

Erich Schön: Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Lesen bei Kindern und Jugendlichen. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL), 9 (1996), S. 229—276.

Anmerkungen

1 Siehe Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks. Zur lebensgeschichtlichen Entwicklung der Lesemotivation. In: Bellebaum, A. und Muth, L. (Hg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung? Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 181—212, hier S. 212.   zurück

2 Corinna Pette: Psychologie des Romanlesens. Lesestrategien zur subjektiven Aneignung eines literarischen Textes. München und Weinheim: Juventa 2001, S. 307.   zurück

3 siehe Corinna Pette (Anm. 2), S. 317.   zurück

4 Friedrich Krotz: Der symbolisch-interaktionistische Beitrag zur Untersuchung von Mediennutzung und -rezeption. In: Uwe Hasebrink und Friedrich Krotz (Hg.): Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Verständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster. Baden-Baden: Nomos 1996, S. 52—75, hier S. 56.   zurück

5 Siehe Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze — Personen — Grundbegriffe (2. überarbeitete und erweiterte Aufl.). Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 321 / 2: Literarische Kommunikation meint die Kommunikation über Texte z. B. in Anschlußkommunikationen über den gelesenen Text, wie sie in Pettes Studie in dem Interview mit den Leserinnen und Lesern nach Abschluß der Romanlektüre statt fand.   zurück

6 Siehe dazu Werner Holly und Ulrich Püschel: Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993; Michael Charlton und Michael Klemm: Fernsehen und Anschlußkommunikation. In: Walter Klingler / Gunnar Roters / Oliver Zöllner (Hg.): Fernsehforschung in Deutschland: Themen — Akteuere — Methoden. Band 2. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 709—727.   zurück

7 siehe Michael Charlton und Klaus Neumann: Medienrezeption und Identitätsbildung: kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter. Tübingen: Narr 1990; vgl. Corinna Pette (Anm. 2), S. 47.   zurück

8 Erich Schön: Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Lesen bei Kindern und Jugendlichen. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL), 9 (1996), S. 229—276.   zurück

9 Corinna Pette und Michael Charlton: Die Dialoganalyse als ein Modell zur literarischen Lese(r)forschung. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL), 18 (1999), S. 121—137; Michael Charlton und Corinna Pette: Dialog und Beobachtung als Zugangsweisen zum Prozess literarischen Lesens. In: Journal für Psychologie. 7 (1999), S. 47—53; vgl. Corinna Pette (Anm. 2), S. 55 / 56.   zurück

10 siehe Corinna Pette (Anm. 2), S. 164 ff.   zurück

11 Ebd., S. 311, 313; vgl. S. 183, 243 und 267.   zurück

12 siehe Erich Schön (Anm. 8), S. 258 und 261 / 2; vgl. Corinna Pette (Anm. 2), S. 267.   zurück

13 Jürgen Landwehr: Fiktion oder Nichtfiktion. In: Helmut Brackert und Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 491—504, hier S. 499.   zurück

14 Jürgen Landwehr (Anm. 13), S. 499.   zurück

15 Ebd., S. 501.   zurück

16 zit. n. Corinna Pette (Anm. 2), S. 165.   zurück

17 Siehe zur Unterscheidung der verschiedenen Produktebenen, Paratext (Fiktion oder Nicht-Fiktion), Inhalt und Darstellungsweise, den Beitrag von Norbert Groeben und Margrit Schreier "Die Grenzen zwischen (fiktionaler) Konstruktion und (faktueller) Wirklichkeit: mehr als eine Konstruktion?" (In: Guido Zurstiege (Hg.): Festschrift für die Wirklichkeit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 165—184, hier S. 179). In dem Beitrag wird deutlich, daß zu Beginn der Lektüre die entscheidenden Hinweise vom Paratext ausgehen, der dem Leser signalisiert, ob der vorliegende Text ein fiktionaler oder ein nichtfiktionaler Text ist. Im weiteren Verlaufe der Rezeption stellen für den Leser jedoch zunehmend Inhalt und Darstellungsweise Indikatoren dafür dar, ob der Text als Fiktion oder Nicht-Fiktion zu lesen ist.   zurück

18 siehe Norbert Groeben und Margrit Schreier (Anm. 17), hier S. 167, S. 179; vgl. auch Landwehr (Anm. 13), S. 494.   zurück

19 zit. n. Corinna Pette (Anm. 2), S. 165; siehe auch ebd., S. 166.   zurück

20 Ebd., S. 166; vgl. Jürgen Landwehr (Anm. 13), S. 500: Als >fiktiv< definiert Landwehr, "den Status ausschließlich von Gegenständen oder Sachverhalten, die, obwohl als nichtwirklich gewußt, als wirklich behandelt werden". Auch im Fall von Frau Bs Konstruktion des Geschehens in der genannten Episode aus Marias' Roman ist davon auszugehen, daß sie die Sachverhalte, die sie als >wirkliche< behandelt, zugleich als >nicht wirklich< weiß bzw. deren >fiktiven< Status erkennt. Aufgrund der fehlenden Einsicht in das zugrundegelegte Datenmaterial kann dies jedoch nicht eindeutig entschieden werden.   zurück

21 zit. n. Corinna Pette (Anm. 2), S. 172.   zurück

22 siehe Ansgar Nünning: Die Funktionen von Erzählinstanzen: Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. 30 (1997), S. 323—349, hier S. 330.   zurück

23 Jürgen Landwehr (Anm. 13), S. 502.   zurück

24 Als >fiktional< definiert Jürgen Landwehr (Anm. 13) die "Eigenschaft, (Teil einer) Fiktion zu sein" (S. 499), welche auf "Äußerungen und Text sowie auf das in diesen Äußerungen Hervorgebrachte (die Welt der Fiktion, die Rollen wie die des fiktionalen Erzählers)" angewandt wird.   zurück

25 Siehe zur Bestimmung von Lebenswelt Friedrich Krotz' Abhandlung "Lebensstile, Lebenswelten und Medien: Zur Theorie und Empirie individuenbezogener Forschungsansätze des Mediengebrauchs". (In: Rundfunk und Fernsehen. 39 (1991), S. 317—343, hier: S. 322 / 3): "Lebenswelt ist nicht nur Konzept struktureller Art, sondern auch historisch konkrete [...] >Vorderseite< von Wahrnehmung, Beurteilung und Erleben, im Geschehen nicht problematisierbarer Rahmen individuellen Handelns. Als organisierte Entität baut sie sich an erlebten und sozialisierten Sachverhalten und in Bezug zu gesellschaftlichen Normen und Werten auf, ist in der Sprache und auch in der Denkstruktur abgelagert und vorgegeben und erweist sich so als Ort individueller Produktion und Reproduktion sozialer Sachverhalte und Handlungsbedingungen."   zurück

26 siehe Ansgar Nünning (Anm. 22), S. 338.   zurück

27 Ebd., S. 339.   zurück

28 Jürgen Landwehr (Anm. 13), S. 501.   zurück

29 Norbert Groeben und Margrit Schreier (Anm. 17), S. 166.   zurück

30 Ansgar Nünning (Anm. 5), S. 336.   zurück

31 Siehe z. B. Ansgar Nünnings Ansatz zur Textanalyse (Anm. 22), in dem zwischen verschiedenen Ebenen, der werkinternen, fiktiven und der werkexternen, realen Kommunikation, unterschieden wird. Die werkinterne Ebene umfaßt die Kommunikation der fiktiven Figuren miteinander und die Kommunikation von in der fiktiven Welt angesiedelten Erzählinstanzen mit dem fiktiven Leser sowie die Kommunikation der Erzählinstanzen auf der Ebene der literarischen Vermittlung, die über der fiktiven Welt anzusiedeln ist, mit dem fiktiven Adressaten. In Entgegensetzung dazu steht die werkexterne, reale Kommunikation, wo z. B. Anschlußkommunikationen der realen Leser des literarischen Werkes zu verorten sind. Gleichfalls hilfreich ist in diesem Zusammenhang Norbert Groebens und Margrit Schreiers Konzept (Anm. 17), das bzgl. des Medienhandelns beim Produzenten, so z. B. beim Autor, ansetzt, der bei der Herstellung des Medienprodukts intersubjektiv gültigen Konventionen wie z. B. der Ästhetik- und Polyvalenz-Konvention folgt und mit Bezug auf das Wissen des künftigen Lesers operiert. Über das Medienprodukt, den literarischen Text, wirken sich die bei der Produktion befolgten Konventionen auf die Rezeption des realen Lesers aus, der Signale der Fiktionalität bzw. Nicht-Fiktionalität wahrnimmt und den Text folglich als fiktionalen oder nichtfiktionalen Text liest. Dies schließt allerdings nicht aus, daß der Leser einen fiktionalen auch als nichtfiktionalen Text rezipieren kann.   zurück

32 Vgl. zu den Selbstbeschreibungen der Leser die Arbeit von Bernd Scheffer "Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie" (Frankfurt / M.: Suhrkamp 1992), auf die sich Corinna Pette bezieht.   zurück

33 Siehe Corinna Pette (Anm. 2), S. 309—316.   zurück

34 Vgl. dazu die Bestimmung der Ästhetik- und Polyvalenz-Konvention in Siegfried J. Schmidts empirisch-systemtheoretischer Sicht der Entwicklung des literarischen Systems (Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1989, S. 19): "Die erste Konvention bewirkt, daß Handlungen und Kommunikationen in erster Linie auf solche Werte, Normen und Bedeutungsregeln ausgerichtet werden, die die handelnden Subjekte nach der von ihnen vertretenen Ästhetik für literaturbestimmend halten. Die zweite Konvention eröffnet Handelnden im Literatursystem die Möglichkeit, sich beim Umgang mit literarischen Werken auf eine Optimierung ihrer subjektiven Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten zu konzentrieren."   zurück