Heynen über Bayerdörfer: Grenzüberschreitungen mit Goethes <i>Faust</i>

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Ruth Heynen

Grenz Fall Faust

  • Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Im Auftrieb. Grenzüberschreitungen mit Goethes Faust in Inszenierungen der neunziger Jahre (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 36) Tübingen: Niemeyer 2002. 239 S. 22 Abb. Kart. EUR (D) 56,-.
    ISBN 3-484-66036-8.


Kulturen im Grenzübergang

Gegenstand aktueller Untersuchungen ist der Raum des >Zwischen<, der Heterogenität des Kulturellen, der Differenz innerhalb kultureller Identitäten. Begriffe wie >Original<, >Ausgangs- und Zielkultur<, aber auch >Grenze<, >Grenzüberschreitung< und >Interkulturalität< müssen hinterfragt werden, will man sich einem Konzept hybrider Kulturen nähern, das über die Vorstellung >kultureller Vielfalt< hinausgeht, in der die andere Kultur doch immer noch ein abgrenzbarer Bereich bleibt. Weitgehend ungeklärt ist jedoch, wie die in diesen Zwischenräumen stattfindenden Prozesse zu beschreiben und zu analysieren sind.

Grenzüberschreitungen sind das ausgewiesene Thema eines Sammelbandes, den der Münchner Theaterwissenschaftler und Germanist Hans-Peter Bayerdörfer als 36. Band der von ihm selbst gemeinsam mit Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele seit 1988 herausgegebenen Reihe Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste vorgelegt hat. Dass Bayerdörfer, der in verschiedenen Forschungsprojekten mit Alteritäts-Konstruktionen und interkulturellem Theater befasst ist, die Studie mit dem Titel Im Auftrieb. Grenzüberschreitungen mit Goethes >Faust< in Inszenierungen der neunziger Jahre herausgab, ließ entscheidende Impulse zur Aufarbeitung des oben angerissenen Problemfeldes erwarten.

Grenzüberschreitung als
historisches und gegenwärtiges Problem

Breit gefächertes theaterhistorisches Wissen rund um Faust-Aufführungen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und ausführliche Analysen einzelner sich mit >Grenzen< auseinandersetzender Inszenierungen will die Studie bereit stellen. Diskutiert werden in einer überblicksartigen Einleitung und acht Einzelstudien verschiedene Inszenierungen des Goetheschen Faust seit der Spielzeit 1989 / 90. Maßgabe und Maßlosigkeit der >Grenzüberschreitungen< als historische und gegenwärtige Probleme sind Thema der ausgewählten Inszenierungen. Diese werden als Gegenstände der vorliegenden Untersuchungen interessant insoweit die dargestellten Probleme ihrerseits >Grenzen< überschreiten. Und "Grenzen sind dabei", so Bayerdörfer in seinem Vorwort, "konkret als politische, sprachliche oder kulturelle gemeint" (S. 4).

Gefragt wird vor allem danach, wie die jeweiligen Bühnen in der "kulturellen Situation eines Weltumbruchs" (S. 3) – und da die Bewegungen aus der deutschsprachigen Perspektive gezeigt werden, ist hier zuerst einmal die deutsch-deutsche Wiedervereinigung gemeint – von bedrängend spürbarem, jedoch kaum überschaubarem Ausmaß mit diesem Problemhorizont auf den Goetheschen Text zu- und mit ihm umgehen. Ohne sich eine Einigung vorzunehmen, gehen die Studien aus von den Voraussetzungen, Umständen und kulturellen Kontexten der jeweiligen Bühnen, vom Erscheinungsbild der Aufführungen oder von der Resonanz, die sie regional und überregional finden. Das Vorwort nennt als gemeinsame Frage aller Beiträge: Wie findet die Gegenwart, die im Text immer noch ihr primäres Recht behauptet, an dem literarischen Text Gegenhalt und wie entwirft sie von daher die szenische Artikulation? In den Blick genommen werden soll das Verhältnis von Bühnenspiel und literarischem Text.

An die vom Herausgeber verfasste Einleitung Streiflichter zur Bühnengeschichte von Faust seit den Spielzeiten der Wende, die – anders als vom Titel angekündigt – einen Überblick über die wichtigsten Faust-Inszenierungen seit dem Zweiten Weltkrieg (!) in Ost- und Westdeutschland gibt, schließen sich Einzelanalysen verschiedener Faust-Inszenierungen an. Gegenstand dieser Untersuchungen sind Inszenierungen mal des vollständigen Goetheschen Textes, mal des ersten oder des zweiten Teils, mal des Urfaust , mal Übersetzungen, mal Bearbeitungen des Faust-Textes bzw. -Stoffes. Vorgestellt werden Inszenierungen von Wolfgang Engel, Einar Schleef, Christoph Marthaler, Giorgio Strehler, William Kentridge, Stephan Müller und Peter Stein.

Der Band enthält im Anschluss an die Einzelbeiträge eine sehr hilfreiche tabellarische Dokumentation der in den Aufsätzen genannten Faust-Inszenierungen, die ermöglichen soll, das Beschriebene und Behauptete am Dokumentationsmaterial zu überprüfen oder weitergehende Fragestellungen daran anknüpfend zu untersuchen. Hier findet man neben den Namen der Mitarbeiter der jeweiligen Inszenierung auch das Premierendatum, Angaben zu Kritiken und Essays, zu audiovisuellen Aufzeichnungen u.ä. Eine Auswahl von Fotos beschließt, eindrucksvoll die enorme Vielfalt der Inszenierungen illustrierend, den Band.

Positionsbestimmungen diesseits
und jenseits der deutsch-deutschen Grenze

Hans-Peter Bayerdörfer über
Faust -Inszenierungen seit '45

In seiner Einleitung beleuchtet Hans-Peter Bayerdörfer für die Geschichte der Faust-Inszenierungen in Nachkriegsdeutschland exemplarische Bühnenereignisse. Der entstehende Überblick über die generellen Veränderungen, die sich dabei in den 90ern abzeichnen, stellt einen Versuch dar, die wichtigsten dynamischen Entwicklungen, die sich über >Grenzen< hinweg ergeben haben, aus der Perspektive der deutschsprachigen Theaterlandschaft nachzuzeichnen.

Das erste Licht streift die Spielzeit der Maueröffnung, 89 / 90, als in Ost und West bedeutende Faust-Inszenierungen entstanden. Vor dem Hintergrund bedeutender Arbeiten der vorausgegangenen Jahre (Sagerts UrFaust im Theater am Schiffbauerdamm und Dorns Faust I an den Münchner Kammerspielen) schlägt Bayerdörfer den Bogen zu den bedeutendsten Inszenierungen des Jahres 1990: Engel und Görne in Dresden, Kirchner am Berliner Schiller Theater und Freytag in Wuppertal, – um dann den Weg zurückzugehen zu theatergeschichtlichen Zusammenhängen aus dem geteilten Nachkriegsdeutschland und der ideologiegeschichtlichen Verschlingung des Goetheschen Faust in "Wege und Abwege des deutschen Nationalbewußtseins" (S. 5).

Bekenntnisse nach '45

Bayerdörfers These lautet, dass die wesentlichen Positionsbestimmungen der Theater in Nachkriegsdeutschland mit Faust -Inszenierungen vollzogen wurden, wobei das implizite oder explizite Bekenntnis gegen nationalsozialistische Faust-Ideologie im Zeichen des >Faustischen< und des >wahrhaft Deutschen< das Pathos der jeweiligen Versuche ausmachten.

Der Faust-Reigen wird eröffnet mit Wolfgang Langhoffs Inszenierung des ersten Teils am Deutschen Theater. Diese stehe am Anfang einer Serie von Bemühungen, Goethes Werk und die Faust -Gestalt im Sinne des Erbe-Konzepts der DDR-Kulturpolitik zu präsentieren und damit den sozialistischen Staat als legitimen Erben der progressiven Phasen der bürgerlichen Ideologie-Entwicklung auszuweisen. Den durch die Führung der DDR positiv bewerteten Inszenierungen stellt Bayerdörfer zwei berühmte dem Kulturdiktat der 50er Jahre zum Opfer gefallene Arbeiten gegenüber: die Fassung von Brecht und Monk und das Opernkonzept von Hanns Eisler. In der BRD stehe zeitgleich nur wenig dem gegenüber: erst Gustav Gründgens' Hamburger Inszenierung 57 / 58 habe einen ähnlichen Rang erreicht.

Eine große Umwertung sei erst in den 70ern in Ost und West geschehen, – allerdings in entgegengesetzter Richtung: Die in diesen Jahren entstehenden Ost-Inszenierungen lehnten sich mit einer unsicheren, an sich selbst zweifelnden Faust-Figur auf gegen das von Schule und Hochschule hochgehaltene systemkonforme Faust-Bild. In der BRD dagegen, in der sich nun das Theater als ideologiekritisch verstand, wurden die entstehenden Faust-Panoramen bestimmt durch eine Abwehr des Ästhetizismus, der a-politischen Bürgerlichkeit der Gründgens-Inszenierung und waren erfüllt von einem philosophischen Optimismus, der sich in den 80ern "in dem Maße, in dem sich das >Projekt Moderne< selbst im Zeichen ökologischer Katastrophenaussichten als Fehlschlag zu enthüllen schien" (S. 11) verlor. Beispielhaft nennt Bayerdörfer hier Grübers und Flimms dunkle, von ökologischen Katastrophen überschattete Faust -Inszenierungen und die groß angelegte
Faust I- Inszenierung von Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen. Als Perspektive der Inszenierungen der 80er nennt Bayerdörfer die Negation jeder Möglichkeit eines utopischen Ausblicks.

Kein Festspiel zur deutschen Einheit

Das Jahr der Wiedervereinigung dann habe unter dem Motto gestanden: Kein Festspiel zur deutschen Einheit. Das die Spielzeit eröffnende Programm des Schillertheaters z.B. sei in erster Linie "Suche nach Orientierung" (S. 14) gewesen und habe von "der Rückversicherung bei den idealistischen Ansätzen des Bildungstheater-Gedankens" (ebd.) bis zur "Berufung auf die Romantik" (ebd.) gereicht, um schließlich zu einer Faust -Inszenierung zu kommen, welche universale Fragen zur Position der heutigen Menschheit und zur Rolle von Intellekt und Vernunft in ihrer Geschichte stellte. Und – so resümiert Bayerdörfer – mit Inszenierungen, die Fragen stellten, aber keine Orientierung bieten, sei ">kein Staat zu machen<"
(S. 15), weder auf der Ebene eines Nationaltheaters noch im Sinne einer ideologischen Einheitsperspektive im weiteren Sinne.

Die Aufführungen des Jahres der Wiedervereinigung nahmen subtil und sachkundig die Nationalgeschichte und deren Widerschein in Faust-Sujet und Faust-Ideologie unter die Lupe, indem sie das Thema der Faust-Interpretation der Nachkriegszeit als übergreifend verstanden, weil es in die Ost und West gemeinsame Vorgeschichte zurückreicht. Beispielhaft werden Inszenierungen von Schleef und Karge, aber auch Inszenierungen des Faust-Dramas Versuchung von Václav Havel oder des Kroatischen Faust von Slobodan Snaider genannt. Dabei begreift er die Rückkehr des Faust -Themas aus dem östlichen Nachbarland als Entgegnung auf die frühere, kulturell expansive >Grenzüberschreitung<, die in anderer Richtung erfolgt sei. Die ehemals mit dem Nimbus Goethes verbundenen kulturellen Zusagen seien im Zuge der nachfolgenden politischen >Grenzüberschreitungen< aufgelöst worden, nicht ohne dass diese Auflösung eine bleibende Gewaltspur hinterlassen habe, die bis in die Gegenwart führe.

Europäische Einbindung
und außereuropäische Perspektive

Mit besonderem Nachdruck weist Bayerdörfer auf Bühnenereignisse der 90er hin, die den deutschen Faust europäisch einbinden: Marthalers Faust √ 1+2, in dem die "Grenzüberschreitung im Zeichen Fausts" (S. 24) die europäische Avantgarde des Jahrhunderts in ihrer westlichsten Extension erreicht und die Aufführung des Théâtre Ubu aus Quebec, die eine bruchlose Osmose von Goetheschen und Pessoaschen Passagen in allen Rollen aufweist, Strehlers Faust pour l'Europe und das Seidenstraßen-Projekt von Roberto Ciulli. In diesem Zusammenhang hebt Bayerdörfer besonders Initiativen von Künstlern innerhalb und außerhalb der deutschsprachigen Länder hervor, die dem Goetheschen Faust neue internationale Aufmerksamkeit verschafften, indem sie ihm die Konturen eines europäischen Themas verliehen: er nennt hier Klaus Michael Grübers Faust Salpêtrière und den Faust von Antoine Vitez. Die Inszenierung des Faust I an der Comédie Française dann sei dem Versuch gleichgekommen, das Stück ins répertoire du Français zu übernehmen.

Erst die südafrikanische Inszenierung Faustus in Africa! aber bezeichnet Bayerdörfer, "um in der Metaphorik der Grenzüberschreitung zu bleiben", als "Quantensprung in der Faust-Rezeption" (S. 23): im Kontext der weltweiten englischen Sprachgemeinschaft werde hier eine radikal neue regionale und kulturelle Lokalisierung des Faust-Themas aus außereuropäischer Perspektive vorgenommen.

Fall der deutsch-deutschen Grenze

Ulrich Kühn über Wolfgang Engels Faust
im Jahr der Wiedervereinigung

In der ersten Einzelanalyse richtet Ulrich Kühn den Blick auf eine Faust-Fassung des Staatsschauspiels Dresden für drei Abende aus dem Jahre 1990. Der durch Leopold Jessners Theaterverständnis geprägte Regisseur Wolfgang Engel eröffnete mit dieser Inszenierung die neue Spielzeit. Die Probenzeit war durch den Sturz des SED-Regimes geprägt, die Inszenierung fiel in die Übergangsmonate unmittelbar vor dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Die Adaption von Wolfgang Engel und Dieter Görne stellte sich – so Kühn – in einer bis dahin nicht erprobten Pointierung Traditionen philologischer und theatraler Faust-Rezeption.

Kühn beobachtet in dieser Inszenierung auf der einen Seite eine radikale Psychologisierung der Faust-Figur, die Verinnerlichung des dramatischen Konflikts und beschreibt die "entschiedene Pointierung des dezidiert modernen Momentes am Drama" (S. 33). Auf der anderen Seite unterstreicht er den Zeitbezug des Stückes, wobei er sich auf das Jessnersche Postulat bezieht, die erste und letzte Frage an ein Stück sei, ob es eine aktuelle menschlich-politische Idee in Dichtung umsetze. Engels Faust fungiere als Repräsentant des DDR-Intellektuellen: wie dieser in der Zeit vor der Wiedervereinigung starte er durch und durch haltlos ins Geschehen, da allem, worauf sein kritisches Vordenken einst siedelte, in der Spätzeit der DDR der Boden entzogen worden sei.

Kühn behauptet nun "Hier" und "Drüben" (bei Faust irdisches Leben und Leben nach dem Tod / Jenseits) sei von den DDR-Bürgern nach den Ereignissen 89 / 90 unmittelbar auf DDR und BRD bezogen worden. Das hätte in der damals aktuellen Situation der Wiedervereinigung zur Folge gehabt, dass der aufrührerische Impetus, den diese Lesart vor dem November 1989 noch zu entfalten vermochte, sich zum Zeitpunkt der Premiere ins Unbestimmte verflüchtigt haben musste: die Opposition gegen diejenige DDR, in der man 1988 zu Beginn der Faust-Arbeit gelebt hatte, habe sich erfolgreich erledigt.

Eine Brust voller Seelen

Im Anschluss an die Klärung des zeitpolitischen Kontextes beginnt nun Kühn mit einer Analyse der in der Inszenierung – zunächst von Faust I – zum Tragen kommenden "Spielarten [...] monologischen Sprechens" (S. 40). Da in der die Faust-Figur psychologisierenden Inszenierung (s. o.) die Rolle von zwei Darstellern (die beide Faust verkörpern, aber den neu aufgeteilten Text von Faust und Mephistopheles sprechen) gespielt wird, ergeben sich hier verschiedene Modi des "Monologs": Kühn unterscheidet das synchrone Sprechen beider Faust-Darsteller und interpretiert das als Einigkeit Fausts mit sich selbst, das versetzte Sprechen identischen Textes, das getrennte Sprechen, welches er als inneren Dialog interpretiert, als "Auseinandertreten von räsonierendem und in der Situation befangenen Ich" (S. 41). Das getrennte Sprechen wiederum unterteilt er in den kontroversen inneren Dialog mit einander zuwiderlaufenden Strebungen und den affirmativen, die Gedankenentwicklung forcierenden inneren Dialog ohne semantischen Richtungswechsel. Hinzu kommt als letzter Modus des Sprechens der Polylog (Dialog des doppelt verkörperten Faust mit andern dramatis personae) hinzu. So entfalte sich die keimhafte Konstruktion der zwei widerstreitenden Seelen in der Komplexität der neu gefundenen Textzuweisungen und ihrer differenzierten Darstellungsmodi: "Einer Brust voller Seelen verleihen die Darsteller Körper und Stimmen."

Im Zentrum von Kühns Inszenierungsanalyse steht die These vom Identitätssucher Faust, dessen psychischer Konterpart als zweite Figur ins Spiel gebracht wird. Der Autor postuliert im folgenden diese These sei keine originäre Erfindung des Dresdner Teams, die sie lediglich originell akzentuiere. Er stellt fest, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Faust-Rezeption (er nennt hier historisch weiten Raum greifend Karl Rosenkranz, Georg Lukács, Rüdiger Scholz, Hans Arens und Thomas Metscher) durch die Dresdener Adaption mit der "Spektakelfreiheit des Theaters" (S. 45) pointiert herausgearbeitet wurde: da es in ihr einen individuierten Mephisto nicht gibt, können Fausts Verbrechen keinem anderen als ihm selbst angelastet werden. "Originell jedenfalls ist die Weise der theatralischen Aktualisierung von Gedanken älterer Genese, die hier mit dramaturgischer und inszenatorischer Phantasie erst voll ausgeschöpft wurden" (S. 46).

Kritik der Rezeptionsgeschichte

Kühns Bearbeitung des 2. Teils lässt eine ähnlich genaue Analyse vermissen, sie beschreibt große Passagen lediglich. Kühn sieht hier das Thema des ersten Teils zurücktreten: Statt dessen zeige die Inszenierung ihren Protagonist als Repräsentanten des kapitalistischen Westens, der sich in der untergehenden sozialistischen Welt als Helfer in wirtschaftlicher Misere geriert. Die konzeptionelle Hauptlinie sei der szenisch wirkungsvoll realisierten politischen Stellungnahme nachgeordnet. Gezeigt werde die ritualisierte Selbstfeier institutionalisierten sozialistischen Frohsinns.

Nicht eine Demontage des Goetheschen Dramas erkennt Kühn in dieser Inszenierung, sondern die vehemente Kritik seiner Rezeptionsgeschichte auf den DDR-Bühnen. Er ordnet die Inszenierung in den Kontext der in der BRD und DDR seit 1949 sich vollziehenden "ideologischen Aufrüstung" ein. Die Faustfigur verfalle hier einer umfassenden Kritik: mit der Figur treffe diese die ideologische, über das Erbekonzept vermittelte Rezeption des Dramas als Ganzem.

Grenzen der Kritik

Hajo Kurzenberger über Steins Faust
für die Expo 2000 zwischen Lob und Tadel

Keine Einordnung in den politischen Kontext, auch keine umfassende Aufführungsanalyse will Hajo Kurzenberger in seinem Beitrag Gegen den Strom, der sich mit dem von Peter Stein im Rahmen der Expo inszenierten Faust beschäftigt, herstellen, sondern versuchen, die Standpunkte dieser Arbeit aus dem Jahre 2000 zu markieren und an einigen Stellen "durchaus subjektiv" (S. 20) zu kommentieren.

Eigentlicher Gegenstand seiner Überlegungen ist die aktuelle Theaterkritik. Mit Hilfe der Ergebnisse seiner Studie will er diejenigen befragen und kommentieren, die mit ihrer Theaterkritik das Bild dieser Aufführung prägten. Kurzenberger rechtfertigt seine Auswahl gerade dieser Inszenierung damit, dass Steins textpuristischer Faust ein "Faust >gegen den Strom<" (S. 204) sei und bezeichnet seinen eigenen Aufsatz als "Nachtrag" (ebd.), der "abschließend" ein Stück betrachten will, welches von der überregionalen Theaterkritik einhellig verrissen, vom Theaterpublikum aber (zum Teil enthusiastisch) gefeiert wurde, – wobei die Verwendung des Wortes "abschließend" die Absicht befürchten lässt, mit diesem Aufsatz die Kommentare zu dieser Aufführung zu beenden.

Vorverurteilung

Dabei betrachtet der Autor sowohl Ankündigungen in der Presse als auch veröffentlichte Statements von Regisseur und Hauptdarsteller als Teil einer Vorgeschichte dieser Faust -Inszenierung, die wiederum ein wichtiger Teil ihrer Wirkung sei und in diesem speziellen Fall in der Vorverurteilung als Hybris-Inszenierung gipfelt. An Steins Faust lasse sich exemplarisch studieren, dass es nicht allein auf den ästhetischen und theatralen Eigenwert einer Aufführung ankomme. Das Aufführungsereignis einer Mega-Produktion (und hier bezieht er sich auf einen Christopher Balmes zu Strehlers Faust -Projekt, der 1993 im New Theater Quarterly erschien) sei nur Teil eines größeren Wirkungszusammenhangs, der im Falle Stein seine Brisanz und Stärke aus einer differenten Bewertung seiner künstlerischen Position und Arbeit beziehe.

Kurzenberger beginnt mit einer Skizze der fast zwanzigjährigen Arbeit Steins, angefangen von der Auführung der Drei Schwestern im Jahre 1984, in der sich – nach Auffassung eines Teils der Theaterkritik – seine Wende zum Werk vollzog. Mit dieser Darstellung versucht der Autor dem Leser das Öffentlichkeits- und Rezeptionsfeld der Aufführung begreiflich und damit den Wahrnehmungsrahmen besser bestimmbar zu machen.

Rückkehr zum Text

Er konstatiert, das Gegenwartstheater suche sein Heil jenseits literarisch-dramatischer Texte: im Postdramatischen, Multimedialen, Körperfixierten und hebt hervor, Stein stelle sich (zumindest in seiner Rede anläßlich seiner Ehrung mit dem Kortner-Preis 1996) gegen diesen gegenwärtigen Stand theatraler Innovation. Stein berufe sich auf etwas, das Kortner sehr wichtig war: auf die "Tradition des europäischen Theaters", die der Text sei und zwar "der Text eines Autors, von einem individuellen Gehirn entworfen und festgehalten" (S. 206).

Mit zahlreichen Äußerungen Steins und einigen Beispielen aus der Inszenierung versucht Kurzenberger die fast einhellig negative Kritik zu widerlegen und kommt nach dem Innovations- und Erkenntnispotential fragend, zu dem Schluss, dass das "'ganz normale'" (S. 215) Theater des Peter Stein das "ganz unnormale" (ebd.) Theater der heutigen Zeit sei. Kurzenberger unterstreicht, Stein habe sich bewusst für einen Verstehenskontext der Philologen entschieden und versuche das Stück (und er zitiert Stein) "von dem Erkenntnisstand aus, den man heute haben kann, vorzustellen, zu präsentieren" (S. 218). Er behauptet, die Inszenierung überprüfe philologische und literaturwissenschaftliche Forschung – und das mit erstaunlichen Ergebnissen. Die vollständige Fassung des Stückes gebe dem Zuschauer ein neues Gefühl für die "eigentlichen Proportionen" (S. 218) des Stückes, ohne Verschiebung und Verkürzung durch Striche.

Obwohl Kurzenberger selbst hinweist auf die nicht nur hermeneutisch bedenkliche Position der Forderung nach (oder schon der Behauptung der Möglichkeit von) Werktreue, schleicht sie sich hier ein,– als sei nicht jede neue, mit Sorgfalt erarbeitete Fassung des Stückes (Strichfassung, aber auch Neufassung) auch eine >eigentliche<. Genau dies ist nämlich die Falle, in die Steins Inszenierung lockt. Nicht die Kritik der ästhetischen Selbstbespiegelung (Sybille Wirsing, vgl. S. 203) oder des toten Theaters (Henning Rischbieter, vgl. ebd.) scheint mir das Entscheidende zu sein, sondern die Warnung vor dem, was sich hier in der Wortwahl ausdrückt: davor mit Stein von einem >Begreifen< und vermeintlich objektiven (nicht interpretativen) >Darstellen< des Faust zu sprechen, das im Gegensatz steht zum >Verkürzen< und >Verzerren< anderer Fassungen. Das >eigentlich< tritt auf die Bühne, ohne zu beachten, dass doch auch Goethes Faust schon eine Antwort, ein Weiterschreiben vorgängiger Texte war, in dessen Tradition heutige Streichungen und Neufassungen stehen – vielleicht sogar >werktreuer< (in umfassenderem Sinne) als eine im Jahr 2002 >unverändert< aufgeführte wortwörtliche Fassung.

Grenze der "Immunität"

Bettina Conrad und Kathrin Weber
zu Marthalers Wurzel aus Goethes Faust 1 und 2

Gegenstand der Untersuchung von Bettina Conrad und Kathrin Weber ist Christoph Marthalers Goethes Faust √ 1+2, uraufgeführt 1993 im Hamburger Schauspielhaus. Die Besonderheit der Marthalerschen Faust-Collage wird von den Autorinnen folgendermaßen beschrieben: "Die >Autorität< des Stückes wird durch die Negation von linguistischen und paralinguistischen Bestandteilen dieses Textes einerseits, durch die Einfügung von Fremdtexten andererseits grundlegend unterwandert" (S. 92–93). Gegenstand ihrer Untersuchung ist die Art und Weise der Verwendung theatraler Zeichen, ihre simultane und sukzessive Kombination sowie die Dominanzbildungen eines der Zeichensysteme. Die Autorinnen sprechen von einer Aufhebung der "Immunität" (S. 90) des Klassikers Faust und behaupten die Inszenierung gerate in ein "Spannungsfeld zur theatralen Konvention und Wirkungsgeschichte, indem sie die Erwartungshaltung des Publikums" (ebd.) hintergehe.

Die Autorität des >Originals<

Diese Grundhypothese, auf der die ganze Untersuchung aufbaut, beruht auf falschen Voraussetzungen: Im Jahr 1993 lag hinter Publikum, Kritik, Theatermachern und Text eine mindestens zwanzig Jahre lange neo-avantgardistische Aufführungsgeschichte. Das Theater der vergangenen Jahrzehnte zeichnete sich dadurch aus, dass es nicht mehr den Text als Ausgangspunkt einer Inszenierung akzeptierte, das Regietheater hatte die Vorstellung von der Immunität eines Klassikers schon lange abgelegt. Außerdem wird nicht berücksichtigt, in welchem Kontext eigener Inszenierungen diese Arbeit Marthalers steht.

Zu berücksichtigen wäre hier z.B. die deutschsprachige Erstaufführung von Fernando Pessoas Faust- Fragment von 1992 oder auch Marthalers Abgesang auf die DDR Murks den Europäer!, den der Schweizer Regisseur im gleichen Jahr wie Goethes Faust √ 1+2 in Berlin inszenierte. Über Murks den Europäer schrieb C. Bernd Sucher in der Süddeutschen Zeitung vom 18. 1. 1993: "[...] es verlangt vom Zuschauer [...] die Bereitschaft, Wort-, Szenen-, Musikwiederholungen nicht als Überflüssiges, Langweiliges, Bekanntes abzutun, sondern lustvoll die Unterschiede darin entdecken zu wollen. Dann nämlich erkennt er, daß Marthaler seine Themen, seine Motive bearbeitet, daß er sie orchestriert, daß er Durchführungen erdenkt." Der Aufsatz aber überliest leider sowohl die Aufführungspraxis der Neunziger, als auch Marthalers Handschrift.

Sehr überzeugend und interessant ist dagegen die Deutung von Goethes
Faust √ 1+2 als Musikdrama. Die Autorinnen stellen hier die zentrale Bedeutung der Vexations von Eric Satie für Marthalers Version heraus, mit deren monotonen Klangbändern die Inszenierung unterlegt wird. Parallelen zwischen Saties Musik- und Marthalers Regie-Auffassung werden herausgearbeitet, wobei besonders Saties Adaptionen von Trivialmusik und deren Verschmelzung mit anderen musikalischen Stilrichtungen hervorgehoben wird. Außerdem beobachtet der Aufsatz eine Verwendung musikalischer Kompositionsprinzipien (abgesehen von Satie), in denen das Vorbild der Fuge oder das Verhältnis von Solist und Chor zum Vorbild der Textführung genommen ist. Marthalers Inszenierung vernachlässige das Gewicht, das dem Sinngehalt eines literarischen Textes traditionellerweise eingeräumt wird zugunsten von klanglich-rhythmischen Sprach-Qualitäten. Unterbrechung und Simultaneität – Techniken, die Marthaler auf Musik wie Sprache gleichermaßen anwendet – unterwanderten an mehreren Stellen die Verständnisbildung, plötzliches Abbrechen fragmentiere in Goethes Faust √ 1+2 das musikalische Spiel wie die Rede. Daneben blende der simultane – sprachliche wie musikalische – Vortrag bestimmte Passagen bis zur Unverständlichkeit mehrfach übereinander.

Marthalersche Langsamkeit

In einem weiteren interessanten Kapitel analysiert der Aufsatz die Bewegungsregie der Marthalerschen Arbeit. Die Autorinnen beobachten Bewegungsabläufe mit einem betont niedrigen Muskeltonus und großer Langsamkeit und sprechen von einer "sich dem hohen Aktivitätspotential der Goetheschen Vorgabe" (S. 102) widersetzenden Bewegungsregie. Diese Beobachtungen müssten jedoch nicht – wie im Zitat – in Relation zu Text-, Original- oder "Goethesche[r] Vorgabe" (ebd.) verglichen, sondern vor allem in den Werk-Kontext des Regisseurs Marthaler gesetzt werden. Denn mit seinen, für die Feier der Langsamkeit bekannten Inszenierungen (!), avancierte der Schweizer Theaterkünstler Anfang der 90er Jahre zum gefeierten Kultregisseur. Diese Verlangsamung bezieht sich demnach nicht auf den einzelnen Text, vielmehr auf die Schnelligkeit, auf die bedrängende Fülle unserer Zeit.

Jürgen Flimm sagte in seiner Laudatio (anläßlich der Verleihung des Kortner-Preises an Marthaler und Viebrock), nach all dem Videoclip-Geflackere und der gegenwärtigen Beschleunigung in der Politik seien die sanften Tempi des Marthalerschen Theaters und die unmerklichen dynamischen Wechsel, die Stillen, geradezu aufrührerisch aktuell im Gegensatz zu der offiziell erklärten Flut der ereignislosen Bilder, die Bewegung, Tatkraft, Wille nach Veränderung und Fortschritt vorgaukelten. Ohne diesen Kontext des Regie-Werkes als Ganzem muss die Inszenierung aber unverständlich bleiben.

Im Anhang des Aufsatzes findet man eine sehr sorgfältig erarbeitete Tabelle, die neben den Szenentiteln, bzw. als Titel fungierenden Regieanweisungen genaue Angaben über die Herkunft der einzelnen Fragmente des Textes enthält.

Das Verschwimmen der Grenzen

Katharina Keim über Faustus in Africa!
eine postkolonialistische Lesart von Kentridge
und der Handspring Puppet Theatre Company

Der einzige Beitrag dieses Bandes, der wirklich – wie im Vorwort angekündigt – die Frage nach >Grenzen< und ihrer >Überschreitung< und – wie der aktuellen Diskussion angemessen – nach der Heterogenität des Kulturellen stellt, ist die Studie von Katharina Keim. Sie untersucht eine postkolonialistische Lesart des Goetheschen Dramas, die 1995 beim Kunstfest Weimar Premiere hatte: Faustus in Africa!, inszeniert von dem Südafrikaner William Kentridge und der Johannesburger Handspring Puppet Theatre Company.

Neben einer aufmerksamen Analyse der Inszenierung unter Berücksichtigung der in der Einleitung angekündigten Zielsetzung bietet der Aufsatz eine Vielzahl interessanter Informationen, seien das biographische Daten des Regisseurs, eine genaue Beschreibung des Bühnenbilds und der Techniken des inszenierungsspezifischen Puppenspiels. Faustus in Africa! wird in den Kontext anderer Kooperationen Kentridge / Puppet Theatre gesetzt, es werden Hinweise zu der verwendeten Textausgabe des Goetheschen Faust und zu Merkmalen der Übersetzung gegeben. Streichungen werden präzisiert, zahlreiche Einflüsse und Inspirationsquellen werden genannt.

Produktiver Dialog von Theaterkulturen

Die ästhetische Innovation dieser Regiearbeit besteht – so Keim – neben der radikalen dramaturgischen Bearbeitung des Goethe-Textes, in der neuartigen Kombination sowie der Art und Weise der Interaktion der Medien Film, Puppe und Schauspieler. Anhand des alten, in einen außereuropäischen Kontext versetzten Puppenspiels vom Dr. Faustus dokumentiere sich hier die Suche nach einer neuen Theatersprache, die das charakteristische Vokabular des südafrikanischen Township-Theaters, des Black Consciousness, sowie des großstädtischen, multiethnischen Ton-Theaters ideologiekritisch miteinander verbinde und gleichzeitig erweitere, um so ein vielschichtiges historisches Tableau der politisch-kulturellen Umbruchsituation in der Post-Apartheid-Ära zu entwerfen.

Die Inszenierung verknüpfe das Formenvokabular verschiedener theatraler Stilrichtungen mehrschichtig miteinander: das a-psychologische fernöstliche Bunraku (japanisches Puppenspiel) werde kombiniert mit dem westlichen psychologischen Schauspielstil und dem filmischen Element des epischen bzw. dokumentarischen Theaters. Das in einen anderen kulturellen Kontext versetzte Drama Goethes wird durchkreuzt von der Dichtung aus der Feder eines modernen afrikanischen Rap-Poeten. Theater erweise sich – so Keim – ganz explizit als Medium, in dem die verschiedenen Zeichen einer Vielzahl von Theaterkulturen im Prozess ihrer Semiotisierung miteinander in einen produktiven Dialog zu treten vermögen, der die Grenzen zwischen den Kulturen zum Verschwimmen bringe. Die Autorin verweist auf die Tradition des s.g. Theatersynkretismus, also der Verbindung des traditionellen europäischen Theaters mit indigenen Darstellungsformen.

Dominanz der Schrift

Als dramaturgische Leitlinie dieser Adaption identifiziert Keim eine radikale Kritik der negativen Auswirkungen einer imperialistischen und damit verbunden rassistischen Ideologie, die sich hinter dem Faustischen Streben in der interkulturellen Betrachtungsweise aufdecken lässt. So mache die Inszenierung z.B. in der Kontrastierung des gesprochenen Wortes mit dem Schriftbild die Dominanz der europäischen Schriftkultur augenfällig, indem der englisch gesprochene Text gleichzeitig auf Deutsch projiziert werde. Diese Verdoppelung des Redetextes im Medium der Schrift bei gleichzeitiger interlinguistischer Übersetzung verweise auf eine Gemeinsamkeit der Kolonialsprachen, die im Unterschied zu den (erst spät verschrifteten) Bantusprachen seit langem über ein Schriftsystem verfügten. Ein praktikables Notationssystem sei aber seit der Antike unabdingbare Voraussetzung für die Verwaltung großer Herrschaftsgebiete und für Administration von geographisch weit vom Mutterland entfernten (Siedlungs-) Kolonien.

Zwei divergierende Auffassungen im Umgang mit der kolonialistisch-kriegerischen Vergangenheit werden durch die dem alten Faust erscheinenden Frauenfiguren Helena und Gretchen dargelegt: Helena sieht Krieg und Unrecht aus überzeitlicher Perspektive als unvermeidlichen Bestandteil des menschlichen Miteinanders, plädiert für Vergeben und Vergessen als Voraussetzung für einen unbelasteten Neuanfang. Gretchen, die selbst verletzt wurde und somit aus individueller Sicht argumentiert, will die Erinnerung an die Gräueltaten wachhalten. Mit der Darlegung dieser beiden divergierenden Auffassungen ersetze die Inszenierung – so Keim – die Unhinterfragbarkeit der göttlichen Gnade in Goethes Drama durch eine Problematisierung des Motivs der Vergebung aus der Sicht der betroffenen Opfer, freilich ohne für eine Position Partei zu ergreifen. Im Gegensatz zum Goetheschen Drama durchlaufe Faustus hier jedoch am Ende einen Erkenntnisprozeß und gelange zur Einsicht in das letztliche Scheitern des Projekts.

Lösung vom Eurozentrismus

Der farbige Mephisto aber läutet zum Schluss den Weltenkreislauf ohne göttlichen Spielleiter ein. Er tritt aus der tradierten Figurenkonstellation heraus, emanzipiert sich von vorgegebenen Handlungsmustern und löst sich lachend von jenen kulturell tradierten eurozentrischen Herrschafts- und Denkstrukturen, die auch in der postkolonialen Periode noch immer ihre Spuren zeitigen. Der Regisseur bürste – so Keim – die idealistischen Grundlagen des Faust, deren Pervertierung bekanntlich in der Rezeptionsgeschichte des Dramas zu seiner nationalideologischen und – in der NS-Zeit – rassenideologischen Vereinnahmung geführt hat, gründlich gegen den Strich.

Keim setzt die kritisch-produktive Faust-Bearbeitung (aus dramaturgischer Sicht) in die Traditionslinie postkolonialer Adaptionen europäischer Klassiker durch neoafrikanische Literaten und kommt zu dem Schluss, dass diese oftmals jene latenten politischen Bedeutungsschichten der Referenztexte in den Blick rücken, die im Verlauf ihrer europäischen Rezeptionsgeschichte universalisiert und enthistorisiert worden sind. Die literarische Produktivmachung des semantischen Potentials von Klassikern im postkolonialistischen Kontext ermögliche als eine Form kultureller Interaktion letztlich auch die Neudefinition der Beziehungen der beteiligten Kulturen jenseits der Dichotomie von >Ausgangs- und Zielkultur< durch eine innovative, synkretistisch geprägte Dramen- und Theaterästhetik.

Glanzlichter – Streiflichter – Irrlichter

Schon im Vorwort weist Hans-Peter Bayerdörfer darauf hin, dass seine Einleitung lediglich die wichtigsten dynamischen Bewegungen nachzeichnet und es Aufgabe der Einzelstudien ist "an exemplarischer Dichte der Analyse und an Tiefenschärfe der entstehenden Bilder" (S. 4) das aufzuwiegen, was in einer umfassenden Überblicksdarstellung nicht geleistet werden kann. Diesem Auftrag kommen alle Beiträge des vielfältigen und anregenden Bandes nach. Es scheint jedoch kein Zufall zu sein, dass an Stelle des Nachwortes eine Vielzahl von Fotos die Sammlung beschließt.

Ein Fazit zu ziehen aus Untersuchungen doch eher willkürlich ausgewählter Theaterereignisse, deren "Unterschiedlichkeit und ästhetische wie kulturelle Vielfarbigkeit" (S. 30) Bayerdörfer selber unterstreicht, fiele ohne Zweifel auch sehr schwer. Einzige Gemeinsamkeit der untersuchten Inszenierungen ist ein Bezug zum Goetheschen Faust-Stoff – wobei das manchmal Faust I, manchmal Faust II, manchmal den Urfaust , eine Übersetzung, eine Bearbeitung oder eine nur am Faust orientierte Version meint. Beobachtet werden textorientierte, postdramatische und mehrsprachige Inszenierungen, Puppenspiele und multimediale Arbeiten. Auf der einen Seite entspricht diese Vielfalt der Heterogenität der beobachteten Theaterlandschaft, auf der anderen Seite aber bleiben die Aufsätze Einzelstudien, unvergleichbar auch durch nicht übereinstimmende Fragestellung und Methodik.

Durch Titel und Einleitung suggeriert wird eine Engführung aller Beiträge unter dem (von der aktuellen Forschung stark strapazierten) Begriff der >Grenze<. Ist dieser auch – vorgegeben durch den Goetheschen Text – in den analysierten Inszenierungen omnipräsentes Thema, wird seine Verwendung dennoch nur in sehr wenigen Beiträgen geklärt oder kritisch hinterfragt, in manchen taucht er gar nicht auf.

Die "Streiflichter" des Herausgebers dagegen weisen eine geradezu inflationäre Verwendung des >Grenz<-Begriffes auf, – was aber leider keine Klärung bedeutet: Verwendet wird >Grenze< mal metaphorisch, mal politisch, geographisch oder kulturell, mal als Entgrenzung, mal als Grenzwert. Da ist die Rede von der "deutsch-deutschen Grenze" (S. 16), der Leipziger alte Stadtkirchhof wird als "Grenzort menschlichen Daseins" (S. 28) bezeichnet. Die "Unabsehbarkeit der Virtualität" wird zur "radikale[n] Grenzüberschreitung" (S. 28), Ciullis Seidenstraßenprojekt zur "grenzüberschreitende[n] Tournee" (S. 30). Es wird gesprochen von der "Entgrenzung des Faust-Themas" (S. 23) und von "Grenzwerte[n], die nach Innen und Außen die Grenzen des Theaters sprengen" (S. 28). Es geht um die "Metaphorik der Grenzüberschreitung" (S. 23), um "räumliche[...] und mediale[...] Grenzüberschreitungen" (S. 27) und um Grenzen "konkret als politische, sprachliche und kulturelle" (S. 4). Metaphorischer und konkreter >Grenz<-Begriff werden miteinander verwebt, die mit dem Begriff der >Grenze< einhergehende Eindeutigkeit kultureller Verortung wird nicht kritisiert.

Erst jenseits des herkömmlichen >Grenz<-Begriffes aber, jenseits dichotomischer Begriffe wie "Ausgangs- und Zielkultur" wird eine Neudefinition kultureller Beziehungen möglich, wie Keim schreibt. Was sie im Zusammenhang postkolonialistischer Studien anspricht, wäre als Grundlage der gesamten Untersuchung zu fordern: Erst in einer Hinterfragung axiomatisch verwendeter Begriffe wie "Eigenes" und "Fremdes", "Original" und "Übersetzung", "Grenze" und "Transgression" – "deutsch", "europäisch" gehören ebenfalls dazu – können sich neue, angemessenere Möglichkeiten des Umgangs mit Transkulturalität eröffnen, kann vielleicht das Theater als >Zwischen-Raum< erkennbar werden, in dem Identität in Frage gestellt, Hybridität sichtbar wird.


Ruth Heynen M.A.
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Lehrstuhl für Neuere Deutsche Philologie
Universitätsstraße 1
D-40225 Düsseldorf

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Ins Netz gestellt am 27.05.2003
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