Hierlwimmer über Holzmann: Schaulust und Verbrechen

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Heike Anna Hierlwimmer

Hundert Jahre lustvolles Gruseln –
Eine Mediengeschichte des Krimis

  • Gabriela Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850–1950). Stuttgart und Weimar: Metzler Verlag 2001. 357 S. 76 Abb. Geb. € 39,90.
    ISBN 3-476-01848-2.


Mit ihrer Dissertation zur Krimigeschichte legt die Germanistin Gabriela Holzmann eine umfassende und ungewöhnliche Studie einer populären Film- und Literaturgattung vor. Sie überzeugt durch ihren interdisziplinären Ansatz, in dem literatur- und medienwissenschaftliche Erkenntnisse eine innovative und gewinnbringende Verbindung eingehen. Gabriela Holzmann zeichnet eine hundertjährige Gattungstradition nach, indem sie in einem "medienübergreifenden Genreverständnis" (S.7) neben dem Film konsequent auch andere Medien vom Bänkelsang bis zum modernen Roman verfolgt und die wechselseitigen Einflüsse und Beziehungsgeflechte darstellt. Zusätzliche Überzeugungskraft gewinnt die Studie durch zahlreiche Verweise auf technische Innovationen und reale Kriminalistik im historischen Wandel.

Die historischen Vorläufer

Der eigentlichen Gattungsgeschichte des Krimis vorgeschaltet hat Gabriela Holzmann einen Abriß über "Schaulust und Verbrechen im 18. und 19. Jahrhundert" (S.20–70), in dem sie stellenweise sogar bis in das 16. Jahrhundert zurück blickt. Schon zu dieser Zeit besteht nämlich ein enger Zusammenhang zwischen staatlicher Strafverfolgung und privatem Voyeurismus. Die öffentliche Hinrichtung von Verbrechern, zunächst als juristisches Mittel zur Verbrechensvorbeugung durch Abschreckung gedacht, wird rasch zum öffentlichen Spektakel mit Volksfestcharakter.

Die endgültige Legitimation der Schau-Lust am Schrecklichen erfolgt spätestens im 18. Jahrhundert im (literatur)theoretischen Diskurs des Sublimen oder Erhabenen, der dem Schrecken als "Quelle von Lust" einen "positiven ästhetischen Wert" (S.38) zuschreibt und ihn zum Heilmittel "aristokratischer Langeweile und körperlicher Abgestumpftheit postuliert.

Je schrecklicher das Schauspiel, desto größer ist der Nervenkitzel, freilich unter der Voraussetzung, daß sich der Zuschauer selbst in Sicherheit weiß. (S.40)

Gerade das physische Erlebnis des angstvollen Schauerns und Erbebens wird als gesund und belebend empfunden.

Auf den Jahrmärkten des 18. und 19. Jahrhunderts stillen Bänkel- und Moritatensänger mit ihren Darbietungen den Bedarf des Publikums an Mord und Totschlag, an blutiger Gewalt und monströsen Verbrechen. Mit ihrem Zusammenspiel von Schauspiel, Rezitation, instrumental begleitetem Gesang und der Verwendung von menschengroßen Bildertafeln sieht Holzmann Bänkelsang und Moritat bereits als audiovisuelle Massenmedien und Vorläufer des Kinokrimis, insbesondere des frühen Stummfilms, der noch von den Erläuterungen eines Kinoerzählers begleitet wird. Diese innovative Sichtweise belegt sie mit einer schlüssigen Argumentation, die durch gut gewählte Illustrationen zusätzlich veranschaulicht wird.

Eine weitere Jahrmarktsattraktion, die den Krimi beeinflussen wird, ist das Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum (wörtlich: die Allschau). Wieder wird das Abnorme, Kuriose zum Gegenstand, und die Nähe des Wachsmaterials zur Leichenblässe und zu anatomischen Kabinetten tut ein übriges. Genau wie im Kino, betrachtet der Zuschauer im Panoptikum aus dem Halbdunkel heraus die illuminierten Schaustücke. Kino und Panoptikum existieren eine Weile parallel, bis sich das Kino vollends durchsetzt – das faszinierende Konkurrenzmedium wird jedoch in mehreren Filmen thematisiert, zum Beispiel in Robert Wienes "Das Cabinett des Dr. Caligari" von 1920.

Die Entstehung des Krimis

Gabriela Holzmann gliedert ihre intermediale Gattungsgenese des Krimis in vier Themenbereiche:

  1. Ansätze zu einer Phänomenologie des detektivischen Blicks und seiner medialen Implikationen (S.70–98).

  2. Indizien und Identifizierung. Das Bild, die Stimme und die Schrift als Gegenstand und Mittel der Spurensicherung in der kriminalistischen Praxis und Fiktion (S.99–157).

  3. Schein und Schatten. Zur Geschichte und Funktion des künstlichen Lichts im Kriminalfilm und Kriminalroman (S.158–229).

  4. Gewaltwahrnehmung und Gewalterleben. Mediale Einflüsse auf Sehstrukturen und gewaltbezogene Affekte (S.230–321).

Im ersten Kapitel illustriert Holzmann die besondere Affinität des Mediums Film zur Kriminalgeschichte und umgekehrt. Die zentrale Verbindung zwischen der Tätigkeit des Detektivs (wie auch der Justiz) und der des Kinogängers bildet das Sehen als wichtigster menschlicher Sinn. Der Detektiv – im Amerikanischen nicht umsonst "private eye" genannt (S.76) – ist ein "Augenspezialist", quasi ein professioneller Flaneur und Voyeur. Sein Blick muß abwechselnd zielgerichtet und flüchtig sein, um sowohl offensichtliche als auch scheinbar unwichtige Indizien wahrzunehmen. Zur Erweiterung und Perfektion seines Blickes bedient er sich eines Arsenals an Spitzeln, Verkleidungen (um inkognito zu recherchieren) und moderner Technik – vom schnellen Transportmittel über Kommunikationstechnik (Telegraf, Telefon) bis, nicht zuletzt, zum Fernglas und zum Fotoapparat, wodurch seine Arbeit wiederum der des Filmenden recht nahe kommt.

Obschon er tendentiell das Gesetz vertritt, ist für seine Arbeit eine starke Identifikation mit dem Motiv, dem Vorgehen, und letztlich dem Blick des Täters vonnöten. Diese psychologische Spannungskomponente macht den Detektivroman laut Holzmann zur modernen, absolut filmkompatiblen Gattung, ebenso wie sein Aktionsreichtum, sein häufiges Erscheinen in Fortsetzungen und seine auf das Visuelle konzentrierte Struktur der Spurensuche und -dechiffrierung.

Im Kapitel "Indizien und Identifizierung" gewährt Holzmann einen höchst interessanten Einblick in die wechselseitige Beeinflussung kriminalistischer Praktiken in Realität und Fiktion. Sie skizziert Entstehung und Bedeutung der wichtigsten optischen, akustischen und graphologischen Identifizierungstechniken und sieht unter anderem in technischen Umwälzungen einen "Paradigmenwechsel" (S.120) der Kriminalliteratur, nämlich die allmähliche Ablösung des Detektivromans durch den Thriller begründet.

So sei ersterer hauptsächlich von der rationalen Aufklärung des Kriminalfalles, der "analysis" (s. auch S.14) geprägt, die mit einer starken Technikgläubigkeit und dem "Siegeszug der Photographie" (S.120) einhergehe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trete dann an die Stelle der "Allmacht und Allwissenheit der neuen technischen Medien" das genaue Gegenteil – die "Allmacht des Verbrechers, der nun gegen die Identifizierungssysteme rebelliert" (S.120). So entstehe der Thriller, dessen wichtigstes Element die "action" (s. auch S.17), also die rasche Handlungsfolge insbesondere des Täters, aber auch des Detektivs ist.

Gabriela Holzmanns Analyse des künstlichen Lichts im Kriminalfilm und -roman fällt ebenso spannend und – im wahrsten Sinne – einleuchtend aus wie das vorangegangene Kapitel. Hier illustriert sie sowohl die technische Bedeutung des künstlichen Lichtes für das Medium Film an sich, als auch die dramaturgische Verwendung der symbolischen, bisweilen gar mythologischen Bedeutungen von Licht und Schatten in Kriminalfilm und -literatur. Wie die meisten anderen Symbole auch, beinhalten Helligkeit und Dunkelheit prinzipiell konträre Deutungsmöglichkeiten. Das unheimlich flackernde Licht von Kerzen oder Laternen, das genau wie seine symbolischen Implikationen eher zur Epoche der Romantik und deren Schauergeschichten gehört, wird im Zuge der Industrialisierung zumeist vom "rational" durchdringenden Licht der Glühbirne abgelöst.

In jedem Fall kann jedoch das Licht – je nach Perspektive – sowohl positiv erhellend, als auch negativ ertappend oder gar folternd sein, ebenso wie das Dunkel der Nacht einmal bedrohlich und unkontrollierbar, ein anderes Mal jedoch hilfreich und schützend ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Holzmanns Verweise auf die Bedeutung des Dunkels für den Krimizuschauer beim Kinobesuch selbst (S.220 ff.) und auf die Equivalenz von Kontrasten zwischen "hell und dunkel" und "Glanz und Elend" (S.198), ebenso wie ihre Ausführungen zu spezifisch großstädtischen Licht-Topoi (S.202 ff.).

Im abschließenden Kapitel zu "Gewaltwahrnehmung und Gewalterleben" untersucht Holzmann das zentrale Element kriminalistischer Texte wiederum im Zusammenspiel von Kunst und Technik. Sie erläutert anschaulich die Bedeutung der Waffentechnik für die Entwicklung der "chronographischen Flinte" (S.234), einem ersten Vorläufer der modernen Filmkamera. Heute mögen derlei technikgeschichtliche Fakten nur noch wenigen bekannt sein, obschon sie im filmischen Sprachgebrauch präsent geblieben sind, wenn von "Schnappschuß" und "Shooting", vom "Draufhalten" und "gestorben" (für "abgedreht") die Rede ist.

Gabriela Holzmann erläutert zudem medientheoretische Ansätze, beispielsweise den eines Marshall McLuhan, der den prinzipiell gewalttätigen Charakter (audio)visueller Medien konstatiert (S.237), aber auch die Thesen Walter Benjamins und Siegfried Kracauers, die dem Medium Film therapeutisches Potential zum Umgang mit realer Gewalt zuschreiben (S.242).

Des weiteren geht Holzmann auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi ein, die der Film im Umgang mit Gewalt und Tod bewirken kann. Da wäre zum einen die künstliche "Verlängerung" des Todes durch einen ausgedehnten Gewaltkontext mit Verfolgungsjagden, Schußwechseln und Kämpfen (S.273), die durch Rückblenden und Parallelmontagen beinahe beliebig ausgedehnt werden können. Zum anderen bewirkt die filmische Zerlegung von Gewalthandlungen in motorische Bewegungsstudien mitunter eine vermeintliche Gewaltlosigkeit des Todes, der nurmehr "entseelt und veräußerlicht" (S.264) stattfindet.

Diese emotionale Abstumpfung ist laut Holzmann jedoch mit bedingt durch realhistorische Faktoren: vor dem Hintergrund des massenhaften, organisierten Verbrechens wird auch im Film Gewalt zur alltäglichen Erfahrung. Die Krimis der amerikanischen "hard-boiled school" greifen in ihrer faktischen, emotionslosen Darstellung von Gewalt einige filmische Mittel auf und ziehen ihrerseits neue Verfilmungen nach sich. So bleibt auch in Holzmanns Gattungsgeschichte des Krimis bis zum Schluß eine enge und fruchtbare Verbindung zwischen Film und Literatur sichtbar.

Fazit

Gabriela Holzmanns Krimigeschichte überzeugt nicht nur durch die professionelle Aufmachung, die qualitativ hochwertigen und informativen Illustrationen und die äußerst umfangreichen bibliographischen Angaben. Sie verspricht nicht nur einen intermedialen, interdisziplinären Forschungsansatz, sondern behält ihn – was heute leider nicht selbstverstädlich ist – bis zum Ende konsequent bei.

Die weitreichenden Informationen aus der technischen, literarischen, juristischen und kriminalistischen Geschichte mögen in ihrer Fülle zunächst eine latente Überforderung des nicht spezialisierten Lesers bedeuten. Wer jedoch 334 Seiten lang "durchhält", wird mit einem tiefen, oft verblüffenden und immer einleuchtenden Einblick in die kriminalistische Praxis und Fiktion eines ganzen Jahrhunderts belohnt.

Holzmann gelingt das Kunststück, eine populäre Gattung wissenschaftlich ernst zu nehmen, ohne dabei der Gefahr der "Verwissenschaftlichung" des Gegenstandes zu erliegen. Bei aller akribischen Recherche spürt man doch die Begeisterung der Autorin für ihr wissenschaftliches Forschungsfeld, und so darf auch der Leser mit gutem Gewissen seine "Schaulust" am Verbrechen behalten.


Heike Anna Hierlwimmer, M.A.
Universität Trier
Medienwissenschaft

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Ins Netz gestellt am 11.07.2002
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