Hirschi über Brendle: Deutsche Landesgeschichte als humanistische Historiographie

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Caspar Hirschi

Deutsche Landesgeschichte
als humanistische Historiographie.
Autoren, Gattungstypologie und Methodenprobleme

  • Franz Brendle / Dieter Mertens / Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus (Contubernium; 56) Stuttgart: Franz Steiner 2001. 295 S. 21 Abb. Geb.
    EUR (D) 61,-.
    ISBN 3-515-07864-9.


Gliederung des Bandes

Der Band ist aus einer Historikertagung entstanden, die im September 1999 in Wolfenbüttel stattgefunden hat. Er versammelt 16 aus Vorträgen hervorgegangene wissenschaftliche Beiträge, teils von ausgewiesenen Kennern der humanistischen Geschichtsschreibung Deutschlands (Dieter Mertens, Ulrich Muhlack, Ulrich Andermann, Alois Schmid u. a.), teils von angehenden Spezialisten im näheren oder weiteren Umfeld dieses Gebiets. Die Aufsätze sind nach drei Schwerpunkten geordnet:

  1. Grundprobleme (3 Beiträge)
  2. Persönlichkeiten (7 Beiträge)
  3. Themenfelder (6 Beiträge)

Wie noch zu sehen sein wird, findet dieser klare äußere Aufbau kein inhaltliches Äquivalent. Obwohl die Vorträge von der Tagung bis zur Drucklegung zweifellos noch überarbeitet werden konnten, wurde bis auf eine Ausnahme (Susanne Rau: Stadthistoriographie und Erinnerungskultur in Hamburg, Köln und Breslau, S. 230) darauf verzichtet, intertextuelle Bezüge zu Beiträgen aus anderen Schwerpunktthemen zu knüpfen. Damit lassen mehrere Untersuchungen zu Einzelpersonen oder -themen die Chance einer Übertragung ihrer Ergebnisse in einen übergeordneten Zusammenhang aus, was umso erstaunlicher ist, als die Aufsätze zu den Grundproblemen des Tagungsthemas, insbesondere jene von Ulrich Muhlack und Dieter Mertens, einen reichen Fundus an Anregungen, kritischen Fragestellungen und – im Falle Muhlacks – auch an gezielter Provokation enthalten, die nach Repliken geradezu verlangen.

Terminologische
und methodische Probleme

Während Muhlack die Begriffe "Humanismus" und "humanistischer Historismus" ins Zentrum der Betrachtung stellt, widmet sich Mertens dem zweiten Zentralbegriff der Tagung, "Land", und prüft seinen heuristischen Nutzen als geographisch-territorial-kulturelle Größe im Rahmen der humanistischen Geschichtsschreibung.

Muhlacks historisches Verständnis des Humanismus steht in der gegenwärtigen Forschungslandschaft, sowohl was seine Prägnanz als auch seine zeitliche und inhaltliche Verankerung betrifft, in Opposition zur breit akzeptierten These einer Kontinuität des Humanismus bis weit ins konfessionelle Zeitalter hinein. In enger Anlehnung an Burckhardt und Joachimsen 1 versteht er den Humanismus als "literarische Bewegung par excellence" und ihre Vertreter als "die ersten Literaten der europäischen Geschichte, die nur dies sein wollen" (S. 4).

Aus der Krise der mittelalterlichen "res publica christiana" hervorgegangen und sich von Italien aus über ganz Europa verbreitend, formuliere die humanistische Bewegung ein innerweltliches Bildungsprogramm, das sich normativ und ästhetisch an der Antike orientiere. Der Humanismus stelle in seiner Blütezeit im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert eine "Potenz sui generis" dar, die in keinen "funktionalen Zuordnungen" aufgehe. Diese Autonomie verliere sich nach 1550 trotz des breiten Fortlebens humanistischer Traditionen im Bildungswesen, in der Literaturproduktion und Historiographie, humanistisches Gedankengut stehe fortan im Dienst der Konfessionalisierung und Staatsbildung.

In der humanistischen Historiographie erhalte das Profane eine bisher unbekannte Eigenständigkeit, beruhe auf "immanenten Kausalitäten" (S. 6). An die Stelle des "orbis christianus" trete bis zu einem gewissen Grad die Prestige- und Abstammungsgemeinschaft der Nation, die zu einer Bezugsgröße innerhumanistischer >aemulatio< werde. Historiographie werde als literarisches Genre aufgefasst und ihr pädagogischer Nutzen an die Ästhetik der Darstellung und nicht primär an die Rechtgläubigkeit des Dargestellten geknüpft, wodurch die formale Komponente in den Vordergrund rücke.

Höchst interessant und diskussionswürdig schließlich die These, dass die aus der philologischen Quellenkritik hervorgehende Historisierung der Vergangenheit letztlich zu einem latenten Bumerang für die normative Anlehnung des Humanismus an die Antike werde: Historisierung gehe einher mit einer relativierenden Sicht auf die Vergangenheit, die schließlich auch das Bild der Antike erfassen müsse.

Muhlacks Konzept des Humanismus überzeugt durch seine innere Stringenz ebenso wie durch die semantische Präzisierung der Zentralbegriffe. Eine genauere, hier nicht zu leistende Hinterfragung fordern allerdings die von ihm gewählten Parameter. Was ist etwa unter dem Humanismus als einer "Potenz sui generis" zu verstehen – etwa eine sozial und literarisch durch sich selbst gezeugte und durch eigene innere Antriebe fortschreitende Bewegung? Eine Erklärung, die dem einleuchten mag, der einem romantischen Geniekult huldigt, aber weniger dem Sozial- und Ideenhistoriker. Und können wir angesichts der unterschiedlichsten Tätigkeiten von Humanisten in Klöstern, Gerichten, diplomatischen Diensten, Kanzleien, Universitäten und Schulen, die sie häufig mit ihrer Schriftstellerei produktiv zu verbinden wissen, wirklich behaupten, sie seien "die ersten Literaten der europäischen Geschichte, die nur dies sein wollen" (S. 4)?

Muhlacks Methode zur Erfassung des Humanismus scheint auf einem phänomenologischen Wissenschaftsverständnis zu gründen, und obgleich er den Begriff selber nicht verwendet, gilt sein Erkenntnisziel dem eigentlichen "Wesen" des Humanismus, das er nur jenseits der Geschichte und ihrer Quellen finden kann. Neben brillanten Interpretationsansätzen zu Möglichkeiten und Grenzen der humanistischen Historiographie geht Muhlacks Humanismusmodell vor allem die sozialgeschichtliche Tiefenschärfe ab. Die Vorstellung des Humanismus als einer autonomen Literaturbewegung frei schwebender Intellektueller arbeitet letztlich am Mythos des großen Renaissanceentwurfs Burckhardts weiter und vermag kaum Handhabe für eine Erklärung der sozio-funktionalen Verschiebungen humanistischer Gelehrsamkeit im Zuge der Konfessionalisierung zu bieten.

Unabhängig davon aber, wie man sein Konzept letztlich bewerten mag – es verlangt nach einer intensiven Auseinandersetzung, die in jedem Fall produktive Ergebnisse zeitigt. Umso mehr ist zu bedauern, dass die nachfolgenden Studien des Bandes ohne direkte Bezugnahme das Konzept performativ zerzausen und damit die Möglichkeit verschenken, über ihren jeweiligen Tellerrand hinaus einen Beitrag zu einem alternativen, dem heutigen Forschungsstand vielleicht eher entsprechenden Konzept zu leisten.

Dieter Mertens Augenmerk gilt dem Terminus der "Landesgeschichtsschreibung". Sein Aufsatz zu den "spätmittelalterlichen Wurzeln" (S. 19) der humanistischen Landeschronistik verbindet sozialgeschichtliche Fragen nach der Wechselbeziehung von Land und Fürst, Hof und Historiographie aufs engste mit ideengeschichtlichen Betrachtungen zum Umbau kollektiver Herkunftsmythen oder zu Formungsprozessen historiographischer Gattungen.

Der Beitrag setzt ein mit Peter Johaneks Diagnose, 2 dass die moderne Klassifizierung spätmittelalterlicher Geschichtsschreibung nach räumlichen Kriterien angesichts der "engen Verflechtung von universalgeschichtlichen, reichsgeschichtlichen und regionalgeschichtlichen Inhalten" an enge Grenzen stößt (S. 20). Eine weitere, spezifische Problemstellung schafft die Semantik des Wortes "Land", suggeriert sie doch eine eindeutig bestimmbare, historisch gewachsene Einheit in territorialer oder zumindest kultureller Hinsicht, was dem entsprechenden Quellenbegriff nur in den wenigsten Fällen entspricht. Mertens favorisiert daher den Begriff der "regionalen Historiographie", denn dieser "verlagert die Bedeutung vom Objekt auf das Subjekt der Historiographie: sie ist nicht die Beschreibung eines Landes, sondern Geschichtsschreibung aus regionaler Perspektive; der Geschichtsschreiber […] verkörpert die Einheit der Chronistik, mag sie Nahes oder Fernes und Allgemeines-Universales umfassen" (S. 22).

In der regionalen Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts sieht Mertens einen Prozess in Gang kommen, der Land und Dynastie in zusehends engere semantische Wechselbezüge bringt, gentile Wanderungsmythen zugunsten der stärker nationalisierend wirkenden taciteischen Ureinwohnerthese aller deutschen Stämme zurückdrängt und unter humanistischem Einfluss kurze, auf Prägnanz zielende literarische Formen entwickelt, die den "eiligen" fürstlichen Rezipienten (S. 28) die Aneignung erleichtern und damit die eigenen Einflusschancen auf die Politik vergrößern. Sozialgeschichtlich korrelieren diese Entwicklungen mit der Entstehung einer universitär gebildeten Intellektuellenschicht, die im weiteren Umfeld des fürstlichen Hofes Geschichtsschreibung im Auftragsverhältnis betreibt und sich dabei als "Verwalterin" politischer und sozialer Werte (S. 30) und – so wäre zu folgern – Teilhaberin am höfischen Prestigekonsum etablieren können.

Umreißen Muhlack und Mertens mit ihren einleitenden Ausführungen Problemfelder, die den nachfolgenden Spezialstudien interessante (aber kaum genutzte) Ausgangslagen schaffen, so fällt Notker Hammersteins sehr allgemein gehaltener Aufsatz diesbezüglich etwas aus dem Rahmen. Die leicht verständliche, durch ironische Wendungen auflockernd wirkende Vortragsform ist im gedruckten Text weitgehend beibehalten. Zusammen mit der eher assoziativen Argumentation entsteht dabei aber der Eindruck, Hammerstein habe zu einem anderen, eher studentischen Publikum gesprochen. Als Einführung in die deutsche Spielform des Humanismus für den Nicht-Fachmann ist der Text zweifellos geeignet, sein Beitrag zu den zentralen Problemen des Tagungsthemas fällt im Vergleich zu Muhlacks und Mertens Aufsätzen aber bescheiden aus.

Untersuchungen zu einzelnen Autoren:
Krantz, Aventin, Fries, Brusch, Crusius

Den Einstieg in den Themenkomplex der "Persönlichkeiten" macht Ulrich Andermann mit einem Beitrag zum Spannungsfeld kollektiver und geographischer Zuordnungen in den Geschichtswerken des Albert Krantz. Spätestens durch seine Habilitationsarbeit 3 zum selben Autor als ausgewiesener Kenner des norddeutschen Humanismus etabliert, zeigt Andermann auf, wie fließend die Übergänge zwischen regionalem, nationalem und universalem Betrachtungshorizont im Fall des Hamburger Humanisten sind – ein, wie der Beitrag Mertens bereits gezeigt hat, durchaus generalisierbares Phänomen. Im Gegensatz zu früheren Interpretationen der Schriften von Krantz kommt Andermann allerdings zum Ergebnis, dass die Verpflichtung gegenüber der Region – hier (Alt-)Sachsen, "wendischer Raum" oder ganz Niederdeutschland – derjenigen gegenüber der deutschen Nation als Zentralobjekt kollektiver Ehre und Verteidigungsbereitschaft zurückgestellt ist (S. 58). Andermann erklärt diesen Umstand aus dem Einfluss des italienischen Humanismus, der eine gesamteuropäische internationale Leistungskonkurrenz provoziert habe und zu Lebzeiten von Krantz in Deutschland noch ungleich stärker wirke als wenige Jahrzehnte später im Zuge der Reformation.

Indes sind auch Krantz' nationale Raumvorstellungen heterogen: Er unterscheidet zwischen einer weiträumigen, mehrsprachigen "Germania magna", die sich fast über den gesamten nördlichen Teil des europäischen Kontinents erstreckt, und der "Teuthonia", die das Siedlungsgebiet der deutschen Sprachgemeinschaft umfasst. Andermanns Ausführungen beziehen sich zwar nicht direkt auf Mertens programmatischen Aufsatz, kommen aber über den alternativen Weg der Analyse einer Einzelfigur in vieler Hinsicht zu übereinstimmenden Ergebnissen. Da das Objekt seines wissenschaftlichen Interesses zeitlich der "high-tide"-Generation 4 des deutschen Humanismus zugerechnet werden kann (Jahrgänge von ca.
1450–80), entsteht hier noch wenig Erklärungsbedarf, inwiefern in Bezug auf die untersuchten Texte überhaupt von "humanistischer" Geschichtsschreibung zu sprechen ist.

Diese Konstellation ist schon in Alois Schmids kenntnisreichen Ausführungen zu den Kleinen Annalen des Johannes Aventinus, die im Vergleich zu dessen späteren lateinischen und deutschen Chroniken desselben Autors noch wenig bekannt sind, nicht mehr ganz gegeben. Schmids Fragestellung gilt weniger der Konstruktion des kollektiven Raumes, sondern zum einen der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, zum andern inhaltlichen und methodischen Verschiebungen im Vergleich zur bereits reichen bayerischen Landesgeschichtsschreibung des 15. Jahrhunderts. Die frühen, noch immer ungedruckten Annalen Aventins dürfen nach Schmid "nur in Ansätzen der humanistischen Historiographie zugeordnet werden"; sie stellen ein Werk des Übergangs dar, das "in Einzelpunkten unverkennbar in die Zukunft" weise (S. 87). Welche entscheidenden methodischen und formalen Schritte Aventin hin zu den Grossen Annalen, die Aventin – so Schmid – zu nichts weniger als dem "Begründer neuzeitlicher Geschichtsschreibung in Bayern" werden lassen (S. 87), aber vollzieht, wird leider nicht dargetan.

Ungleich schärfer als bei Krantz und Aventin stellt sich die Frage nach der Nähe zum Humanismus im Fall des Lorenz Fries, Kanzleisekretär des Würzburger Fürstbistums und Autor der 1546 vollendeten Histori der bischofen zu Wirtzburg, dem Christoph Bauer und Christiane Kummer ihre Untersuchungen widmen. Fries verfasste seine Schriften ausnahmslos auf Deutsch (S. 100), und Hinweise auf irgendeine soziale Vernetzung mit humanistischen Kreisen fehlen offenbar gänzlich. Dass aus der Würzburger Bischofschronik die Lektüre von Schriften des Trithemius und Aventinus abgeleitet werden kann, reicht sicher nicht aus, um den Autor in irgendeiner Form der "humanistischen" Geschichtsschreibung zuzuordnen. In Christiane Kummers kunstgeschichtlichem Beitrag zu Martin Segers Illustrationen der Chronik wird zwar wiederholt auf mögliche Verbindungen zur humanistischen Textgestaltung verwiesen, erhärtet finden wir diese aber nicht, sondern vielmehr als wissenschaftliches Desiderat an künftige Studien delegiert.

Alles in allem wird nicht klar, ob Fries überhaupt an den äußersten Rand der humanistischen Bewegung in Deutschland zu setzen ist oder ob nicht einfach zu konstatieren wäre, dass die Übernahme weniger humanistischer Topoi eher zufälligen und rein äußerlichen Charakter haben, ohne irgendwie prägend auf Fries' Geschichtsverständnis zu wirken.

Etwas anders, aber doch vergleichbar präsentieren sich die historiographischen Arbeiten des Aegidius Tschudi, die Bernhard Stettlers Beitrag zum Inhalt hat. Wie Fries kaum mehr als passiv des Lateins mächtig (S. 129), kann er schon aus diesem Grund nicht den Humanisten zugerechnet werden, weil diese den bezeichnenden Kausalzusammenhang von Ästhetik, Ethik, Ansehen und Würde in unmittelbarer Abhängigkeit von der Wirkung des klassischen Lateins sehen. Hingegen ist Tschudis Geschichtsdenken von Modellen des italienischen und deutschen Humanismus massiv geprägt, die sich bereits in der Alpisch Rhetia niederschlagen:

Ausgehend von den antiken Autoren legte der junge Tschudi eine historisch-geographische Darstellung der von ihm durchwanderten Alpen vor, mit Ausführungen über die Bewohnerschaft und deren Sprache. Zur Darstellung lieferte er gleich auch eine Karte des Gebiets der heutigen Schweiz (S. 129–30).

Ohne die Italia Illustrata des Flavio Biondo, in der Geschichte, Kartographie und Reisebeschreibung in neuer Weise zusammengeführt werden, aber vor allem ohne Celtis' Projekt eines deutschen Konkurrenzmodells, verbunden mit dem emphatischen Nachweis, die Nation selber durchwandert und alles Relevante mit eigenen Augen gesehen zu haben, ist Tschudis Alpisch Rhetia und deren nationalisierende Erweiterung in der Gallia comata nicht denkbar. Hier finden wir also die produktive Übertragung humanistischer Motive in einen von der umfassenden humanistischen Ästhetik losgelösten Bereich.

Ein eher konträres Fazit drängt sich bezüglich der von Bernhard Richter bzw. Franz Brendle vorgestellten Kaspar Brusch und Martin Curtius auf. Beide müssen, an innerdeutschen Vergleichsmaßstäben gemessen, als virtuose Lateiner bezeichnet werden. Brusch, mit 23 Jahren von Karl V. zum "poeta laureatus" gekrönt, schreibt humanistische Reiselyrik sowie eine Bistums- und eine Klostergeschichte, die ihm den Titel des ersten Vertreters der "Germania sacra" (S. 135) eingetragen haben. Nicht nur durch seine Edition der deutschen Chronik Aventins, sondern auch durch sein Geschichtsverständnis knüpft Brusch direkt an die geohistorischen Projekte der älteren zwei Humanistengenerationen an, erreicht aber, so zumindest Bernhard Richters Fazit, nicht deren stilistisches und methodisches Niveau.

Ähnliches ließe sich über Bruschs jüngeren Zeitgenossen Martin Crusius sagen. Professor für Griechisch und Latein an der Universität Tübingen und Autor der 1595 erschienen Annales Suevici, repräsentiert Crusius den späthumanistischen Typus des unbegrenzten Quellensammlers und Kommentators, des homo doctus, der Gelehrsamkeit über die Breite des Wissens, unter weitgehender Ausblendung formalästhetischer Aspekte, definiert. Die Eigentümlichkeit seines Geschichtsdenkens, vom Quellenbezug bis zum zeitlich-räumlichen Vorstellungsvermögen, legt Brendle anschaulich und überzeugend dar.

Monothematische Studien

Von den sechs abschließenden Aufsätzen des Tagungsbandes widmen sich drei mehr oder weniger fest umrissenen Räumen – Susanne Rau der Stadtgeschichtsschreibung in Hamburg, Köln und Breslau, Klaus Graf seinem eigentlichen, hier als südwestdeutsch bezeichneten Forschungsraum um 1500 und Michael Klein der württembergischen Historiographie von Nauclerus bis zum Dreißigjährigen Krieg.

Während Graf, auf diesem Gebiet schon durch mehrere Publikationen hervorgetreten, das komplexe Zuordnungsgeflecht aus Reich, deutscher Nation, schwäbischer Nation und einzelnen Territorien anschaulich macht, fragt Michael Kleins Aufsatz nach Herkunft, Ausbildung und Stellung der im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert mit württembergischer Geschichte beschäftigen Personen. Leider kommen dabei die von ihm erwähnten Handschriften etwas zu kurz; die eingehende Auseinandersetzung mit den Texten bleibt zugunsten biographischer Daten ihrer Autoren auf der Strecke.

Susanne Rau kommt schließlich – wie oben erwähnt – das Verdienst zu, auf Muhlacks programmatische Anregungen als einzige repliziert zu haben. Sie verteidigt die Verwendung des Humanismusbegriffs für die Zeit nach 1550 und führt konsequenterweise den Terminus des "konfessionellen Humanismus" ein, dessen innere Widersprüchlichkeit sie aber nicht weiter problematisiert. Auch dürfte ihre Argumentation, dass für das Weiterleben des Humanismus die fortgesetzte Lektüre des Cicero in Schulen und das Abschreiben alter Chroniken ausreichend seien (S. 230 A), nicht alle überzeugen. Die grundsätzlich erhellenden Ausführungen zu den einzelnen städtischen Geschichtskonstruktionen legen dann erstaunlich wenig Gewicht auf das spezifisch Humanistische der von ihr untersuchten Quellen.

Der einzige rein gattungsgeschichtliche Beitrag stammt von Markus Müller und zeigt auf souveräne Weise Konstanten und Variablen der spätmittelalterlichen und Bistumsgeschichtsschreibung auf. Der Einfluss des Humanismus wird etwa in einer (verhältnismäßig frühen) Wiederbelebung der "laus personae" und hierin in der starken Gewichtung rhetorischer Fähigkeiten der jeweiligen Bischöfe gesehen (S. 179), später dann in der Idee der "Germania sacra", die sich von Celtis' Projekten nährte (S. 181) und die Bistumsgeschichtsschreibung erst zu einer "landesgeschichtlichen" Gattung werden ließ (S. 186), schließlich auch im ausgeprägten Bemühen um eine ansprechende sprachlich-stilistische Gestaltung (S. 185).

Walter Zieglers Aufsatz zu Landeschronistik und Kirchenreform setzt mit der interessanten Ausgangsfrage ein, ob und wenn ja, wie sich die notorischen Forderungen deutscher Humanisten nach einer Kirchenreform in ihren Landeschroniken niederschlagen. Anhand einer möglichst repräsentativen Auswahl versucht Ziegler ein stichhaltiges Ergebnis zu erzielen. Dies gelingt zweifellos, allerdings mit dem etwas ernüchternden Ergebnis, dass die Beschäftigung mit regionaler Vergangenheit kaum je zu einer pragmatischen Kirchenkritik geführt hat. Vielmehr bleiben die humanistischen Verfasser einem höchst abstrakten Denken verhaftet, das mittelalterliche ordo-Vorstellungen weiterträgt, und stellen Forderungen, an deren konkrete Umsetzung von Anfang an nicht zu denken ist. Ziegler kommt daher zur Diagnose: "Das stark literarisch geprägte Denken machte den Vorstoß zur Realität schwer, Kirchenkritik und Kirchenreformen bleiben weithin auf der literarischen Ebene." (200)

Einem isolierten Thema gilt schließlich auch der solide Aufsatz Martin Otts zu Sammlungen, Darstellungsformen und Funktionen römischer Inschriften in der bayerischen und schwäbischen Regionalgeschichtsschreibung (S. 213&8211;26). Durch die – maßgeblich von humanistischer Seite initiierte – Erstellung von Sammlungen antiker Inschriften auf deutschem Boden und ihre Integration in historiographische Texte (etwa der Bayerischen Chronik des Aventin) konstatiert Ott eine gesamthafte Aufwertung der römischen Antike und der vormittelalterlichen Epochen in der Landes- und Stadtgeschichte (S. 226). Ebenso habe die Auseinandersetzung mit solchen Sammlungen auf lange Sicht eine verstärkte Differenzierung zwischen Antike und Mittelalter bewirkt.

Fazit

Alle Beiträge weisen zumindest ein ansprechendes, einige wenige sogar ein hervorragendes wissenschaftliches Niveau auf, was einem Tagungsband mit 16 Beiträgen hoch anzurechnen ist. Wie schon einleitend erwähnt, steht auf der Sollseite aber das Manko umfassender Fragestellungen und vor allem die ausgelassene Chance des "überregionalen" wissenschaftlichen Diskurses. So entsteht denn aus einer Tagung über regionale Historiographie ein reproduktiver Akt, eine regionale Historiographie zweiter Ordnung, die aber im Gegensatz zu ihrem Untersuchungsgegenstand den Blick gerade nicht über den engeren Horizont zu heben vermag.


Caspar Hirschi, Dipl. Ass.
Université de Fribourg
Seminar für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit
Avenue de l'Europe 20
CH-1700 Fribourg

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Ins Netz gestellt am 17.12.2002
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Anmerkungen

1 Paul Jaochimsen: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Erster (einziger) Teil. Leipzig 1910.   zurück

2 Peter Johanek: Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. In: Hans Patze (Hg.): Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter. Sigmaringen 1987, S. 287–330.   zurück

3 Ulrich Andermann: Albert Krantz. Wissenschaft und Historiographie um 1500. Weimar 1999.   zurück

4 Lewis W. Spitz: Humanism in Germany. In: Anthony Goodman / Angus Mackay (Hgg.): The Impact of Humanism on Western Europe. London / New York 1990, S. 208.   zurück