Hoffmann über Hárs,Wiesberg,Willer: Botho Strauß

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Torsten Hoffmann

Wer singt den Bocksgesang?
Neuere Arbeiten zum Werk von Botho Strauß

  • Endre Hárs: Singularität. Lektüren zu Botho Strauß (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 361) Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. 224 S. Kart. EUR (D) 30,-.
    ISBN 3-8260-2072-3.
  • Michael Wiesberg: Botho Strauß. Dichter der Gegen-Aufklärung (Perspektiven 3) Dresden: Edition Antaios 2002. 144 S. Kart. EUR (D) 12,-.
    ISBN 3-935063-03-2.
  • Stefan Willer: Botho Strauß zur Einführung. Hamburg: Junius 2000. 162 S. Kart. EUR (D) 12,50.
    ISBN 3-88506-317-4.


Um Botho Strauß ist es ruhiger geworden. Sind Strauß' Texte in den 1980er und 90er Jahren wiederholt Anlass für heftige Kontroversen in der Literaturwissenschaft und den Feuilletons gewesen, scheint nun die Zeit für einen bilanzierenden Rückblick gekommen zu sein. Darauf deutet zumindest die Tatsache, dass nach Stefan Willers Einführung von 2000 jetzt bereits die zweite Überblicksdarstellung zu Strauß' Werk erschienen ist.

Dabei verspricht Michael Wiesbergs Studie Botho Strauß. Dichter der Gegen-Aufklärung von 2002 zumindest auf den ersten Blick einige Brisanz: Denn der Autor war parlamentarischer Berater der Republikaner und publiziert regelmäßig in der neu-rechten Wochenzeitung Junge Freiheit. Verlegt wird das Buch zudem von der Edition Antaios, einem kleinen Dresdener Verlag, der Texte von und zu der politischen Rechten veröffentlicht – darunter die Schriften des kürzlich verstorbenen rechts-konservativen Publizisten Armin Mohler (dem wiederum Strauß zum 80. Geburtstag öffentlich gratuliert hat). Ergebnisoffene Analysen sind an diesem Publikationsort nicht unbedingt zu erwarten: Auf der Homepage des Antaios-Verlags wird der Besucher darüber aufgeklärt, dass Antaios, der mythische Namengeber, jeden Fremden, der ihm begegnete, kurzerhand erschlug und "keine noch so geringe Aufweichung des einen Prinzips [duldete]: über den eigenen Bezirk keine Diskussion überhaupt erst aufkommen zu lassen. [...] Die Schädel derer, die die Grenze überschritten hatten, bleichten unter der Sonne Libyens." 1

Kann sich nun bestätigt fühlen, wer nach der Veröffentlichung des Spiegel-Essays Anschwellender Bocksgesang 1993 (und dessen späterer Platzierung im Sammelband Die selbstbewußte Nation) den Augenblick gekommen sah, Strauß ins politische Rechtsaußen zu verabschieden? Und wie hat man sich unter diesen Vorzeichen eine Einführung in das vielschichtige und kontrovers diskutierte Werk von Botho Strauß vorzustellen?

Der verlorengegangene Text

Das martialische Gehabe eines Antaios bleibt Michael Wiesbergs Studie erfreulicherweise weitgehend fremd. Abgesehen von einigen Polemiken – etwa gegenüber der Gruppe 47, die Wiesberg als einen Verein "der Agitation und der Volkspädagogik" (Wiesberg, S. 36) darstellt – zeichnet sich seine Arbeit vielmehr durch eine merkwürdige Unentschiedenheit aus. Problematisch ist Wiesbergs Studie nicht deshalb, weil sie nur eine Meinung gelten ließe, sondern aufgrund ihrer ausgeprägten Positionslosigkeit.

Nach einem knappen werkbiographischen Überblick widmet sich Wiesberg zahlreichen philosophischen und poetologischen Programmen, die "aus Sicht des Verfassers unabdingbar für die Einordnung des Werkes insgesamt" (Wiesberg,
S. 7) sind. Dabei stellt der Autor ausführlich Pavel Florenskijs Symbolvorstellung dar, unternimmt lange Ausflüge zu Descartes, Heidegger oder George Steiner und überfliegt die Mythos-Debatte ebenso wie die Diskussion um das kollektive Gedächtnis oder poststrukturalistische Theorien. Zweifellos benennt Wiesberg damit wichtige Anschlussstellen für Strauß' Werk. Was dabei jedoch völlig aus dem Blick gerät, sind – Strauß' Texte selbst. Denn Wiesberg versäumt es, seine theoretischen Darstellungen auch für das Verständnis der einzelnen Romane, Theaterstücke und Essays fruchtbar zu machen.

So referiert der Verfasser zwar über vier Seiten den Inhalt von Hofmannsthals Chandos-Brief, konstatiert dann aber bloß, dass Chandos' Bewusstseinskrise "das Strauß'sche Werk durchzieht" (Wiesberg, S. 45). Wo genau der Einfluss des Briefes zum Ausdruck kommt, verrät Wiesberg nicht. Deshalb entgeht ihm, dass es Strauß' Texte immer wieder darauf anlegen, über ihre Vorbilder hinauszugehen – etwa die Krise des Lord Chandos nicht (wie dieser selbst) als ein Scheitern verstanden wissen wollen, sondern als ein "Gleichnis des überschwenglichen, des komplexen Begreifens", welches letztlich "zum Aufbau neuer Erkenntnisfelder beitrug". 2 Wiesberg präsentiert theoretische oder literarische Positionen, nach deren Kenntnisnahme die eigentliche Interpretationsarbeit erst beginnen müsste.

Ertragreicher ist in diesem Kontext ein Blick in die Monographie von Stefan Willer, erschienen in der Einführungs-Reihe des Junius Verlags, der den Chandos-Brief als Ausgangspunkt eines Kapitels zu den Konversationskrisen in der straußschen Dramatik nutzt (vgl. Willer, S. 39 ff.). Überhaupt gelingt es Willer vorzüglich, die poetologische Funktion der zahlreichen intertextuellen Verweise in Strauß' Texten offen zu legen. In seiner Parallellektüre der Prosa-Sammlung Niemand anderes und des Essays über Rudolf Borchardt zeigt Willer, wie sich bei Strauß der "Entwurf einer Liebestheorie" und die Bezugnahme auf fremde Texte zu einer "Ästhetik des Anderen" (Willer, S. 104) verbinden. Einzelstellen-Interpretationen und Verallgemeinerungen werden hier wie in zahlreichen anderen Passagen des Bandes auf treffende Weise miteinander verbunden.

Ganz anders in Wiesbergs Studie. Wiesbergs Desinteresse an der ästhetischen Dimension der Texte findet seinen Höhepunkt in dem Kapitel Wohnen Dämmern Lügen, das sich wie eine Persiflage auf die Verselbstständigung sekundärer Diskurse liest (und das so unreflektiert, als hätte Botho Strauß nie in seinem Nachwort zu George Steiners Von realer Gegenwart zum Aufstand gegen die sekundäre Welt aufgerufen). Hier schreibt Wiesberg viel über Heidegger, erwähnt Hölderlin, zitiert kurz aus zwei Strauß' Texten – und geht mit keinem Wort auf den 1994 erschienenen Prosaband Wohnen Dämmern Lügen ein.

Wenn Textinhalte dann doch einmal eine Rolle spielen, bezieht sich Wiesberg zumeist stärker auf andere Interpreten als auf den Text selbst. So besteht das Kapitel zu Beginnlosigkeit aus nicht viel mehr als der Zusammenfassung eines Aufsatzes von Gerd Bergfleth über diesen Text. Da die gesamte Einführung (abgesehen von einigen Reaktionen auf den Anschwellenden Bocksgesang) jedoch nicht mehr als acht literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Strauß' Werk zur Kenntnis nimmt (und sich davon am häufigsten auf Stefan Willers knappe Einführung bezieht), kann von einem Forschungsüberblick kaum die Rede sein.

Anschwellender Bocksgesang
– Solostimme oder Chorgesang?

Überhaupt scheint Wiesberg sich weniger für Strauß' Werk als für den Essay Anschwellender Bocksgesang zu interessieren. Doch selbst hier wird kaum einmal eingehender mit Textstellen gearbeitet. Strauß hat in einer nachträglichen Stellungnahme betont, dass für ihn der "eigentliche Skandal dieses Beitrags" 3 in seiner unzugänglichen Form bestehe – über die man bei Wiesberg ebenso wenig wie etwa über die unterschiedlichen Fassungen des Essays erfährt. Davon, dass man es beim Anschwellenden Bocksgesang, so Stefan Willer, mit einem Text voller "Widersprüchlichkeiten, Paradoxa und Unschärfen" (Willer, S. 12) zu tun hat, ist bei Wiesberg wenig zu spüren. Auch in den Passagen zum Bocksgesang beschränkt sich Wiesberg weitgehend auf eine Parallelstellen-Sammlung, in der er vor allem auf René Girards Theorie der Gewalt verweist (vgl. Wiesberg, S. 98–103). So wird die eingangs aufgestellte These, dass der Essay einen "Wendepunkt in der Karriere von Botho Strauß" (Wiesberg, S. 20) darstellt, im Folgenden nicht näher erläutert – was insbesondere deshalb von Interesse gewesen wäre, als in der Forschung bisher vor allem die gegenteilige Position vertreten worden ist. So weist etwa Marieke Krajenbrink darauf hin, dass im Anschwellenden Bocksgesang "Standpunkte und Denk-Bilder in zugespitzter, konzentrierter Form auftauchen, die im literarischen Werk in lockerer Streuung, diversifiziert durch mehrere Rollen-Sprecher, durchgespielt werden". 4

Wie ein produktiver Umgang mit vorliegenden Forschungsergebnissen aussehen kann, hätte Wiesberg in der 2001 erschienenen Dissertation Singularität. Lektüren zu Botho Strauß des ungarischen Germanisten Endre Hárs nachlesen können, die in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil zu Wiesbergs Arbeit darstellt.

Während in der Forschung des öfteren einzelne Passagen aus dem Roman Der junge Mann in Beziehung zum neun Jahre später erschienenen Bocksgesang gesetzt worden sind, um auf die schleichende >Rechtswendung< in Strauß' Denken hinzuweisen, stellt Hárs den Argumentationsgang einfach auf den Kopf: Statt den narrativen, fiktionalen Diskurs des Romans zur "Wahrheit seines Autors" zu machen, probiert Hárs "umgekehrt eine Verschmelzung auf Kosten des auktorialen (nicht-fiktionalen) Diskurses" (Hárs, S. 63) aus und liest den Essay so, als handele es sich um einen Abschnitt aus dem Roman. Der Erkenntnisgewinn dieses anachronistischen Vorgehens ist schon deshalb beträchtlich, weil er die Lektüre des Essays von der Suche nach einer kommunizierbaren Botschaft befreit und den Blick für dessen "inhomogene Vielfalt" (Hárs, S. 106) öffnet. In seiner akribischen Lektüre weist Hárs nach, dass sich im Essay die Stimmen eines antiaufklärerischen Apokalyptikers und einer >rechten< Selbstaufklärung der Aufklärung überschneiden und widersprechen. Doch noch dieser Differenzierung liegt eine Vereinfachung zugrunde, wenn selbst der vermeintlich >Rechte< in seiner Kritik an Linksintellektuellen und Medienwelt auf Argumentationsmuster der kritisierten Positionen zurückgreift und deshalb nach Hárs allenfalls als ein "rechter >Linke[r]>" (Hárs, S. 96) charakterisiert werden darf.

So originell Hárs' destabilisierende Textlektüren zweifellos sind, scheinen sie jedoch in ihrer Wiederholung nicht nur eine heuristische Methode zu begründen (was Hárs ausdrücklich nicht intendiert, vgl. Hárs, S. 201), sondern gelegentlich auch primär einer Lust an der Inszenierung der eigenen Unkonventionalität geschuldet zu sein. Während also Hárs streckenweise zu sehr auf den interpretationstheoretischen Knalleffekt setzt, wartet der Leser von Michael Wiesbergs Einführung vergeblich auf jedwede Überraschung. Wiesberg mokiert sich ausschließlich über die "aufgeregt-alarmistische Diskussion" des Anschwellenden Bocksgesangs in der "linksliberale[n] Öffentlichkeit" (Wiesberg, S. 30 und 19), bleibt aber eine eigene Bewertung des Essays schuldig. Fast wünschte man sich beim Lesen von Wiesbergs Einführung eine stärkere politische Voreingenommenheit des Verfassers – um auf diesem Wege wenigstens der weitgehenden Positions- und Ertraglosigkeit seiner Ausführungen zu entkommen. Weshalb Jerker Spits in seiner Rezension zu dem Schluss kommt, dass Wiesbergs Arbeit als "ausgezeichnete und gut lesbare Einführung [...] wärmstens empfohlen werden kann", 5 ist vor diesem Hintergrund nur schwer nachzuvollziehen.

>Botho Strauß< –
Autor oder Textsammlung?

Aus interpretationstheoretischer Perspektive macht sich Wiesbergs Einführung aber vor allem deshalb angreifbar, weil sie durchgängig die Äußerungen des fiktiven Personals in Strauß' Texten als Meinung ihres Autors ausgibt. Wo Wiesberg beispielsweise behauptet, dass "Strauß [es] an Deutlichkeit in seinen Worten über die geistige Situation in der Bundesrepublik nicht fehlen" (Wiesberg, S. 36f.) lasse, wird als Beleg lediglich der Erzähler aus dem Roman Der junge Mann zitiert. Wiesberg entgeht, dass er sein Interesse für die Gedankenwelt des Autors ausgerechnet am Beispiel eines Schriftstellers vorführt, dessen Texte sich seit Ende der 70er Jahre immer wieder an einer Auslöschung der Autorfigur versucht haben (näheres dazu bei Willer, S. 59–66).

Die Umkehrung von Wiesbergs autorfixierter Textvernachlässigung wird dagegen von Endre Hárs propagiert. In seiner mitunter bis an den Rand der Lesbarkeit theorie-gesättigten Sprache vertritt Hárs die These, dass der Autor Botho Strauß nur als "diskursiv vereinbartes Konstrukt, als Routine-Komponente eines diskursiven Zuschreibungsverhältnisses" (Hárs, S. 69) existiere und man ihn geradezu ignorieren müsse, um sich unbefangen seinen Texten widmen zu können (was allerdings nicht zuletzt von dem Strauß-Porträt unterlaufen wird, das man auf dem Cover von Hárs' Studie ebenso wie bei Wiesberg und Willer findet). Ob das eng ineinander verzahnte Gesamtwerk von Botho Strauß tatsächlich unter völligem Verzicht auf den Autorbegriff gewinnbringend analysiert werden kann, mag dahingestellt bleiben. Schlicht mit den Stimmen seiner Figuren identifizieren, wie Wiesberg es praktiziert, sollte man den Autor jedoch sicher nicht.

Warum die Gleichung von Autor und Figur bei Strauß nicht aufgehen kann, zeigt sich u.a., wenn Wiesberg aus dem Streitgespräch zwischen Reppenfries und Hanswerner in Der junge Mann nicht nur (wie häufig in diesem fahrlässig lektorierten Buch) ganz ohne Quellenangabe zitiert, sondern Teile aus Reppenfries' Argumentation aus dem Zusammenhang herauslöst und umstandslos Botho Strauß in den Mund legt (vgl. Wiesberg, S. 89). Zwar gibt es in Strauß' Werk fraglos Anhaltspunkte für die von Wiesberg konstatierte "Ästhetik der Restauration" (Wiesberg, S. 71 und 77), aber eben immer wieder auch gewichtige Gegenstimmen dazu.

Endre Hárs hat in seiner minutiösen Analyse der Reppenfries-Hanswerner-Dialogs vorgeführt, dass es in dieser Passage "weder um eine abschließbare Konfrontation noch um eine Klärung entgegengesetzter Standpunkte" gehe, sondern die beiden Figuren selbst bereits eine so große interne Diskrepanz aufwiesen, dass es dem Text zuwiderlaufe, überhaupt eindeutig "festschreiben zu wollen, was die eine und die andere Figur meint" (Hárs, S. 88f.). Die im Streitgespräch verhandelten Themen blieben derart "in der Textur des Gesprächs befangen" (Hárs, S. 90), dass man sie nicht aus ihrem Kontext isolieren könne. Während es Hárs auf zumeist überzeugende, weil textnah-argumentierende Weise gelingt, die "vermeintliche Sinnkonsistenz der Textabschnitte [...] zu destabilisieren" (Hárs, S. 106), muss Wiesberg die Vielstimmigkeit des straußschen Œuvres radikal beschneiden, um ihm scheinbar eindeutige Meinungen seines Autors entnehmen zu können.

Insgesamt zielt Wiesbergs Vorgehensweise darauf, dem Leser ein homogenes Bild des Dichters und Denkers Botho Strauß zu präsentieren. Es ist der >Geist des Autors<, auf dessen Suche sich Wiesberg begibt – ungeachtet aller literaturwissenschaftlichen Vorbehalte gegen eine solche Fixierung auf die >intentio auctoris<. Indem seine rein thematisch geordnete Studie sowohl auf eine zeitliche Differenzierung verzichtet als auch der Gattungsvielfalt des Werkes keine besondere Beachtung schenkt, ist sie nicht in der Lage, auf Veränderungen und Widersprüchlichkeiten in den Texten einzugehen.

Schon in ihrem Ansatz überzeugender ist dagegen Willers Einführung. Willer arbeitet mit einer chronologischen Rahmung: Während sich der erste Teil mit Strauß' frühen Beiträgen für die Zeitschrift Theater heute und den dramaturgischen Arbeiten an der Berliner Schaubühne in den 70er Jahren beschäftigt, widmet sich das fünfte und letzte Kapitel dem Schreiben nach 1989. Dazwischen finden sich Abschnitte zu den Dramen, zu den Romanen und Erzählungen (mit einem Exkurs zur Lyrik) und zur Essayistik. In dieser Kombination von historischer und systematischer Akzentuierung kann Willer die Entwicklung von Strauß' Werk im Blick behalten, muss die offensichtlichen Differenzen etwa zwischen den Dramen und der unzugänglichen Reflexionsprosa nicht überspielen und ist darüber hinaus in der Lage, auf thematische Schwerpunkte einzugehen (u.a. in einem Kapitel zu "Pathos, Mythos und Nation").

Die Umkehrung der Forschung

Noch wesentlich radikaler als Willers Einführung (und ohne deren Anspruch auf Vollständigkeit) widersetzen sich Endre Hárs' Strauß-Lektüren der von Wiesberg betriebenen Harmonisierung der Denk- und Schreibweisen dieses Autors. Im Unterschied zu Wiesberg sieht Hárs die literarische Qualität von Strauß' Texten gerade darin begründet, dass "sie sich auf ihre Lektüre hin offen zeigen" (Hárs, S. 203).

Im ersten Viertel des Buches entwickelt Hárs seine Interpretationstheorie der >Singularität<, die in einer Verknüpfung hermeneutischer und dekonstruktivistischer Gedankengänge für eine >radikal undogmatische< (vgl. Hárs, S. 49) Lektüre wirbt. 6 Als >singulär< bezeichnet Hárs eine Textinterpretation, die sich jeder methodischen Vorentscheidung enthält, skeptisch gegenüber einem vermeintlichen >Gesamtsinn< von Texten bleibt und auf jedwede "Ausschließlichkeiten" sowie "Entweder/oder-Prozeduren (ver)wissenschaftlich(t)er Textarbeit" (Hárs, S. 55) verzichtet. In einer Art >close-reading< soll das Augenmerk auf Widersprüchliches gerichtet und damit einer vorschnellen teleologischen Thesenbildung entgegengearbeitet werden. Da eine singuläre Lektüre ihre Beobachtungen somit nicht mehr auf die Konsistenz von Autor-, Textsubjekt- oder Erzählerpositionen bezieht, kann sie sich problemlos auf "Einzel- und Binnenanalysen" (Hárs, S. 51) beschränken und etwa einzelne Kapitel aus dem Gesamtzusammenhang eines Romans herausgreifen.

Das Innovationspotential dieses Ansatzes ist sicherlich nicht immer so groß, dass es den enormen theoretischen Argumentationsaufwand an jeder Stelle rechtfertigen würde. Dessen ungeachtet legen die (zum Teil in kürzeren Fassungen schon separat veröffentlichten) Kapitel II bis V vom Nutzen dieser Lektürestrategie für den Umgang mit Texten von Botho Strauß eindrucksvoll Zeugnis ab. Die Analysen von Der junge Mann, Kongreß, Beginnlosigkeit und Anschwellender Bocksgesang folgen Hárs' interpretationstheoretischer "Selbstüberwindung der Theorie" (Hárs, S. 201) insofern, als sie weniger inhaltlich als vielmehr aufgrund des gemeinsamen Interpretationsverfahrens miteinander verbunden sind. Einen Höhepunkt hársscher Deutungskunst stellt zweifellos das Kapitel zu dem Prosaband Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie dar, in dem der Verfasser seine gelegentlich etwas dogmatisch anmutende Undogmatik ganz undogmatisch aufbricht.

Zwar findet sich auch hier eine (in diesem Fall extrem produktive) destabilisierende Lektüre: Hárs argumentiert gegen eine sich beim ersten Lesen des Textes aufdrängende und von der Forschung bestätigte Präferenz des Erzählers für die Fleckmetapher und zeigt, dass die Linienmetapher in "eminenter Weise mit dem Menschen in Beziehung steht" (Hárs, S. 181) und deshalb vom Text keinesfalls marginalisiert werde. Auf diesem Umweg gelingt es Hárs, die Poetik des Flecks letztlich doch zu bestätigen. Denn erst die herausgearbeitete Gleichwertigkeit von Fleck und Linie vermag dem heterogenen Charakter des Flecks ganz zu entsprechen – und damit eine "neue[ ] ästhetische[ ] Engstirnigkeit [...], nun auf Mandelbrot-Basis", 7 zu verhindern.

Die Pointe dieses Kapitels zu dem wahrscheinlich kompliziertesten Text aus Strauß' Œuvre besteht dann aber darin, dass sich Hárs (ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit) mit einigem Erfolg um eine Strukturierung des unübersichtlichen Werkes bemüht. Wo andere Forschungsliteratur vor der Zusammenhangslosigkeit der Textblöcke kapituliert und etwas hilflos eine Überforderung des Lesers zur Wirkungsabsicht erklärt, 8 konzentriert sich der Verfasser auf den Nachweis, dass auch der Erzähler dieses Textes "in eine Geschichte verstrickt" (Hárs, S. 196) ist. Willers These, nach der die Widersprüchlichkeit von Beginnlosigkeit "es nie zu einer narrativen Entwicklung kommen lässt" (Willer, S. 139), kann nach Hárs' Analyse kaum mehr aufrecht erhalten werden. Während die Erzählinstanz auf diskursiver Ebene Phänomene der Beginn- und Endlosigkeit umkreist, bleibt ihr Erzählen, so Hárs' Ergebnis, gleichwohl von Anfang, Mitte und Ende und damit von der "Unaufhebbarkeit des Narrativen" geprägt – so dass Beginnlosigkeit als ein "unterschwelliges Plädoyer fürs narrative Prinzip" (Hárs, S. 198) verständlich wird.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich schließlich doch eine inhaltliche Verbindung zwischen den singulären Strauß-Lektüren in Hárs' Buch: Deutlich wird, dass Strauß' Texte insgesamt – und eben auch dort, wo sie auf lineare Handlungsverläufe verzichten und zum essayistischen Schreiben tendieren – "im Narrativen [...] stärker verwurzelt" (Hárs, S. 202) sind, als es zunächst den Anschein hat. Zwar wird mit dieser übergreifenden Beobachtung der radikalen Singularitätsthese des Eingangskapitels widersprochen, damit aber gleichzeitig verhindert, dass sich jener im Namen einer Offenheit gegenüber dem Text geforderte Verzicht auf eine "verallgemeinernde Zusammenschau" (Hárs, S. 51) selbst verabsolutiert.

Statt sich mit Endre Hárs darüber Sorgen zu machen, ob sein theoretischer Ansatz und die darauf folgenden Textanalysen womöglich "einander verfehlen" (Hárs, S. 7) könnten, ließe sich allerdings fragen, ob der Zusammenhang zwischen Hárs Theorie und Strauß' Texten nicht größer ist, als es Hárs lieb sein sollte. Denn mindestens ebenso evident wie der Einfluss der Singularitätsthese auf die Strauß-Lektüren scheinen die Auswirkungen der Strauß-Lektüren auf das theoretische Modell zu sein. Mit anderen Worten: Wenn die von Hárs konstatierte Selbstwidersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit tatsächlich in Strauß' Texte angelegt ist (und dafür spricht einiges), ist eine Interpretationstheorie, der es auf eben solche Attribute ankommt, für die Analyse dieser Texte zweifellos besonders geeignet. Ob die Theorie damit aber der Lektüre wirklich vorgängig und vor allem: Ob die Singularitätsthese tatsächlich "nicht Strauß-spezifisch" (Hárs, S. 9) und als eigenständige Theorie auf beliebige Texte anderer Autoren mit Gewinn anwendbar ist, muss deshalb offen bleiben.

Forschung
übergangen, überblickt, übertrumpft

"Bei Botho Strauß lässt sich lernen, dass poetische Verfahren ohne genaue Lektüre nicht auskommen" (Willer, S. 141), schreibt Stefan Willer in seinem Schlusswort – und bringt damit auf den Punkt, woran Michael Wiesbergs Studie gescheitert ist. Sowohl die Texte von Strauß als auch der Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung werden von Wiesberg schlicht übergangen.

Einer genauen Lektüre verpflichtet zeigen sich im Unterschied dazu sowohl Hárs' Strauß-Lektüren als auch Willers Einführung. Zweifellos gehen beide über das hinaus, was man von der jeweiligen Textgattung erwarten darf. Denn Stefan Willers auf höchstem Einführungs-Niveau argumentierende Darstellung eignet sich nicht nur als pointierter und auf breitem Lektüre-Fundament basierender Einblick in das Gesamtwerk von Botho Strauß, sondern ist auch als erster Forschungsüberblick nützlich.

Weniger auf das Überblicken als vielmehr auf das Überwinden der bisherigen Forschungsergebnisse kommt es Endre Hárs an. Die durchweg überraschenden und anregenden Ergebnisse seiner Einzelinterpretationen sollte sich das fachwissenschaftliche Publikum auf keinen Fall entgehen lassen. So ruhig es in den Feuilletons um Botho Strauß auch geworden sein mag – Hárs' unkonventionelle Herangehensweise dürfte zumindest in der literaturwissenschaftlichen Diskussion für einige Unruhe sorgen.


Torsten Hoffmann
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Ins Netz gestellt am 26.07.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Hans Eisener: Antaios. URL: http://www.edition-antaios.de/ (16.7.2003).   zurück

2 Botho Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München: dtv 1997, S. 120.   zurück

3 Botho Strauß: Postscricptum 1994. In: B.S.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien: Hanser 1999, S. 77–78, hier S. 77.   zurück

4 Marieke Krajenbrink: >Das Mißverständliche als Privileg des Kunstwerks<. Botho Strauß als >Zeitgenosse< und >Porträtist<. In: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 297–309, hier: S. 298.    zurück

5 Jerker Spits: Ästhetik der Restauration. Michael Wiesberg porträtiert Botho Strauß als Dichter der Gegenaufklärung (16.4.2003). In: literaturkritik.de. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5596 (16.7.2003).   zurück

6 Vorarbeiten zum Theoriekapitel finden sich bereits in Endre Hárs: Die Singularität der literarischen Lektüre. Entwurf eines methodenkritischen Lektüre-Begriffs. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 1998, S. 51–73.   zurück

7 Botho Strauß (Anm. 2), S. 69.   zurück

8 In Hárs' Richtung wies bisher nur Susanne Lämmermann: >Für unser Werk, mein Liebster!< Die Thematisierung von Produktion im Erzählwerk von Botho Strauß. Frankfurt / M. u.a.: Lang 1996, S. 63 f.   zurück