Holdenried über Ette/Hermanns/Scherer/Suckow: Alexander von Humboldt

IASLonline


Michaela Holdenried

Künstliche Horizonte.
Grenzüberschreitungen, Netzwerke, Synthesen:
Alexander von Humboldts Beitrag zu einer Wissenschaftsgeschichte der Moderne

  • Ottmar Ette / Ute Hermanns / Bernd M. Scherer / Christian Suckow (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne. (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 21) Berlin: Akademie Verlag 2001. 299 S. Geb. € 74,80.
    ISBN 3-05-003602-8.


Mit einer Instrumentensammlung sondergleichen brach Humboldt 1799 zu seiner Reise in die Aequinoktialgegenden des Neuen Kontinents auf, darunter auch ein künstlicher Horizont, der wie kein anderes Instrument geeignet scheint, metaphorisch die Gestalt des Entdeckers zu beleuchten. Wo der natürliche Horizont fehlt, wird ein künstlicher gesetzt, Mitgebrachtes und die Erfahrung des Fremden begegnen sich – >Horizontverschmelzung< im besten Sinne.

Der vorliegende Sammelband geht auf Beiträge des Symposions von 1999 zurück, das in Berlin im "Haus der Kulturen der Welt" stattfand. Er steht deutlich im Kontext von Bemühungen, den großen Forschungsreisenden und letzten Vertreter eines synthetisierenden Wissenschaftsverständnisses im 19. Jahrhundert stärker in den Blickpunkt einer modernen Wissenschaftsgeschichte zu rücken, die – selbst im Umbruch befindlich – auf der Suche nach Vorläufern eines sich transformierenden, grenzüberschreitenden Wissens Revisionen vorzunehmen bemüht ist. Humboldts scheinbarer Anachronismus wird als Gegenkraft zu einer immer mehr in Spezialdisziplinen aufgespaltenen Wissenschaftslandschaft berufen, in der die Stimmen für eine Vernetzung aber schon seit langem unüberhörbar geworden sind.

Mit Verweisen auf die rekurrenten Formeln aktueller Wissenschaftsdebatten wird die Modernität Humboldts herausgestellt: Verknüpfungen seines wissenschaftlichen Ansatzes mit einem kulturtheoretischen Wissenschaftsbegriff werden vorgenommen, der frühe interkulturelle Dialog mit den nichteuropäischen >Modernen< nachgezeichnet, Humboldts Wirken in einem globalen Netzwerk von Spezialisten recherchiert und die Chance nichtkolonialistischen Wissenserwerbs dokumentiert. Die Aktualität Alexander von Humboldts betont Wolf Lepenies im Vergleich von dessen Horizontüberschreitungen mit dem Eurozentrismus des Bruders Wilhelm.

Dennoch – und dies ist ein Verdienst der heutigen Forschung gegenüber früheren hagiographischen Annäherungen – wird Humboldt nicht als hehre Lichtgestalt gemalt, sondern als ein in seinem Wirken selbst widersprüchliches Symptom der Moderne verstanden, so Hartmut Böhme in seinem Beitrag (S. 21). Als "Übergangsgestalt" (Vorwort, XII), "eine Figur des Aufbruchs [...], selbst unvollendet, exemplarisch aber wie kaum ein anderer Repräsentant des Zeitalters" (ebd.) steht Humboldt für die Spannungen zwischen instrumenteller Vernunft und der Affinität zur spekulativen romantischen Naturphilosophie, zwischen der Forcierung kapitalistischer Modernisierung und holistisch-sozialer Gegenbewegungen, zwischen intellektuellen Prägungen durch das 18. Jahrhundert und dem Ansatz zur modernistischen >Temporalisierung< der (Natur-)Wissenschaften.

Dies alles sind keine wesentlich neuen Gesichtspunkte der Humboldt-Forschung, doch wird in den Beiträgen des Bandes versucht, mit spezifischen Annäherungen den Begriff der >Humboldtian Science< (Susan Cannon) erstmals im deutschsprachigen Raum mit Leben zu erfüllen.

In der ersten Abteilung des Sammelbandes – deren Überschriften ich im Folgenden als Gliederungselemente nutze – steht die Interdependenz dieser Wissenschaftsauffassung und des >Humboldtian Writing< im Mittelpunkt.

Ästhetische Repräsentationen
in der Moderne

Die Beiträge von Hartmut Böhme und Ottmar Ette beleuchten die Verbindung von >Humboldtian Science< und >Humboldtian Writing< in detailreicher, textanalytisch und wissenschaftstheoretisch spannender Form neu. Als ein grundlegender Bezugstext des ganzen Bandes kristallisiert sich in beiden Beiträgen Über die Steppen und Wüsten heraus, der 1808 in den Ansichten der Natur erschien. Böhme macht die Bedingungen einer "ästhetischen Wissenschaft", wie sie Humboldt vorschwebte, also die " Inkorporierung eines ästhetischen Programms in ein wissenschaftliches Unternehmen" (S. 28), in einer Art panoramatischer Erhabenheitsästhetik wie in der dazu komplementären >Temporalisierung< der Text- / Wissensbewegung aus und spürt in wissenschaftsgeschichtlicher Verästelung deren Verzahnung nach. Die Besonderheit der Textgestalt, deren unausgewogenes Verhältnis von Haupttext und Anmerkungsapparat Böhme als einen "textliche[n] Unfall" (S. 25) beschreibt, wird unter anderem in der Gleichzeitigkeit klassischer Erhabenheitsästhetik und hybrider Textur gesehen. Wie andere Beiträger auch sieht er darin erstaunliche Vorwegnahmen modernster Hypertext-Strukturen.

Ette arbeitet ebenfalls die "rhizomatische Schreibweise" (S. 49, Anm. 45) heraus, geht aber textanalytisch detaillierter auf den komplex verfugten, eben nicht monolithischen Block aus Wissenschaft, Ethik und Ästhetik ein. Die Humboldt eigentümlichen Schreibstrategien sieht Ette trotz aller neueren Ansätze keineswegs erschöpfend untersucht. Sein Beitrag besteht in der Aufmerksamkeit auf "reiseliterarische Orte höchster Signifikanz" (S. 40), dem Aufweis "philosophischer Rahmungen" (S. 42) und der Herauslösung von "Erzählkernen" (S. 49). Die >Humboldtian Science< sieht er genau in jenen textuellen Verfertigungsstrategien begründet, mit denen eine "Narrativierung des Diskurses" und eine "diskursive Aufladung des Narrativen" (S. 49) gelingt.

Den seit der zeitgenössischen Rezeption anhaltenden Streit um die tatsächliche Innovationskraft der Humboldtschen Wissenschaftskonzeption sucht Ette aufzulösen, indem er die >ars combinatoria< – oder moderner: die Vernetzung und Kombinatorik – als Humboldts spezifischen Beitrag hervorhebt und nicht das Innovatorische der Episteme. Allerdings wird von verschiedenen anderen Beiträgern nicht verabsäumt, die Begründung verschiedener Wissenschaftsdiziplinen durch Humboldt besonders zu betonen.

Friedrich Wolfzettels Beitrag, der letzte in dieser Sektion, eröffnet eine Reihe von Beiträgen, deren Zusammenhang mit Humboldt mehr bemüht als wirklich nachvollziehbar ist. In einem Aufsatz über den "erfüllten Augenblick im französischen Reisebericht" nach Humboldt hätte man sich – vielleicht auch anknüpfend an Ettes Hinweis auf den "Effekt der Unmmittelbarkeit" (S. 52) – den wenigstens leitmotivischen Zusammenhang gewünscht, den Aufweis von Querverbindungen, und nicht nur die formale Zäsur, die Wolfzettel mit Humboldt setzt, um sie dann auf sich beruhen zu lassen.

Spuren in der Moderne

In dieser Sektion kamen ausschließlich die lateinamerikanischen Forscher zu Wort und es ist ausgesprochen lamentabel, daß das Gros dieser Beiträge nicht über den Status des Statements hinausreicht. Hochkarätige Namen von Leopoldo Zea bis Beatriz Sarlo erscheinen ehrfurchtsheischend, doch nicht nur die älteren Herren bieten nichts wirklich Frisches an; auch die jüngeren ForscherInnen (wie Sarlo) haben nur magere Kost anzubieten. Das ist das eigentlich Enttäuschende dieses Bandes, denn gerade von der Zweiseitigkeit des Austausches wäre Ergiebigeres zu erwarten gewesen.

Jesús Diaz, der die Eröffnungsrede hielt, würdigt in seinem Präludium Humboldt als vorurteilsfreien, nicht-eurozentristischen und egalitär eingestellten ersten Enzyklopädisten Lateinamerikas – und gibt damit nur die von jeder kritischeren Volte der neueren Humboldt-Forschung (für die Mary Louise Pratt 1 nur als ein Name steht) unangefochtenen Gemeinplätze der lateinamerikanischen >Humboldtianer< wieder. Peinlich ist, daß Diaz in seinen exemplarischen Ausführungen zu Humboldts Vorurteilslosigkeit dann genau jene Einstellungen berührt, die in den vergangenen Jahren zu einer Korrektur des Humboldt-Bildes, jedenfalls aber zu stärkerer Differenzierung führen mussten. Daß der Baron fasziniert war von den "körperlichen Kräften der Indios" (S. 75), von Stärke, Geschicklichkeit, Mut und Robustheit, kann zu jenen in Ettes Beitrag erwähnten (S. 45, Anm. 34) hochproblematischen Argumentationsfiguren zählen, deren rassistischer Hautgoût heutzutage einfach nicht mehr übersehen werden sollte. Ette spricht dies ausdrücklich an, wenn er von der misslichen Integration der indianischen Völker in die am Rande zum Tier befindlichen Zivilisationsstufen bei Humboldt spricht.

Auch wenn ein Dichter der brasilianischen Romantik wie Sousândrade hierzulande noch weniger wahrgenommen worden sein dürfte als in Brasilien, so hätte doch der Versuch Haroldo de Campos, mit dem Aufweis von Nähe und Gleichklang zu Humboldts Schreiben zugleich eine Rehabilitierung dieses >minderen Dichters< zu betreiben, spannend sein können. Über sehr punktuelle Berührungen, gelegentliche Infiltrationen des Sousândradeschen Werkes durch Reflexionen auf Humboldt, der als Weiser oder Ratgeber stilisiert wird, sowie einen nicht sehr vielsagenden Vergleich von beider Reiserouten dient der Beitrag offensichtlich nur dazu, eine Plattform für einen begeisterten Sousândrade-Forscher bereitzustellen. Über Humboldt erfahren wir darin außer den schon monierten Gemeinplätzen nichts Neues – die Quintessenz des >Vergleichs< spricht für sich: "Wenn Humboldt mit seiner holistischen Auffassung vom Kosmos Sousândrade nicht direkt beeinflußt (sic) haben muß (sic), so ist es doch offensichtlich, daß (sic) beide in ähnlicher Weise empfunden, gefühlt und die Welt verstanden haben."(S. 95)

Auch Sarlo, eine von lediglich zwei weiblichen Beiträgern im gesamten Band, hat – ihrer beeindruckenden Forschungsbiographie im Anhang zum Trotz – leider nur das Dokument einer Befangenheit in postmoderner Beliebigkeit abgeliefert. Was hier zu "pluralen Literaturen" geäußert wird, diskreditiert jeden Versuch, globale Vielfalt und deren Überkreuzungen, Beeinflussungen, Berührungen zu erfassen. Keine theoretische Floskel wird ausgelassen, wenn in der Stadtkarte Buenos Aires' ein "moderner Text" erkannt wird (S. 103), die "Ränder [als der] unbestimmte Ort" (ebd.) dechiffriert werden, die Übersetzung als Autonomisierung deklariert wird etc. pp. Borges, Buenos Aires, Cortázar, Neruda – ein Eintopf, mit ein bißchen Humboldt gewürzt, der als ausgesprochen blasses Gespenst durch die Strassen der Stadt am Río de la Plata irrt.

Wissenschaft in der Moderne

An keiner Stelle der Beiträge aus der vorangegangenen Sektion, so muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, sind Vertiefungen oder auch nur Anregungen zur Weiterführung der rekurrenten theoretischen Debatten um Humboldt zu erkennen. Den Gipfelpunkt aber bildet der Beitrag Johann Götschls aus der anschließenden Sektion, der an Pseudowissenschaftlichkeit nicht zu überbieten ist. Der Kaiser ist nackt, muß hier laut gerufen werden, auch um Humboldt davor zu schützen, als Appendix eines Spezialistentums benutzt zu werden, von dem gerade er sich mit Grausen abgewendet hätte.

Götschl legt seinen eigenen "evolutiven dynamischen Wissenschaftsbegriff" zugrunde, als dessen Vorläufer er Humboldt reklamiert. In einer Abgehobenheit sondergleichen entwickelt er sein evolutiv-dynamisches Kartenhaus, das vielleicht für einen kleinen, sich aus sich selbst generierenden Kreis von sogenannten Wissenschaftsforschern interessant sein mag, nicht jedoch für ein breiteres Wissenschaftspublikum. Auf einer knappen Seite wird zuletzt der dürftige Versuch unternommen, Humboldt als Vorläufergestalt eines solchen Wissenschaftsverständnisses auszuweisen, doch bleibt es bei der puren Verlautbarung. Einen extrem unangenehmen Beigeschmack hinterlässt der Beitrag nicht zuletzt auch wegen des unglaublichen Narzissmus des Verfassers: Götschl zitiert fast ausschließlich sich selbst und – mit Abstand – einige wenige >fellows<. Dies ist nicht die Art von >networking<, wie es Humboldt heute vorschweben würde.

Wohltuend erscheint nach dieser Selbstfeier der Versuch einer wirklichen Vermittlung zwischen gegensätzlichen Forschungspositionen durch Michael Dettelbach. Den forschungstraditionell festgeschriebenen Zuordnungs-Spagat Humboldts zwischen dem Empirismus der Aufklärung und dem romantischen Idealismus sieht Dettelbach durch die von Humboldt entwickelte "Hermeneutik des Experiments" (S. 140) überbrückbar. Interessante Einordnungen in die sich formierenden Humanwissenschaften, Ausführungen zur Pasigraphie — der von Humboldt entwickelten universalen Schrift für Experimente — und die wissenschaftliche Nähe-Ferne-Relation zu bestimmten zeitgenössischen Wissenschaftlern werfen ein differenziertes Licht auf Humboldts Position im Horizont einer sich im Umbruch befindenden Wissenschaftslandschaft. Obgleich Humboldt als Erbe des humanwissenschaftlichen Projekts der Aufklärung angesehen werden muss, sei seine Nähe zu den romantischen Naturphilosophen kein absoluter Widerspruch gewesen. Philosophische Naturanschauung und Beobachtung sowie ein nicht vorschnell durch Theoretisierung kanalisiertes Experimentieren bildeten Berührungspunkte mit romantischer Wissenschaftlichkeit.

Offen bleibt lediglich, warum sich Humboldts Verhältnis zur Naturphilosophie (Schellings) bis 1827 so grundlegend in Feindschaft verkehrte. Darüber hätte man gerne noch mehr erfahren. Positiv hervorzuheben ist noch, daß Dettelbach einer der wenigen Beiträger ist, der auf die hintergrundbildenden Forschungsergebnisse zweier Frauen in der männlich dominierten Forschung aufmerksam macht: auf Cannons Ansatz, 2 die den Begriff der >Humboldtian Science< prägte und Anne Macphersons 3 vielgelesene Dissertation.

Europa und Lateinamerika

Leopoldo Zeas und Jaime Labastida Ochoas Beiträge können hier übergangen werden, weil sie über Altbekanntes nicht hinausgehen. Der große alte Herr der lateinamerikanischen Philosophie, Zea, zeigt Humboldt als einen gelangweilten Europäer, der in Lateinamerika das Neue, Unberührte sucht, wobei er im Gegensatz zu anderen aber nicht die These von der Unreife Amerikas wiederholt, sondern das Andersartige betont. Ochoas Beitrag zur wissenschaftlichen Methode ist schlicht überflüssig, weil darin nichts steht, was nicht schon anderswo stünde.

Ganz anders hingegen Jorge Arias de Greiffs Untersuchung über die Begegnung Humboldts mit lateinamerikanischen Forschern, die das Verhältnis von Peripherie und Zentrum hinterfragt und bis zu einem gewissen Grad sogar subvertiert. War bislang meist nur von der Begegnung mit dem Naturforscher Mutis die Rede, steht im Mittelpunkt von Arias' Text eine unbekannte Gestalt: Francisco José Caldas, der Höhenmessungen und Studien zur Geographie der Pflanzen betrieb. Arias zeigt in seinem kenntnisreichen Beitrag, daß unser Bild eines prämodernen Lateinamerika vor Humboldt zumindest unvollständig, wenn nicht irreführend ist. Humboldt sei in Forscherpersönlichkeiten wie Caldas auf ein Lateinamerika gestoßen, das wissenschaftlich ganz auf der Höhe der Zeit war. Ohne sich völlig aus dem Fenster lehnen zu wollen, legt sein Beitrag doch nahe, daß der Amerikaner sich urheberrechtlich vor dem europäischen Konkurrenten zu schützen suchte. Die einseitige Bereicherung Lateinamerikas durch die Forschungen Humboldts könnte sich durch weitere Korrekturen dieser Art in ein Bild wirklichen interkontinentalen Austausches verändern.

Michael Zeuskes überlanger Beitrag beschäftigt sich sehr detailreich mit der Rolle Humboldts für die Unabhängigkeitsbewegungen Lateinamerikas. Sowohl seine Analyse der Einstellungsänderungen bei Humboldt, der sich vom liberalen Reformer zu einem sehr kritischen Anhänger der erkämpften Freiheit wandelte, wie auch die Untersuchung der Position Humboldts zu Revolution und zu Sklaverei werfen im Einzelnen ein genaueres Licht auf dessen Haltungen. Zeuske spricht ob der auftauchenden Widersprüche von einer "Bewußtseinsspaltung" (sic) (S. 188). Hochinteressant sind auch die Thesen bezüglich der ideologischen Indienstnahme Humboldts durch die kreolischen Eliten, die sich eine revolutionäre Vergangenheit aus dem Geiste Humboldts >erfanden<. Das tatsächliche Verhalten der Oligarchien hingegen sei fidelistisch und antirevolutionär gewesen.

Kommunikation und
Universalisierung in der Moderne

Lionel Richards sehr lebendiger biographischer Essay zeichnet Humboldt als einen deutsch-französischen Gelehrten, der als Staatsmann und Diplomat in preußischen Diensten versuchte, die Staatengegensätze zu überwinden. Einblicke in das Leben Humboldts in Paris, seine Geselligkeit bei gleichzeitiger Bescheidenheit des Lebensstils vermitteln über Minguet hinaus ein einprägsames Bild des Pendelns zwischen zwei Kulturen. Viele zitierte Briefstellen, episodische Schilderungen und der narrative biographische Bogen tragen zu diesem farbigen Bild bei.

Den Wissenschaftsbeitrag Humboldts sieht Richard in der Modernisierung der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Auffassungen, in der Begründung von Spezialdisziplinen wie der Klimatologie, der Verfeinerung der Kartographie, der Installierung statistischer und technischer Apparatur und insbesondere in der Forschung vor Ort, in den lokalen Archiven. Die Universalität des Humboldtschen Wissens und seiner staatsmännischen Auffassungen konvergieren; beides kann unter dem Aspekt des Bemühens um Ganzheit gefasst werden.

Christian Suckows Beitrag zu Humboldts russisch-sibirischer Reise stellt diese als Pendant zur lateinamerikanischen Reise dar; ohne diese Komplementarität, so seine These, wäre der Kosmos als Synthese des Lebenswerkes wohl nicht möglich gewesen. Als Kenner der russischen Verhältnisse verweist Suckow darauf, daß Humboldts ganzheitlicher Ansatz von der um die riesigen ökologischen Probleme wissenden russischen Intelligenz stark rezipiert wird.

Die letztgenannten Beiträge konturieren Humboldt als eine Mittlerfigur, während Rupkes Thesen zum Mexiko-Werk Humboldts den Forschungskonsens zu durchbrechen suchen und – etwas pointiert gesagt – Humboldts frühen Ruhm in dessen "Rolle als kolonialer Berichterstatter" (S. 271) begründet sehen. Rupke rekurriert damit auf den zuletzt durch Pratt erneuerten Verdacht, Humboldt habe sich als Spion für die kolonialen Interessen der USA hergegeben. Gegen die vereinheitlichende Sichtweise eines >holistischen< Humboldt will Rupke den frühen Ruhm durch das Mexiko-Werk als Ergebnis strikt eurozentristischer und ökonomischer Blickrichtungen Humboldts sehen. Erst danach habe er sich in eine andere Richtung entwickelt.

Ute Hermanns, Mitorganisatorin der Ausstellung Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens 4 –, faßt die in mehreren Beiträgen bereits angeklungenen verstreuten Bemerkungen über die >Internetfähigkeit< Humboldts zusammen. Dem Netzwerk als Systematik Humboldtschen Denkens entspreche die mediale Aufbereitung kongenial. Für Interessierte werden Internetadressen von Projekten angegeben, die erste Schritte zu einer Internationalisierung der wissenschaftlichen Diskussion darstellen. Besonders reizvoll ist überdies der Ausblick, daß das bislang schwer zugängliche Werk Humboldts, insbesondere das 30bändige Reisewerk, auf CD-Rom erfaßt und damit breiter zugänglich werden könnte.

Bernd Michael Scherer beschäftigt sich in dem letzten Beitrag des Bandes mit der Frage nach der Aktualität Humboldts auf dem Hintergrund einer veränderten globalen Situation. Auch er wählt den Text Über die Steppen und Wüsten als exemplarischen aus, um daran nachzuweisen, daß es die prozesshafte Zeichen- und Weltkonstitution sei, welche eine Sinnproduktion ohne Verengung ermögliche, ohne also zugleich abgeschlossene Weltmodelle zu generieren. Mit einem nicht sonderlich einsichtigen, umwegigen Verfahren über die Zeichentheorie Peirces kehrt Scherer zur ästhetischen Behandlung naturhistorischer Gegenstände zurück. Uneinsichtig ist das Ganze schon im Vergleich mit Ette, der in seinem Beitrag sehr viel weniger abstrakt die "denkende Betrachtung" der Naturgegenstände als Schreibstrategie nachvollzogen hat. Die indexikalischen Beziehungen können überdies passgenau auch durch den Begriff der autoptischen Repräsentation erfasst werden – die Zeichentheorie liefert hier keinerlei Surplus-Erkenntnis.

Was bleibt?

Um einen bedeutenden Literaturkritiker zu zitieren: Was bleibt? Der Band hat ein ausgesprochen inhomogenes Erscheinungsbild, das Niveau der einzelnen Beiträge reicht von hervorragenden Forschungs-Essays zu Referaten, über die man gütiges Schweigen bewahren sollte. Daß die HerausgeberInnen gerade bei diesen schwachen, zum Teil jeden Forschungsstandard unterbietenden Papers nicht eingegriffen haben, ist schlicht unverständlich.

Was Ette für Humboldts Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte festgehalten hat, scheint auch auf den Band zuzutreffen: Es ist bis auf wenige Ausnahmen nicht von neuen Ansätzen für die Forschung auszugehen, sondern von Fokussierungen des gleichen Problems aus verschiedenen Richtungen. Das amerikanische Reisewerk bleibt weitgehend ausgespart, aber in der Fluchtlinie von Über die Steppen und Wüsten hin zum Alterswerk Kosmos entsteht durch die einzelnen Beiträge doch die Kontur dessen, was man den Humboldtschen >Grundtext< nennen könnte. Die weißen Flecken dieser Textur harren weiterer Erkundung – wie Humboldts Werk ein "work in progress [...] eine projektierte Totalität" (S. 35) blieb, dessen Unabgeschlossenheit zu stets neuer Annäherung auffordert.


PD Dr. Michaela Holdenried
FU Berlin

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 01.10.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Gabriele Dürbeck. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]

Anmerkungen

1 Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London, New York: Routledge 1992.    zurück

2 Susan Faye Cannon: Science in Culture: The Early Victorian Period (Dawson and Science History Publications) New York 1978.   zurück

3 Anne Macpherson: The Human Geography of Alexander von Humboldt. [Diss.] University of California, Berkeley 1971.    zurück

4 Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens. Ausstellungskatalog. Haus der Kulturen der Welt, 6. Juni – 15. August 1999; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 15. September – 9. Januar 2000. Bonn 1999.    zurück