- Ottmar Ette / Ute Hermanns / Bernd M. Scherer / Christian
Suckow (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne.
(Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 21) Berlin:
Akademie Verlag 2001.
299 S. Geb. € 74,80.
ISBN 3-05-003602-8.
Mit einer Instrumentensammlung sondergleichen brach Humboldt
1799 zu seiner Reise in die Aequinoktialgegenden des Neuen Kontinents auf,
darunter auch ein künstlicher Horizont, der wie kein anderes Instrument
geeignet scheint, metaphorisch die Gestalt des Entdeckers zu beleuchten. Wo
der natürliche Horizont fehlt, wird ein künstlicher gesetzt,
Mitgebrachtes und die Erfahrung des Fremden begegnen sich –
>Horizontverschmelzung< im besten Sinne.
Der vorliegende Sammelband geht auf Beiträge des
Symposions von 1999 zurück, das in Berlin im "Haus der Kulturen der
Welt" stattfand. Er steht deutlich im Kontext von Bemühungen, den
großen Forschungsreisenden und letzten Vertreter eines
synthetisierenden Wissenschaftsverständnisses im 19. Jahrhundert
stärker in den Blickpunkt einer modernen Wissenschaftsgeschichte zu
rücken, die – selbst im Umbruch befindlich – auf der Suche nach
Vorläufern eines sich transformierenden, grenzüberschreitenden
Wissens Revisionen vorzunehmen bemüht ist. Humboldts scheinbarer
Anachronismus wird als Gegenkraft zu einer immer mehr in Spezialdisziplinen
aufgespaltenen Wissenschaftslandschaft berufen, in der die Stimmen für
eine Vernetzung aber schon seit langem unüberhörbar geworden sind.
Mit Verweisen auf die rekurrenten Formeln aktueller
Wissenschaftsdebatten wird die Modernität Humboldts herausgestellt:
Verknüpfungen seines wissenschaftlichen Ansatzes mit einem
kulturtheoretischen Wissenschaftsbegriff werden vorgenommen, der frühe
interkulturelle Dialog mit den nichteuropäischen >Modernen<
nachgezeichnet, Humboldts Wirken in einem globalen Netzwerk von Spezialisten
recherchiert und die Chance nichtkolonialistischen Wissenserwerbs
dokumentiert. Die Aktualität Alexander von Humboldts betont Wolf
Lepenies im Vergleich von dessen Horizontüberschreitungen mit dem
Eurozentrismus des Bruders Wilhelm.
Dennoch – und dies ist ein Verdienst der heutigen Forschung
gegenüber früheren hagiographischen Annäherungen – wird
Humboldt nicht als hehre Lichtgestalt gemalt, sondern als ein in seinem
Wirken selbst widersprüchliches Symptom der Moderne verstanden, so
Hartmut Böhme in seinem Beitrag (S. 21). Als
"Übergangsgestalt" (Vorwort, XII), "eine Figur des
Aufbruchs [...], selbst unvollendet, exemplarisch aber wie kaum ein anderer
Repräsentant des Zeitalters" (ebd.) steht Humboldt für die
Spannungen zwischen instrumenteller Vernunft und der Affinität zur
spekulativen romantischen Naturphilosophie, zwischen der Forcierung
kapitalistischer Modernisierung und holistisch-sozialer Gegenbewegungen,
zwischen intellektuellen Prägungen durch das 18. Jahrhundert und dem
Ansatz zur modernistischen >Temporalisierung< der
(Natur-)Wissenschaften.
Dies alles sind keine wesentlich neuen Gesichtspunkte der
Humboldt-Forschung, doch wird in den Beiträgen des Bandes versucht, mit
spezifischen Annäherungen den Begriff der >Humboldtian Science<
(Susan Cannon) erstmals im deutschsprachigen Raum mit Leben zu erfüllen.
In der ersten Abteilung des Sammelbandes – deren
Überschriften ich im Folgenden als Gliederungselemente nutze – steht die
Interdependenz dieser Wissenschaftsauffassung und des >Humboldtian
Writing< im Mittelpunkt.
Ästhetische Repräsentationen in der Moderne
Die Beiträge von Hartmut Böhme und Ottmar Ette
beleuchten die Verbindung von >Humboldtian Science< und >Humboldtian
Writing< in detailreicher, textanalytisch und wissenschaftstheoretisch
spannender Form neu. Als ein grundlegender Bezugstext des ganzen Bandes
kristallisiert sich in beiden Beiträgen Über die Steppen und
Wüsten heraus, der 1808 in den Ansichten der Natur erschien.
Böhme macht die Bedingungen einer "ästhetischen
Wissenschaft", wie sie Humboldt vorschwebte, also die "
Inkorporierung eines ästhetischen Programms in ein
wissenschaftliches Unternehmen" (S. 28), in einer Art panoramatischer
Erhabenheitsästhetik wie in der dazu komplementären
>Temporalisierung< der Text- / Wissensbewegung aus und spürt in
wissenschaftsgeschichtlicher Verästelung deren Verzahnung nach. Die
Besonderheit der Textgestalt, deren unausgewogenes Verhältnis von
Haupttext und Anmerkungsapparat Böhme als einen "textliche[n]
Unfall" (S. 25) beschreibt, wird unter anderem in der
Gleichzeitigkeit klassischer Erhabenheitsästhetik und hybrider Textur
gesehen. Wie andere Beiträger auch sieht er darin erstaunliche
Vorwegnahmen modernster Hypertext-Strukturen.
Ette arbeitet ebenfalls die "rhizomatische
Schreibweise" (S. 49, Anm. 45) heraus, geht aber textanalytisch
detaillierter auf den komplex verfugten, eben nicht monolithischen Block aus
Wissenschaft, Ethik und Ästhetik ein. Die Humboldt eigentümlichen
Schreibstrategien sieht Ette trotz aller neueren Ansätze keineswegs
erschöpfend untersucht. Sein Beitrag besteht in der Aufmerksamkeit auf
"reiseliterarische Orte höchster Signifikanz" (S. 40), dem
Aufweis "philosophischer Rahmungen" (S. 42) und der
Herauslösung von "Erzählkernen" (S. 49). Die
>Humboldtian Science< sieht er genau in jenen textuellen
Verfertigungsstrategien begründet, mit denen eine "Narrativierung
des Diskurses" und eine "diskursive Aufladung des Narrativen"
(S. 49) gelingt.
Den seit der zeitgenössischen Rezeption anhaltenden
Streit um die tatsächliche Innovationskraft der Humboldtschen
Wissenschaftskonzeption sucht Ette aufzulösen, indem er die >ars
combinatoria< – oder moderner: die Vernetzung und Kombinatorik – als
Humboldts spezifischen Beitrag hervorhebt und nicht das Innovatorische der
Episteme. Allerdings wird von verschiedenen anderen Beiträgern nicht
verabsäumt, die Begründung verschiedener Wissenschaftsdiziplinen
durch Humboldt besonders zu betonen.
Friedrich Wolfzettels Beitrag, der letzte in dieser Sektion,
eröffnet eine Reihe von Beiträgen, deren Zusammenhang mit Humboldt
mehr bemüht als wirklich nachvollziehbar ist. In einem Aufsatz über
den "erfüllten Augenblick im französischen Reisebericht"
nach Humboldt hätte man sich – vielleicht auch anknüpfend an Ettes
Hinweis auf den "Effekt der Unmmittelbarkeit" (S. 52) – den
wenigstens leitmotivischen Zusammenhang gewünscht, den Aufweis von
Querverbindungen, und nicht nur die formale Zäsur, die Wolfzettel mit
Humboldt setzt, um sie dann auf sich beruhen zu lassen.
Spuren in der Moderne
In dieser Sektion kamen ausschließlich die
lateinamerikanischen Forscher zu Wort und es ist ausgesprochen lamentabel,
daß das Gros dieser Beiträge nicht über den Status des Statements
hinausreicht. Hochkarätige Namen von Leopoldo Zea bis Beatriz Sarlo
erscheinen ehrfurchtsheischend, doch nicht nur die älteren Herren bieten
nichts wirklich Frisches an; auch die jüngeren ForscherInnen (wie Sarlo)
haben nur magere Kost anzubieten. Das ist das eigentlich Enttäuschende
dieses Bandes, denn gerade von der Zweiseitigkeit des Austausches wäre
Ergiebigeres zu erwarten gewesen.
Jesús Diaz, der die Eröffnungsrede
hielt, würdigt in seinem Präludium Humboldt als vorurteilsfreien,
nicht-eurozentristischen und egalitär eingestellten ersten
Enzyklopädisten Lateinamerikas – und gibt damit nur die von jeder
kritischeren Volte der neueren Humboldt-Forschung (für die Mary Louise
Pratt 1 nur als ein Name steht)
unangefochtenen Gemeinplätze der lateinamerikanischen
>Humboldtianer< wieder. Peinlich ist, daß Diaz in seinen
exemplarischen Ausführungen zu Humboldts Vorurteilslosigkeit dann genau
jene Einstellungen berührt, die in den vergangenen Jahren zu einer
Korrektur des Humboldt-Bildes, jedenfalls aber zu stärkerer
Differenzierung führen mussten. Daß der Baron fasziniert war von
den "körperlichen Kräften der Indios" (S. 75), von
Stärke, Geschicklichkeit, Mut und Robustheit, kann zu jenen in Ettes
Beitrag erwähnten (S. 45, Anm. 34) hochproblematischen
Argumentationsfiguren zählen, deren rassistischer Hautgoût heutzutage
einfach nicht mehr übersehen werden sollte. Ette spricht dies
ausdrücklich an, wenn er von der misslichen Integration der indianischen
Völker in die am Rande zum Tier befindlichen Zivilisationsstufen bei
Humboldt spricht.
Auch wenn ein Dichter der brasilianischen Romantik wie
Sousândrade hierzulande noch weniger wahrgenommen worden sein dürfte als
in Brasilien, so hätte doch der Versuch Haroldo de Campos, mit dem
Aufweis von Nähe und Gleichklang zu Humboldts Schreiben zugleich eine
Rehabilitierung dieses >minderen Dichters< zu betreiben, spannend sein
können. Über sehr punktuelle Berührungen, gelegentliche
Infiltrationen des Sousândradeschen Werkes durch Reflexionen auf Humboldt,
der als Weiser oder Ratgeber stilisiert wird, sowie einen nicht sehr
vielsagenden Vergleich von beider Reiserouten dient der Beitrag
offensichtlich nur dazu, eine Plattform für einen begeisterten
Sousândrade-Forscher bereitzustellen. Über Humboldt erfahren wir darin
außer den schon monierten Gemeinplätzen nichts Neues – die
Quintessenz des >Vergleichs< spricht für sich: "Wenn Humboldt
mit seiner holistischen Auffassung vom Kosmos Sousândrade nicht direkt
beeinflußt (sic) haben muß (sic), so ist es doch offensichtlich,
daß (sic) beide in ähnlicher Weise empfunden, gefühlt und die
Welt verstanden haben."(S. 95)
Auch Sarlo, eine von lediglich zwei weiblichen
Beiträgern im gesamten Band, hat – ihrer beeindruckenden
Forschungsbiographie im Anhang zum Trotz – leider nur das Dokument einer
Befangenheit in postmoderner Beliebigkeit abgeliefert. Was hier zu
"pluralen Literaturen" geäußert wird, diskreditiert
jeden Versuch, globale Vielfalt und deren Überkreuzungen,
Beeinflussungen, Berührungen zu erfassen. Keine theoretische Floskel
wird ausgelassen, wenn in der Stadtkarte Buenos Aires' ein "moderner
Text" erkannt wird (S. 103), die "Ränder [als der] unbestimmte
Ort" (ebd.) dechiffriert werden, die Übersetzung als
Autonomisierung deklariert wird etc. pp. Borges, Buenos Aires, Cortázar,
Neruda – ein Eintopf, mit ein bißchen Humboldt gewürzt, der als
ausgesprochen blasses Gespenst durch die Strassen der Stadt am Río de la
Plata irrt.
Wissenschaft in der Moderne
An keiner Stelle der Beiträge aus der vorangegangenen
Sektion, so muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, sind Vertiefungen oder
auch nur Anregungen zur Weiterführung der rekurrenten theoretischen
Debatten um Humboldt zu erkennen. Den Gipfelpunkt aber bildet der Beitrag
Johann Götschls aus der anschließenden Sektion, der an
Pseudowissenschaftlichkeit nicht zu überbieten ist. Der Kaiser ist
nackt, muß hier laut gerufen werden, auch um Humboldt davor zu
schützen, als Appendix eines Spezialistentums benutzt zu werden, von dem
gerade er sich mit Grausen abgewendet hätte.
Götschl legt seinen eigenen "evolutiven dynamischen
Wissenschaftsbegriff" zugrunde, als dessen Vorläufer er Humboldt
reklamiert. In einer Abgehobenheit sondergleichen entwickelt er sein
evolutiv-dynamisches Kartenhaus, das vielleicht für einen kleinen, sich
aus sich selbst generierenden Kreis von sogenannten Wissenschaftsforschern
interessant sein mag, nicht jedoch für ein breiteres
Wissenschaftspublikum. Auf einer knappen Seite wird zuletzt der dürftige
Versuch unternommen, Humboldt als Vorläufergestalt eines solchen
Wissenschaftsverständnisses auszuweisen, doch bleibt es bei der puren
Verlautbarung. Einen extrem unangenehmen Beigeschmack hinterlässt der
Beitrag nicht zuletzt auch wegen des unglaublichen Narzissmus des Verfassers:
Götschl zitiert fast ausschließlich sich selbst und – mit Abstand
– einige wenige >fellows<. Dies ist nicht die Art von >networking<,
wie es Humboldt heute vorschweben würde.
Wohltuend erscheint nach dieser Selbstfeier der Versuch einer
wirklichen Vermittlung zwischen gegensätzlichen Forschungspositionen
durch Michael Dettelbach. Den forschungstraditionell festgeschriebenen
Zuordnungs-Spagat Humboldts zwischen dem Empirismus der Aufklärung und
dem romantischen Idealismus sieht Dettelbach durch die von Humboldt
entwickelte "Hermeneutik des Experiments" (S. 140)
überbrückbar. Interessante Einordnungen in die sich formierenden
Humanwissenschaften, Ausführungen zur Pasigraphie — der von
Humboldt entwickelten universalen Schrift für Experimente — und
die wissenschaftliche Nähe-Ferne-Relation zu bestimmten
zeitgenössischen Wissenschaftlern werfen ein differenziertes Licht auf
Humboldts Position im Horizont einer sich im Umbruch befindenden
Wissenschaftslandschaft. Obgleich Humboldt als Erbe des
humanwissenschaftlichen Projekts der Aufklärung angesehen werden muss,
sei seine Nähe zu den romantischen Naturphilosophen kein absoluter
Widerspruch gewesen. Philosophische Naturanschauung und Beobachtung sowie ein
nicht vorschnell durch Theoretisierung kanalisiertes Experimentieren bildeten
Berührungspunkte mit romantischer Wissenschaftlichkeit.
Offen bleibt lediglich, warum sich Humboldts Verhältnis
zur Naturphilosophie (Schellings) bis 1827 so grundlegend in Feindschaft
verkehrte. Darüber hätte man gerne noch mehr erfahren. Positiv hervorzuheben ist noch, daß
Dettelbach einer der wenigen Beiträger ist, der auf die
hintergrundbildenden Forschungsergebnisse zweier Frauen in der männlich
dominierten Forschung aufmerksam macht: auf Cannons Ansatz, 2 die den Begriff der >Humboldtian Science< prägte
und Anne Macphersons 3 vielgelesene
Dissertation.
Europa und Lateinamerika
Leopoldo Zeas und Jaime Labastida Ochoas Beiträge
können hier übergangen werden, weil sie über Altbekanntes
nicht hinausgehen. Der große alte Herr der lateinamerikanischen
Philosophie, Zea, zeigt Humboldt als einen gelangweilten Europäer, der
in Lateinamerika das Neue, Unberührte sucht, wobei er im Gegensatz zu
anderen aber nicht die These von der Unreife Amerikas wiederholt, sondern das
Andersartige betont. Ochoas Beitrag zur wissenschaftlichen Methode ist
schlicht überflüssig, weil darin nichts steht, was nicht schon
anderswo stünde.
Ganz anders hingegen Jorge Arias de Greiffs Untersuchung
über die Begegnung Humboldts mit lateinamerikanischen Forschern, die das
Verhältnis von Peripherie und Zentrum hinterfragt und bis zu einem
gewissen Grad sogar subvertiert. War bislang meist nur von der Begegnung mit
dem Naturforscher Mutis die Rede, steht im Mittelpunkt von Arias' Text
eine unbekannte Gestalt: Francisco José Caldas, der Höhenmessungen und
Studien zur Geographie der Pflanzen betrieb. Arias zeigt in seinem
kenntnisreichen Beitrag, daß unser Bild eines prämodernen Lateinamerika
vor Humboldt zumindest unvollständig, wenn nicht irreführend ist.
Humboldt sei in Forscherpersönlichkeiten wie Caldas auf ein
Lateinamerika gestoßen, das wissenschaftlich ganz auf der Höhe der
Zeit war. Ohne sich völlig aus dem Fenster lehnen zu wollen, legt sein
Beitrag doch nahe, daß der Amerikaner sich urheberrechtlich vor dem
europäischen Konkurrenten zu schützen suchte. Die einseitige
Bereicherung Lateinamerikas durch die Forschungen Humboldts könnte sich
durch weitere Korrekturen dieser Art in ein Bild wirklichen
interkontinentalen Austausches verändern.
Michael Zeuskes überlanger Beitrag beschäftigt sich
sehr detailreich mit der Rolle Humboldts für die
Unabhängigkeitsbewegungen Lateinamerikas. Sowohl seine Analyse der
Einstellungsänderungen bei Humboldt, der sich vom liberalen Reformer zu
einem sehr kritischen Anhänger der erkämpften Freiheit wandelte,
wie auch die Untersuchung der Position Humboldts zu Revolution und zu
Sklaverei werfen im Einzelnen ein genaueres Licht auf dessen Haltungen.
Zeuske spricht ob der auftauchenden Widersprüche von einer
"Bewußtseinsspaltung" (sic) (S. 188). Hochinteressant sind
auch die Thesen bezüglich der ideologischen Indienstnahme Humboldts
durch die kreolischen Eliten, die sich eine revolutionäre Vergangenheit
aus dem Geiste Humboldts >erfanden<. Das tatsächliche Verhalten der
Oligarchien hingegen sei fidelistisch und antirevolutionär gewesen.
Kommunikation und Universalisierung in der Moderne
Lionel Richards sehr lebendiger biographischer Essay zeichnet
Humboldt als einen deutsch-französischen Gelehrten, der als Staatsmann
und Diplomat in preußischen Diensten versuchte, die
Staatengegensätze zu überwinden. Einblicke in das Leben Humboldts
in Paris, seine Geselligkeit bei gleichzeitiger Bescheidenheit des
Lebensstils vermitteln über Minguet hinaus ein einprägsames Bild
des Pendelns zwischen zwei Kulturen. Viele zitierte Briefstellen, episodische
Schilderungen und der narrative biographische Bogen tragen zu diesem farbigen
Bild bei.
Den Wissenschaftsbeitrag Humboldts sieht Richard in der
Modernisierung der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Auffassungen, in
der Begründung von Spezialdisziplinen wie der Klimatologie, der
Verfeinerung der Kartographie, der Installierung statistischer und
technischer Apparatur und insbesondere in der Forschung vor Ort, in den
lokalen Archiven. Die Universalität des Humboldtschen Wissens und seiner
staatsmännischen Auffassungen konvergieren; beides kann unter dem Aspekt
des Bemühens um Ganzheit gefasst werden.
Christian Suckows Beitrag zu Humboldts russisch-sibirischer
Reise stellt diese als Pendant zur lateinamerikanischen Reise dar; ohne diese
Komplementarität, so seine These, wäre der Kosmos als
Synthese des Lebenswerkes wohl nicht möglich gewesen. Als Kenner der
russischen Verhältnisse verweist Suckow darauf, daß Humboldts
ganzheitlicher Ansatz von der um die riesigen ökologischen Probleme
wissenden russischen Intelligenz stark rezipiert wird.
Die letztgenannten Beiträge konturieren Humboldt als
eine Mittlerfigur, während Rupkes Thesen zum Mexiko-Werk Humboldts den
Forschungskonsens zu durchbrechen suchen und – etwas pointiert gesagt –
Humboldts frühen Ruhm in dessen "Rolle als kolonialer
Berichterstatter" (S. 271) begründet sehen. Rupke rekurriert damit
auf den zuletzt durch Pratt erneuerten Verdacht, Humboldt habe sich als Spion
für die kolonialen Interessen der USA hergegeben. Gegen die
vereinheitlichende Sichtweise eines >holistischen< Humboldt will Rupke
den frühen Ruhm durch das Mexiko-Werk als Ergebnis strikt
eurozentristischer und ökonomischer Blickrichtungen Humboldts sehen.
Erst danach habe er sich in eine andere Richtung entwickelt.
Ute Hermanns, Mitorganisatorin der
Ausstellung Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens 4 –, faßt die in mehreren Beiträgen
bereits angeklungenen verstreuten Bemerkungen über die
>Internetfähigkeit< Humboldts zusammen. Dem Netzwerk als
Systematik Humboldtschen Denkens entspreche die mediale Aufbereitung
kongenial. Für Interessierte werden Internetadressen von Projekten
angegeben, die erste Schritte zu einer Internationalisierung der
wissenschaftlichen Diskussion darstellen. Besonders reizvoll ist
überdies der Ausblick, daß das bislang schwer zugängliche
Werk Humboldts, insbesondere das 30bändige Reisewerk, auf CD-Rom
erfaßt und damit breiter zugänglich werden könnte.
Bernd Michael Scherer beschäftigt sich in dem letzten
Beitrag des Bandes mit der Frage nach der Aktualität Humboldts auf dem
Hintergrund einer veränderten globalen Situation. Auch er wählt den
Text Über die Steppen und Wüsten als exemplarischen aus, um
daran nachzuweisen, daß es die prozesshafte Zeichen- und Weltkonstitution
sei, welche eine Sinnproduktion ohne Verengung ermögliche, ohne also
zugleich abgeschlossene Weltmodelle zu generieren. Mit einem nicht sonderlich
einsichtigen, umwegigen Verfahren über die Zeichentheorie Peirces kehrt
Scherer zur ästhetischen Behandlung naturhistorischer Gegenstände
zurück. Uneinsichtig ist das Ganze schon im Vergleich mit Ette, der in
seinem Beitrag sehr viel weniger abstrakt die "denkende
Betrachtung" der Naturgegenstände als Schreibstrategie
nachvollzogen hat. Die indexikalischen Beziehungen können überdies
passgenau auch durch den Begriff der autoptischen Repräsentation erfasst
werden – die Zeichentheorie liefert hier keinerlei Surplus-Erkenntnis.
Was bleibt?
Um einen bedeutenden Literaturkritiker zu zitieren: Was
bleibt? Der Band hat ein ausgesprochen inhomogenes Erscheinungsbild, das
Niveau der einzelnen Beiträge reicht von hervorragenden
Forschungs-Essays zu Referaten, über die man gütiges Schweigen
bewahren sollte. Daß die HerausgeberInnen gerade bei diesen schwachen,
zum Teil jeden Forschungsstandard unterbietenden Papers nicht eingegriffen
haben, ist schlicht unverständlich.
Was Ette für Humboldts Beitrag zur
Wissenschaftsgeschichte festgehalten hat, scheint auch auf den Band
zuzutreffen: Es ist bis auf wenige Ausnahmen nicht von neuen Ansätzen
für die Forschung auszugehen, sondern von Fokussierungen des gleichen
Problems aus verschiedenen Richtungen. Das amerikanische Reisewerk bleibt
weitgehend ausgespart, aber in der Fluchtlinie von Über die Steppen
und Wüsten hin zum Alterswerk Kosmos entsteht durch die
einzelnen Beiträge doch die Kontur dessen, was man den Humboldtschen
>Grundtext< nennen könnte. Die weißen Flecken dieser Textur
harren weiterer Erkundung – wie Humboldts Werk ein "work in progress
[...] eine projektierte Totalität" (S. 35) blieb, dessen
Unabgeschlossenheit zu stets neuer Annäherung auffordert.
PD Dr. Michaela Holdenried
FU Berlin
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Ins Netz gestellt am 01.10.2002
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Anmerkungen
1 Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel
Writing and Transculturation. London, New York: Routledge 1992.
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2 Susan Faye Cannon: Science in Culture: The
Early Victorian Period (Dawson and Science History Publications) New York
1978. zurück
3 Anne Macpherson: The Human Geography of
Alexander von Humboldt. [Diss.] University of California, Berkeley 1971.
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4 Alexander von Humboldt – Netzwerke des
Wissens. Ausstellungskatalog. Haus der Kulturen der Welt, 6. Juni – 15.
August 1999; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn, 15. September – 9. Januar 2000. Bonn 1999. zurück
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