Honold über Lindemann: Die Wüste in der Literaturgeschichte

Alexander Honold

Vom Naturraum zum Zeichenspiel.
Die Wüste im Blick der Literaturgeschichte

  • Uwe Lindemann / Monika Schmitz-Emans (Hg.): Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 186 S. Kart. 48,- DM
    ISBN: 3-8260-1792-7

  • Uwe Lindemann: Die Wüste. Terra incognita - Erlebnis - Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2000 (zugl. Diss. Bochum 1998). 450 S. Kart. 98,- DM
    ISBN: 3-8253-006-X



Es gibt Fragen, die werden erst dann zum Problem, wenn man sie stellt. Was eine Wüste ist, darüber herrschte sowohl in der geographischen Literatur wie im landläufigen kulturellen Wissen eine hinreichend präzise Vorstellung. Sie ist in erster Linie geprägt vom eher begrifflichen Verständnis eines menschenleeren, unwirtlichen Ödlands, in zweiter Linie von einem Set phänotypischer Komponenten: Hitze, Regenarmut und Wassermangel, Sandverwehungen, Kamele und Beduinen etc.

Auch die Wörterbücher und lexikalischen Definitionen geben diesem landläufigen Wissen Recht. Als Wüste (vom ahd. wuosti, >öd<, >einsam<) sind jene vegetationslosen oder vegetationsarmen Gebiete zu bezeichnen, bei welchen der Grad der Bodenbedeckung geringer als 50% ist. Diese Definition impliziert zweierlei:

  • Erstens, daß der Begriff der Wüste sowohl die kälte- als auch die hitzebedingte Vegetationslosigkeit umfaßt und somit die beiden entgegengesetzten Grenzwerte der irdischen und menschlichen Ökumene markiert, die Polkappen und die äquatorialen Trockengebiete.

  • Zweitens aber verrät diese Definition, daß die Bedeckung des Bodens mit den vielfältigen Formen pflanzlichen Lebens, mithin die Wüstenlosigkeit, ein spezifisches Konstituens des Planeten Erde und seiner lebensermöglichenden Klimazonen darstellt. Der Mond, der Mars und andere uns bekannte Himmelskörper haben keine Wüsten, sie sind nichts als Wüsten – und zwar sosehr, daß der Begriff dort keine Unterscheidungsfunktionen und also auch keinen Sinn hat.

Die Tradition der Wüste

Wüsten gibt es nur da, wo ihnen eine Vorstellung des sprießenden Lebens und der bewohnbaren Erde entgegenstehen. Diesen "Gegenbildcharakter" (S.9) betonen auch die Herausgeber des Sammelbandes, der dem vielgestaltigen Komplex von Wüstenbildern und -Begriffen von den alttestamentlichen Quellen bis zum Science fiction in (zum überwiegenden Teil) gründlich recherchierten Einzelstudien nachgeht.

Die gemeinsame Frage nach der Wüste zielt nicht auf definitorische Konsensbildung, sie dient vielmehr dazu, die kulturgeschichtliche Disparität und ästhetische Bandbreite von religiösen, philosophischen und literarischen Wüstendarstellungen abzurufen.

Der Band ist in einer eher lockeren Zweiteilung von Beiträgen zum Orient und zum Okzident gegliedert, wodurch sich ein sowohl dialogischer als auch chronologischer Effekt ergibt. Die Wüstenvorstellungen wandern kulturgeschichtlich und auch innerhalb des Bandes vom alten Ägypten und den Sandwüsten beidseits des Niltals über die biblischen Wüsten des Alten und Neuen Testaments und die Zeugnisse der klassischen Kultur des Islam gleichsam europawärts ins lateinisch-mittelalterliche Abendland hinein.

Ist die Wüste als lebensfeindlicher Raum (Walt Disneys Living Desert zum Trotze) per definitionem das Andere der Kultur, so kann sie als Thema doch ein anregender Begleiter der Kulturwissenschaft sein. Denn das Phänomen Wüste ist so elementar wie omnipräsent und läßt sich weder systematisch noch historisch auf die Zuständigkeit einer Einzeldisziplin begrenzen.

Unbeschriebener Raum, der sie ist, nährt die Wüste mit bemerkenswerter Verläßlichkeit sowohl alltägliche, künstlerische wie auch wissenschaftliche Diskurse. Ein lohnendes Unterfangen also, die Wüste "als Landschaft, Sinnbild, Metapher oder Motiv" (S.9) zum Gegenstand transdisziplinärer Forschungsanstrengungen und historisch übergreifender Untersuchungen zu machen, wie es der von Lindemann und Schmitz-Emans edierte Sammelband und auch die Dissertation Uwe Lindemanns zum selben Themenkomplex sich vorgenommen haben.

Daß derartige Arbeiten bislang kaum vorliegen, führen die Herausgeber darauf zurück, "daß der Wüstenbegriff selbst ausgesprochen polyvalent" (S.10) sei und sich weder zeitlich noch räumlich eingrenzen lasse. Genau diese Umstände lassen die Möglichkeiten des disziplinär vielstimmigen, perspektivisch variablen Herangehens, wie sie ein Gemeinschaftsunternehmen bietet, als für den Gegenstand besonders geeignet erscheinen – sofern dabei die Konturen des einen Gegenstandes sich nicht selbst ins "Polyvalente" auflösen.

Territoriale Distinktionen im Okzident

Das ist bei den in der historischen Frühzeit ansetzenden Studien des Bandes durchaus nicht der Fall. Am Beginn, in Beate Hofmanns Aufsatz über Sprache und Kultur des pharaonischen Ägypten, werden territoriale Distinktionen vorgestellt, die den elementaren Kulturtechniken der Landwirtschaft und Siedlungsgeschichte Rechnung tragen: "schwarzes Land" ist das fruchtbare Niltal, als "rotes Land", fremd und lebensfeindlich, werden dagegen die lybische und die arabische Wüste bezeichnet.

Die Wege durch die Wüste gilt es zu halten und zu schützen; die Durchdringung der Wüste zu Handelszwecken mit Karawanenstraßen (S.23) und die territoriale Sicherung des eigenen Herrschaftsbereiches (S.28) bestimmen die Wahrnehmung der Wüste als Raum, der zu vielerlei Formen der Abgrenzung, Markierung und Domestizierung zwingt.

Konzepte der Wüste im altisraelitischen und altarabischen Kulturraum

Ein vergleichbares Bild entwirft Philipp Enger für den biblisch-altisraelischen Kulturraum, in den die Wüsten Juda und Negev als besonders regenarme Gebiete hineinragen. Durch diese Regionen führten wichtige Reisewege; für legendäre Propheten- und Heldengestalten (Elia, David) sind die nahen Wüsten ein Fluchtort, dem Volk Israel ist die Wanderung durch die Wüste auferlegt als eine Prüfung Gottes.

An diesen auf durchaus bekannte Sachverhalte zurückgreifenden Skizzen wird deutlich, daß innerhalb der orientalischen Kulturen die Wüste nur in sehr begrenztem Maße als metaphorischer Topos funktionalisiert werden konnte. Zu präzise waren die Erfahrungen, zu existentiell die Gefahren, um den Wüstenregionen subtile Ausdeutungen oder poetische Überbietungen angedeihen zu lassen.

Stabil und kohärent war in den alten Kulturen die geographische Referenz, wortreich und variantenreich hingegen waren die konzeptuellen Schattierungen, die an der Wüste beobachtet und sprachlich artikuliert werden konnten.

Das alttestamentliche Hebräisch kennt, entsprechend den klimatischen Gegebenheiten Palästinas, ein eigenes Wort für >Salzwüste<. Daß für >Trümmerstätte<, >verwüsteter Landstrich< ebenfalls ein spezifischer Terminus bereitstand, dürfte wiederum eher historische Ursachen haben.

Im Altarabischen, so Marco Schöller, differenzierte man begrifflich zwischen der absoluten Wüste (die als völlig lebensfeindlich galt), der begehbaren, aber unzuträglichen Wüste und schließlich der wüstenähnlichen Steppe, die eine karge Daseinsgrundlage bot.

Überhaupt ist die "altarabische Dichtersprache […] reich an Ausdrücken, um die geologischen Formationen der Wüste genau zu bezeichnen, oft genauer, als es in unserer Sprache möglich ist: so bezeichnet etwa al-burqa >einen von dunklen Steinen und hellem Sand gesprenkelten Boden<." (S.72) Wer nur Wüste vor Augen hat, kann offenbar gleichwohl über einen immensen sensorischen Reichtum verfügen.

Metaphorische Entgrenzung des Begriffs im Okzident

Das signifikative Repertoire an Begriffs- und Bedeutungsnuancen – so fällt an den orientalischen Wüstenkonzepten insgesamt auf – ist empirisch gesättigt und von pragmatischer Nützlichkeit diktiert. Tatsächlich drohen die Tugenden der Genauigkeit und Anschaulichkeit aus dem Blick zu geraten, sobald von Wüste nur noch im übertragenen Sinne gehandelt wird.

Die semantische Vielfältigkeit scheint sich, wenn man die hier versammelten Studien als halbwegs repräsentativen Längsschnitt zugrundelegt, im abendländischen Raum (und folglich mit wachsender Entfernung von der Wüsten-Empirie) von der denotativen auf die konnotative Ebene verlagert zu haben. Statt der vielerlei Erscheinungsformen des Sandes und der Gesteine, die alle beim eigenen Namen gekannt und genannt werden wollen, ist die Wüste nur noch eines, nämlich Ausgangs- und Abstoßungspunkt kultureller Deutungsmuster und Sinnkonstruktionen.

Lateinische Konzepte der Wüste

An den wohl entscheidenden Umschlagspunkt in der Begriffsgeschichte, der die okzidentale Privilegierung metaphorischer Wüstenbilder einleitet, rührt Uwe Lindemann mit seinem Aufsatz über die lateinischen Konzepte der Wüste.

Auch im Lateinischen steht, wie Lindemann zeigt, ein lexikalischer Fächer von semantisch abgestuften Begriffen zur Verfügung, die jedoch nicht so sehr zur Kennzeichnung differenter Phänomene dienen, sondern zur Unterscheidung je spezifischer Thematisierungsformen. "Die Frage Was ist eine Wüste? ist untrennbar verbunden mit der Frage, wer über sie spricht." (S.98) Und auf welche Kontexte, Traditionslinien und Assoziationsmuster dabei zurückgegriffen werden kann oder soll. Besonders deutlich sind im lateinischen Traditionsraum jene etymologischen Linien ausgeprägt, die dem Wüstenbegriff soziale oder gar psychische Befindlichkeiten einschreiben.

Die solitudines etwa betonen den, von Mystikern und Philosophen, aber auch von Juristen thematisierten Begriff des Außergesellschaftlichen, der Einsamkeit. Die für den anglo-romanischen Sprachraum dann prägenden deserta deuten die Wüste als >Verlassenheiten<; beide Konzepte werden, "wenn sie Wüste heißen sollen, stets plural gebraucht" (S.89). Sie sind relationale Beschreibungen des Terrains in bezug auf den Menschen, der im Falle der deserta die Wüsteneien als Inbegriff des Menschenleeren anspricht, mit dem Begriff der solitudines aber "die Wüste […] am eigenen Leib" erfährt und den Erscheinungsformen der conditio humana zurechnet.

Diesen subjektiven Kennzeichnungen kontrastieren als sachliche Beschreibungskategorien die Begriffe arena sterilis (ungefähr als >unfruchtbares Trockensein< zu übersetzen) und vastitas, womit die unermeßliche Weite der wüsten Landstriche angesprochen wird.

Christliche Konzepte der Wüste

Aufschlußreich für die folgende Entwicklung ist, wie sich im Spätlatein das aus dem Griechischen übertragene Adjektiv eremus in das Spiel der Begriffe einfügt. Seine Karriere verdankt sich sowohl der Septuaginta als auch den zahlreichen neutestamentlichen Wüsten->Stellen<, die meist nicht auf topographische, sondern auf dramatisch-ethische Aspekte abzielen.

Während alttestamentlich der Sonderstatus der Propheten mit dem Begriff der Wüste verbunden wird, ist sie im Neuen Testament ein Schauplatz der Versuchung und Bewährung. Die Wüste wird, so Lindemann, aus dem deskriptiven zu einem "evokativen" Konzept, in dem sich "eine dem antiken Denken völlig fremde, positive Konnotierung" (S.91) bemerkbar macht.

Schon die Biographie des koptischen Eremiten Antonius, die Mitte des 4. Jh.s durch Athanasius von Alexandrien in Legendenform gebracht wurde (dazu der Aufsatz von Maria-Elisabeth Brunert), ist eine nachhaltig wirksame Manifestation dieser Umkehrung.

Daß dieses positive Wüstenbild in der Figur des Eremiten nicht nur etymologisch, sondern auch philosophisch im Mittelalter durchaus traditionsbildend werden konnte, zeigt Christoph Asmuths Beitrag zu Meister Eckhart. In Eckharts theoretischen Reflexionen und mystischen Konfessionen tritt die Wüste als vielgestaltiges Motiv auf, dessen Negationspotential sogar zum Inbegriff religiös-denkerischer Freiheit avanciert.

In Eckharts "Wüstenmetapher" stecke "der Aufruf zu selbstbewußtem, ethisch reflektiertem Handeln im Bewußtsein der eigenen Vernünftigkeit." (S. 126) Das wäre eine philosophische Position von verblüffender Modernität, doch ist dieses von Asmuth vermittelte Bild erkauft durch den eklatanten Mangel historischer Tiefenschärfe.

Ablösung von stoff- und motivgeschichtlichen Referenzen in der Moderne

In den Beiträgen ist, je näher sie der Gegenwart rücken, ein gewisses Ausfransen des Gegenstandsbezuges desto deutlicher zu bemerken. Durch einen allzu legeren Umgang mit dem Begriff der Wüste wird auf analytischer Ebene gleichsam der Effekt verdoppelt, daß sich der semantische Gehalt dieses Begriffes, als bloße Metapher genommen, ohnehin weitgehend zu verflüchtigen droht.

Gewiß, die Materialbasis wird heterogener, eine stoff- oder motivgeschichtliche Kohärenz läßt sich für die Vielfalt von modernen Wüstenmotiven kaum mehr in Anschlag bringen. Monika Schmitz-Emans macht aus dieser Not schwindender Referenz die Tugend der Selbstreferenz, indem sie "die Wüstenlandschaft" als "freie Projektionsfläche" (S.137) für das Spiel der Imagination und der poetischen Kreativität aufzufassen vorschlägt.

Nicht einzuleuchten vermag allerdings ihre Engführung des Wüstenthemas mit dem des Labyrinths, das im Kontext postmoderner Kunstreflexion intensiv diskutiert wurde und, so gewinnt man den Eindruck, die Autorin viel mehr interessiert hätte. Schmitz-Emans sieht lediglich Restbestände einer anthropologischen Situationsbeschreibung, die sich vage um den Wüsten-Topos gruppieren: "Einsamkeit, Entwurzelung, Unstetigkeit oder Kommunikationslosigkeit" (S.135).

Je unbestimmter und ungebundener die Semantik der Wüste sich darbietet, desto leichter kann sie zur Blindmetapher für die Selbstbeobachtung von Schreib- und Lesevorgängen werden. "Wie für den Schreibprozeß, so dient die Wüstenwanderung […] auch für den Prozeß der sukzessiven, anstrengenden und oft abenteuerlichen Lektüre als zumindest potentielles Bild." (S. 142) Mag sein, aber: Warum es sich lohnt, "die Wüste als poetologisches Gleichnis" (S.127) zu untersuchen, geht aus einer derart zaghaft und allgemein formulierten These nicht hervor.

Ein weites Feld?

Mit der Verengung der Wüsten-Thematik zur Toposforschung ergibt sich für den Bereich der modernen Literatur (und auch der anderen Künste) ein Problem, das in ähnlicher Weise auch in der Dissertationsschrift von Lindemann auftritt.

Eine transdisziplinäre Perspektive auf die Phänomenalität und Semantik der Wüste ist nur solange möglich und sinnvoll, wie sich tatsächliche Korrespondenzen zwischen natürlichen Grundlagen und kulturellen Konstruktionen, zwischen geographischen und ästhetischen Perzeptionen ergeben können. Wo hingegen die Wüste zur bloßen façon de parler wird, läuft eine kulturhistorische Nachzeichnung des Motivs Gefahr, ihre Bodenhaftung zu verlieren.

Wie könnte beispielsweise Nietzsches berühmtes, formelhaftes Diktum: "Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt" (zit. Lindemann, S.170) in eine Wahrnehmungs- und Begriffsgeschichte der ariden Zonen integriert werden? Die Herausforderung läge darin, die konkreten Aussage- und Auftrittsbedingungen solcher Tropen nachzuzeichnen.

Hier allerdings begnügt sich der Interpret, obwohl er einleitend Foucaults "Genealogie" (S.15) als theoretisches Rüstzeug seiner Arbeit angibt, mit einer immanenten Weiterdichtung des von Nietzsche metaphorisierten Wüsten-Topos. Der kryptische Satz von der wachsenden Wüste, so Lindemann, beziehe sich auf den "Prozeß der Austrocknung aller feuchten Ideale des christlichen Abendlandes durch Zarathustras Wüsten-Weisheit" (S.171).

Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen

Ohne Zweifel betritt Lindemann mit seiner großangelegten "Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen" ein ergiebiges literaturgeschichtliches Neuland. Die Arbeit spannt ihren Bogen von den frühesten überlieferten Wüstenbeschreibungen der antiken geographischen Literatur in Herodots Historien bis zu Wolfgang Hildesheimers Melancholie der bedrohten Biosphäre.

In zwei überaus materialreichen Längsschnitten werden, aus kultur- und sodann literaturgeschichtlicher Perspektive, die Beschreibungen und ästhetischen Ausgestaltungen des Wüstenmotivs zusammengestellt und jeweils knapp kommentiert. Diese annähernd zwei Drittel der Arbeit umfassenden Längsschnitte will der Autor als "Grundlegungen" verstanden wissen, denen er im letzten Drittel seiner Arbeit "Literaturwissenschaftliche Fallstudien" zur Literatur der Moderne folgen läßt.

Eine solche Hierarchie mißt den acht ausgewählten Autoren dieses letzten Teils besonderes Gewicht zu, doch sind einige Beispiele wohl eher zufällig bzw. aus subjektiven Präferenzen in diese Textreihe geraten (Borges, Saint-Exupéry, Camus, Hildesheimer).

Schwerpunkt auf dem spätlateinischen Bedeutungswandel

Zu den wichtigen Akzenten der Arbeit gehören die (bereits im Referat des Sammelbandes besprochenen) Ausführungen Lindemanns über den spätlateinischen Bedeutungswandel der Wüstenbegriffe, in dem sich ein religiöser Spiritualismus zu Wort meldete, und vor allem die daraus abgeleitete Motivgeschichte des Eremiten- und Anachoretentums.

Als insgeheimer Hauptdarsteller dieses Argumentationsstranges erweist sich der bereits erwähnte hl. Antonius und seine Legende. Das Interesse für diese zwiespältige Figur des Wüstengängers und seine Geschichte macht bis zu einem gewissen Grad plausibel, daß Lindemann für den Bereich des Mittelalters mit Jacques le Goff den Begriff der "Waldwüste" favorisiert (S.101), obwohl sich die Topik des Waldes vom definitorischen Fundament der wissenschaftlichen und empirischen Wüstenkonzeptionen denkbar weit entfernt.

Jedoch kann der positiv verstandene Wüsten-Eremit, wie gerade das Beispiel Antonius' demonstriert, ohne weiteres auch als Waldgänger vorgestellt und dadurch der mitteleuropäischen Lebenswelt mit ihren klimatischen Gegebenheiten merklich nähergebracht werden.

Der Eremit als Wüstenbewohner

Mit der Figur des Anachoreten wird die Wüste zum Teil eines asketisch-religiösen Programms, das als vorbildhaften Weg zur Läuterung den Verkauf aller irdischen Güter, die Absonderung von der weltlichen Betriebsamkeit und den Rückzug in selbstgewählte Einsamkeit vorsieht.

Antonius unternimmt all diese Schritte, begibt sich Zug um Zug weiter in die Wüste hinein, um dortselbst gegen jene Dämonen der Anfechtung zu kämpfen, die in ihm selbst liegen. Die Wüste ist eine situative Ermöglichungsbedingung für diese Reinigung, denn: Je übersichtlicher das Umfeld des Anachoreten, um so klarer und entschiedener läßt sich der Kampf mit den großen Versuchungen aufnehmen. Die karge Einsiedelei wird zum Tummelplatz poetischer Imaginationen.

Auch in der von Lindemann ausgeklammerten Kunstgeschichte konnte die Antonius-Figur enorme Produktivität freisetzen, wie vor zehn Jahren eine Arbeit Peter Gendollas materialreich demonstrierte. 1

Ob aber die Wüste eher als letztes und hartnäckigstes Refugium des Satans und seiner Geister zu verstehen ist oder in ihrer Kärglichkeit vielmehr ihrerseits als ein Hort der Askese fungiert, diese Unentschiedenheit ist in der Antonius-Legende selbst angelegt und hat dadurch Raum zu durchaus widersprüchlichen Interpretationen und Fortschreibungen gelassen.

Die moderne literarische Rezeption der Figur kulminiert fraglos in Flauberts Tentation de Saint Antoine, der Lindemann eine ausführliche Interpretation widmet.

Während ansonsten der Zugewinn an positiver kultureller Semantik der Wüste scheinbar nur um den Preis ihrer referentiellen De-Präzisierung zu haben ist, laufen in der Flaubert-Lektüre die Fäden beider historischen Linien zusammen, die realgeographischen und die topisch-metaphorischen Wüsten. Denn einerseits kann Lindemann zeigen, daß die "Merkmale der Flaubertschen Poetologie" in der Darstellung des Eremiten "zentralen Motiven des frühchristlichen Anachoretentums" korrespondieren (S.149), andererseits kann er darauf verweisen, "daß Flaubert mit dem Großteil der […] spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Wüstenbilder […] vertraut war." (S.151)

Die Antonius-Interpretation Lindemanns zählt, zusammen mit den Ausführungen über E. T. A. Hoffmanns Einsiedler Serapion (S.117ff.), zu den rundum gelungenen Stücken der Arbeit, in denen der Autor sich von legitimatorischen Zwängen unbelastet der inspirierten Textlektüre überläßt. Gerade bei jenen modernen Werken, deren kulturgeschichtlicher Resonanzboden aus dem Holze spätantiker Religion und lateinischen Mittelalters geschnitzt ist, scheint sich die weitausholende historische Tiefendimension der Arbeit im stimmigen Ton des Interpreten zu bewähren.

Fehlende methodische Reflexion

Daß in Lindemanns Textauswahl der romanistische Zuschnitt der Dissertation merklich durchschlägt, muß für eine komparatistische Darstellung des Wüstenmotivs in der Moderne durchaus nicht von Nachteil sein. Allerdings hätte der Autor gut daran getan, die Selektivität seiner Materialbasis auch methodisch zu reflektieren.

Er begnügt sich mit dem allzu schlichten Hinweis, in den einzelnen Analysen "induktiv" vorzugehen: "So ergibt sich die Systematik der Untersuchung organisch aus den Textlektüren" (S.15). Das aber tut sie gerade nicht, denn die ausgewählten Einzeltexte haben kaum etwas miteinander zu tun und halten eine teils nur mehr assoziative oder rhetorische Verbindung zum Rahmenthema.

Im Falle von Borges etwa ist die Wüste weder Naturphänomen noch kulturgeographisch definierbarer Raum, sondern eines von vielen Bildern für Gedächtnis- und Schreibprozesse; eine tabula rasa, die "das unbeschriebene Blatt Papier" (S.220) darstellt.

Von der ">Wüste< des Nihilismus" (S.237) bei Camus spricht Lindemann zunächst und völlig mit Recht nur in einfachen Anführungszeichen (die wenige Seiten später fallengelassen werden, S.241), denn Camus' figurativer Gebrauch des Begriffs überlagert vollständig dessen Auftreten als manifestes Motiv. Auch das, natürlich, kann in einer Arbeit über kulturelle und poetische Konzepte der Wüste zum Befund werden. Auswertbar aber würde dieser Befund erst dann, wenn die vermeintliche Evidenz der Textreihe nicht als Ersatz für eine theoretisch fundierte Konstruktion des Gegenstandes herhalten müßte.

Eine Wüste kann nicht nur die Hölle bezeichnen, sondern gleichfalls – wenn auch nicht parallel – das Paradies, sie kann als Bewährungs- oder Zufluchtsstätte fungieren oder als Ort des Rückzugs (S.256).

Diese "Polyvalenz des Begriffs" der Wüste, die Lindemann schon zu Beginn seiner Arbeit konstatierte, wird noch an ihrem Ende tapfer zu dem Hoffnungsschimmer umgebogen, "daß in der Relationalität sowie der von ihr ausgehenden Unbestimmtheit gerade die Stärke des Begriffs liegt" (S.256).


Dr.Alexander Honold
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für deutsche Literatur
Unter den Linden 6
D-10099 Berlin

Ins Netz gestellt am 17.04.2001

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Anmerkungen

1 Peter Gendolla: Phantasien der Askese. "Versuchung des hl. Antonius". Heidelberg 1991   zurück