Hübinger über Lehmstedt/Herzog (Hg.: Das bewegte Buch

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Gangolf Hübinger

Kulturbewegungen und ihre Bücher im frühen 20. Jahrhundert

  • Mark Lehmstedt und Andreas Herzog (Hg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900. (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens. Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte, Band 12) Wiesbaden: Harrassowitz 1999. 429 S. mit Abb., Geb. DM 126,-.
    ISBN 3-447-04029-7.
  • Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896-1930). (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Band 8) Wiesbaden: Harrassowitz 1998. 941 S. mit Abb. Geb. DM 198,-.
    ISBN 3-447-04029-7.


Für eine Buchgeschichte als Teil der allgemeinen deutschen Kulturgeschichte sind die beiden hier vorgestellten Titel eng aufeinander bezogen. Alle sozialen, politischen und kulturellen Bewegungen benötigen für ihren inneren Zusammenhalt wie für ihre Wirkung nach außen das gedruckte Wort. Die These ist so einsichtig, dass man sich in der Tat mit den Herausgebern des Sammelwerks Das bewegte Buch fragen kann, warum ihr bisher so wenig systematisch und methodisch reflektiert nachgegangen worden ist. Zwei einschlägige Publikationen vermitteln jetzt wichtige Einblicke, welchen Anteil das Buchwesen an der Sozialgeschichte in den Epochen des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik besessen hat.

Das bewegte Buch

Das deutsche Kaiserreich, das dem "bewegten Buche" den politischen Rahmen schuf, war um 1900 zur führenden europäischen Wirtschaftsmacht avanciert. Politisch griff es nach Kolonien, um seinen Status als Weltmacht unter Beweis zu stellen; ein mehr oder minder aggressiver Nationalismus wirkte als sozialer Integrationsfaktor. Kulturell tat sich Erstaunliches gegenüber dem vergleichbaren Industrienationen England und Frankreich. Das "vereinsselige" Deutschland begann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sich in immer neue große und kleine Bewegungen zu zerteilen. Die wichtigste Zäsur bildete hier die kurze Zeitspanne zwischen 1886 und 1890, als mit dem nahezu gleichzeitigem Abschluss des Kulturkampfes gegen die Katholiken und dem Fall der Sozialistengesetze diese beiden gesellschaftlichen Großgruppen nicht mehr den Repressionen des protestantisch-konservativen Obrigkeitsstaates ausgesetzt waren. Seitdem konnten sich alle sozialkulturellen Milieus gleichberechtigt mit ihren Druckerzeugnissen auf dem politischen Massenmarkt präsentieren. Buch, Zeitschrift und Zeitung dienten jetzt in freier Konkurrenz der Massenkommunikation innerhalb und zwischen diesen Milieus. Zugleich begann eine Ära immer neuer Abspaltungen von Subkulturen und intellektuellen Zirkeln. Sehr allgemein sind sie unter dem Begriff der "Lebens- und Sozialreformbewegungen" zusammengefasst worden; Eugen Diederichs hat ihnen in seinem Verlag den bedeutendsten Ort der Selbstdarstellung geboten. Viele Kleinst- oder Einmann-Verlage lassen sich einzelnen dieser Bewegungen zuordnen. Immer breiter wurden dabei diejenigen Bewegungen, die einen neuen Nationalismus propagierten und die Grundsätze sozialer Reformen am Mythos einer völkischen Regeneration orientierten.

An diese soziale Fragmentierung des Kaiserreiches knüpft die Kompositionsidee des bewegten Buches an. Der Berliner Buchforscher Mark Lehmstedt hat mit seinem Mitherausgeber Andreas Herzog die Dynamik, die "in den beiden letzten Friedensdekaden des Kaiserreichs zu ungeheurer Breite anschwoll", den anschwellenden Buchgesang, in mancher Hinsicht systematisch, stärker jedoch anhand von Fallbeispielen untersucht. Nur die Voraussetzung dazu, was eine "Bewegung" soziologisch ausmacht, bleibt in der Einleitung unbenannt. Gegenüber geschichtswissenschaftlichen Konventionen sind die Periodisierungen rund um die inhaltliche Kernzeit "um 1900" gewöhnungsbedürftig. So, wenn mit der Reichsgründung von 1871 gleich das "Wilhelminische Zeitalter" eingeläutet wird, das nach traditioneller Darstellung erst mit der Entlassung Bismarcks und dem "persönlichen Regiment" Wilhelms II. von 1890 beginnt. Ebenso gewöhnungsbedürftig ist es, den Antisemitismus als eine nationale Reformbewegung anzusprechen (S. 314); hier erscheint der Untertitel der nationalen Bewegungen sehr weit ausgedeutet.

Einen Bandschwerpunkt bilden mit den drei ersten Beiträgen Untersuchungen zur klassischen europäischen Emanzipationsbewegung der Arbeitergeschichte. Wolfgang Schröder schildert die Integrationsfunktion der Arbeiterpresse, nachdem die Sozialdemokratie ihren Sieg über das Sozialistengesetz mit einem neuen marxistischen Programm "krönte" (S. 10). Untermauert durch aufschlußreiche statistische Auswertungen kann Schröder gut veranschaulichen, auf welche Weise der "lesende Arbeiter" einen neuen sozialen Machtfaktor im politischen Kommunikationsraum der Jahrhundertwende darstellte. Wie sich die Sozialdemokratische Partei zugleich eine herausragende Verlegerpersönlichkeit schuf, ist dem folgenden Beitrag von Angela Graf, einer Zusammenfassung ihrer Dissertation, zu entnehmen. Am Bespiel der Leipziger Buchdruckerei AG weist Jürgen Schlimper auf eine eigentümliche aber wenig überraschende Grundspannung sozialdemokratischen Buchmarketings hin. Auch "Arbeiterunternehmen" operieren am Markt gewinnorientiert und sind damit eben jenen Gesetzen unterworfen, die sie ideologisch, zumindest solange sie dem Erfurter Programm von 1891 folgen, bekämpfen.

Ursprünglich wollten die jungen Wilden des "Friedrichshagener Dichterkreises" die Sozialdemokratische Partei von innen her kulturell erneuern. Liest man den Beitrag von Inge Kießhauer über den Verlagsort Friedrichshagen am Müggelsee bei Berlin, kann man leicht nachvollziehen, wie dort die "würzige Waldluft" (S. 111) eher zu literarischen Experimenten und den Lebensformen einer Bohème als zur Einflussnahme in einer modernen Massenpartei führen musste. Welche Art von Bewegung hier von lokalen Verlegern betreut wurde, und welche kreativen Energien diese Bohème bündeln konnte, ist vor einiger Zeit bereits durch die vorzügliche Monographie von Gertrude Cepl-Kaufmann und Rolf Kauffeldt vor Augen geführt worden.

Justus Ulbricht steuert seinen facettenreichen Studien zur Literatur bildungsbürgerlicher Reformbewegungen in diesem Band ein Portrait des Jugendbewegungsverlegers Erich Matthes bei. Ulbricht wiederspricht darin prinzipiell Mark Lehmstedts Vorbemerkung zum Leipziger Max Spohr Verlag als literarischem Organisator der Homosexuellenbewegung, dieser Typus des Kultur- oder Individualverlegers setze sich qualitativ ab von denjenigen Verlegern der "schönen Literatur", die wie beispielsweise Eugen Diederichs in Leipzig / Jena bislang zu sehr im Vordergrund gestanden hätten. Inwieweit der Diederichs-Verlag als ein belletristischer Verlag in die Buchgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts primär einbezogen werden sollte, ist im zweiten Teil dieser Besprechung zu erörtern. An dem Punkt ist Lehmstedt zuzustimmen, dass die Sexualreformbewegung der Jahrhundertwende einen radikaleren Verleger benötigte, als er im bildungsbürgerlichen Spektrum zu finden war.

Liest man den Artikel des ins Beiträgerverzeichnis nicht aufgenommenen Mitherausgebers Andreas Herzog über Theodor Fritsch, dessen berüchtigte Zeitschrift Hammer und den Aufbau reichsweiter "Hammer-Gemeinschaften" zur Verbreitung von Antisemitismus und Rassismus, sollte sich der Leser einen Moment den Titel dieses Sammelbandes vergegenwärtigen und innerlich erweitern. Die Hälfte der Beiträge sind Periodika, der bewegten Zeitschrift oder Zeitung, gewidmet. So kann die Halbmonatsschrift Der Hammer in der Tat als ein Gradmesser für das Dominantwerden einer völkischen Ressentimentkultur gegenüber den tatsächlichen subkulturellen Bewegungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Lebensreform. Ob Werner Sombart, einer der führenden sozialwissenschaftlichen Intellektuellen des Kaiserreichs, "dem Antisemitismus eine seriös erscheinende >wissenschaftliche Begründung<" gab (S. 179), dürfte sich nach der ausführlichen Sombart-Biographie von Friedlich Lenger so pauschal nicht mehr behaupten lassen. Die Hammer-Forschung wird in diesem Band sinnvoll ergänzt durch den buchgeschichtlich typischen Fall eines ideologischen Selbstverlegers, wie ihn Thomas Adam mit Heinrich Pudor vorstellt, der Lebensreform und Antisemitismus aufs Engste miteinander zu verbinden suchte. Erst 1919, sozusagen außerhalb der Kernzeit des Untersuchungszeitraums, wurde der Philo-Verlag gegründet, in dem sich der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" ein eigenes Instrument zur "Entlarvung völkischer und antisemetischer Vorurteile" schuf (Susanne Urban-Fahr).

Der große Reiz, der in einer Konstellationsanalyse von Buchproduktion und sozialer Bewegung liegen kann, wird in Ulrich Linses Erfolgsgeschichte des Oswald Mutze Verlages in Leipzig deutlich. Mutze führte die spiritistische Bewegung Sachsens zusammen und stieg zum Monopolverlag spiritistischer Literatur in Deutschland auf. Akribisch ist Linse den untergründig politisch wirkenden Netzwerken nachgegangen, auf denen dieser Erfolg beruhte. Natürlich entfalteten solche Verlage keine "Breitenwirkung" (S.244); das gehört ja gerade zur Logik des kommunikativen Massenmarktes, daß der Wunsch nach breiter Wirkung immer neue Parzellierungen zur Folge hat.

Leser, die auf die explizite Verwendung sozial- und kulturwissenschaftlicher Kategorien Wert legen, seien auf den übergreifenden Beitrag von Mirjam Storim über die Sittlichkeitsbewegung der Jahrhundertwende verwiesen. Hier ist auch die Rolle der christlichen Konfessionen berücksichtigt. Unter dem Stichwort der "Schmutz- und Schundliteratur" wurde Massenliteratur wie künstlerische Avantgarde gleichermaßen bekämpft. Zugleich schuf sich diese Bewegung ihre eigenen publizistischen Organisationsformen. Bis in die semantischen Auswertungen hinein liefert dieser Beitrag hervorragende Aufschlüsse über das Scham- und Sittlichkeitsgefühl der wilhelminischen Epoche. So wie der Leipziger Arbeitskreis zur Geschichte des Buchwesens die Beiträge dieses Bandes insgesamt arrangiert hat, legt er eine These nahe. Die Demokratisierung des Lesens um 1900 hat bei allem Einsatz für Bücherhallen (Peter Vodosek) den emanzipatorischen Sozialbewegungen nicht mehr gedient als der Zirkulation neuer nationalistischer Gesellschaftsbilder. Beides kann eng zusammengehören. Wie eng, dazu ist in letzter Zeit immer wieder der Eugen Diederichs Verlag nicht nur aus buchgeschichtlicher Perspektive befragt worden.

Eugen Diederichs und seine Welt

Schon ein rascher Blick in die knapp tausend Seiten starke Verlegerbiographie von Irmgard Heidler genügt, um sich zu überzeugen, daß Diederichs mehr als einen schöngeistigen Verlag führte. Von Anspruch und Wirkung her dürfte er der bedeutsamste "Organisator" jugendbewegter, zivilisationskritischer und sozialutopischer Bücher in Deutschland gewesen sein. Um sich des Facettenreichtums dieses erst am Ende des 20. Jahrhunderts durch ökonomische Konzentrationsprozesse aufgelösten Verlages zu vergewissern, wird man demnächst als erstes zu Heidler greifen. Nirgends sind die Materialien zu dieser so ausdrucksstarken wie schillernd-umstrittenen Verlegerpersönlichkeiten so sorgsam aus dem verstreuten Verlagsarchiv und aus privaten Sammlungen zusammengetragen wie hier.

Der immense Stoff ist in drei große Teile gegliedert. Der erste und kürzeste Teil ist dem Lebensweg mit seinen privaten Höhen und Tiefen und seinem gesellschaftlichen Umfeld gewidmet. Unter den Bildungserlebnissen, die das berufliche Profil schärften, ist Friedrich Nietzsche hervorgehoben. Als Stationen eines bewegten Lebens sind die erste Ehe mit Helene Voigt, die Verlagerung des Lebens- und Arbeitszentrums von der Buchmetropole Leipzig in das traditionalere Jena, die nationalen Intellektuellentreffen auf Burg Lauenstein im Ersten Weltkrieg und das Engagement für den Nachwuchsbuchhandel in der Weimarer Republik in eigenen Abschnitten behandelt. Exkurse zum werbewirksamen Prozeß um Nietzschebriefe, um die Verteidigung seines Schweizer Autors Carl Spitteler im Ersten Weltkrieg und zum wilhelminischen Antisemitismus unter der mächtigen Überschrift "Das Judentum und Eugen Diederichs" sind zwischengeschaltet. Der Verlag lebte ganz von den Leidenschaften und Einfällen seines Patriarchen.

Der wesentlich umfänglichere zweite Teil ist der Etablierung und Professionalisierung des Verlages im literarischen und verlegerischen Konkurrenzfeld des frühen 20. Jahrhunderts gewidmet. Heidler verbindet hier Abschnitte zur Programmatik und Kulturpolitik mit Fragen der Markt- und Leseranalyse, der Werbestrategien und der Literaturtheorie. Indirekt kommen die Reaktionen auf Ökonomisierung und Demokratisierung des Lesemarktes zur Sprache, die für die Positionierung und Selbstabgrenzungen aller Verlagstypen zum überlebenswichtigen Thema wurden. Zu den Hauptarbeitsgebieten und hervorstechenden Linien des Hauses Diederichs, das konsequenter Weise mehr auf "Lebensbücher" als auf Lesebücher setzen wollte, zählen die künstlerische Buchgestaltung mit E. R. Weiß und F. H. Ehmcke, darüber hat Irmgard Heidler auch an anderen Orten einschlägig publiziert.

Einen großen Block bildet hier die sogenannte "Verlagsreligion". Sogar in einschlägigen Lexika wird Diederichs mit eigenem Eintrag unter "Neumystik" geführt. Er betrieb aufwendige Gesamtausgaben zu Tolstoi, Kierkegaard, Ruskin oder Bergson jeweils unter dem Gesichtspunkt, die etablierten Amtskirchen mit spiritueller, undogmatischer Religionsempfindung zu provozieren. Ein Almanach Zum Aufbau neuen religiösen Lebens von 1910 dokumentiert den bis heute bleibenden Ertrag dieser weltanschaulichen Verlagspolitik.

In den neueren Kulturgeschichten des Kaiserreichs begegnet der Name von Eugen Diederichs in erster Linie als Organisator lebensreformerischer Bewegungen. Ob Werkbund, freistudentischer Elitekreis, Ausdruckstanz oder Reformpädagogik, hier war er der Meister des "bewegten Buches", hier bauten sich neue "Interaktionsfelder" auf und bildeten sich Lesegemeinden. Insofern überrascht es, diesen Bereich eher beiläufig und der "künstlerischen Kultur" zugeordnet vorzufinden, während Diederichs kurzfristigem Versuch, am expandierenden Markt der Soziologie zu partizipieren, ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Es gibt dafür einen plausiblen Grund. Alle politischen Linien werden unter der Überschrift "Sozialismus im Verlag" zusammengeführt.. Es ist ein eigentümlicher europäischer Sozialismus, der Sydney und Beatrice Webb mit Hendrik de Man bei Diederichs zusammenführt. Diederichs machte in Deutschland das Ideal der Fabian Society heimisch, das vor der Gründung der britischen Labour Party darin lag, den Sozialismus zu entökonomisieren und stattdessen zu nationalisieren. Nur wurde dies im Gegensatz zu England in der Weimarer Republik ein Spiel mit dem Feuer.

Der heterogenere dritte Teil ist überschrieben "Verlegerische Praxis". Neben manchen Wiederholungen finden sich hier Ausführungen zu Diederichs als Zeitschriftenverleger. Die berühmt gewordene Wochenschrift Die Tat, die in der Niedergangsphase der Weimarer Republik eine Schlüsselrolle spielte, ist im Stil eines Anhangs behandelt und das Interaktionsfeld, in dem auch der Diederichs-Autor Alfred Weber eine Rolle spielt, nur noch rudimentär dargestellt.

Eugen Diederichs hat in einer Hartnäckigkeit Politik mit seinen Büchern und für seine Bücher gemacht, wie es kein Verlag dieser Größenordnung, seien es katholische Universalverlage wie Herder in Freiburg oder protestantische Universitätsverlage wie Mohr-Siebeck in Tübingen, die ebenfalls weltanschauliche Ziele verfolgten, jemals versuchten. Deshalb ist die in der Einleitung aufgeworfene Frage so spannend, wie sich der Verlag in die deutsche Kulturgeschichte ganz generell einfügt. Weil die dazu angegebene Literatur bis ins Jahr 1997 reicht, verwirrt der Hinweis, daß einschlägige Forschung, sogar Verlagsstudien, nur selektiv herangezogen wurden. Für die methodischen Ansprüche der Arbeit blieb dies nicht ohne Folgen. Erkennbar ist die Unlust, ältere ideologiekritische Ansätze wie von Gary D. Stark, der den Spuren des großen Kulturpessimismus-Buches von Fritz Stern folgt, näher zu prüfen. Dabei hat Stark mit seinem Vergleich unterschiedlicher Verlagshäuser durchaus mehr zu bieten als nur "Hypothesensprünge" (S.876). Ignoriert wurden die neueren Forschungen zur "vagierenden Religiosität" (Thomas Nipperdey), seien es Friedrich Wilhelm Graf, Justus H. Ulbricht oder Meike Werner. Berührungsängste zeigt die Autorin vor allem gegenüber kulturgeschichtlichen Ansätzen zum "neuen Nationalismus" und den auch am Beispiel Diederichs geführten Debatten um die Bewegungen der "konservative Revolution" (Stefan Breuer). Dadurch klaffen positivistische Breite und analytische Stringenz weit auseinander.

Unfair wäre es, die Autorin nicht an ihren eigenen methodischen Maßstäben zu messen. Zwei Ziele verfolgt sie, das sagt schon der Titel. Erstens schreibt sie eine "detaillierte Buchhandelsgeschichte", sie entwickelt die professionelle Seite des Verlages mit literatursoziologischen Bezügen zum Verleger-Leser-Verhältnis, wo immer das möglich ist. Zweitens soll des Verlegers Welt erfaßt werden. Das "verlegerische Interaktionsfeld" als "ganzes Kulturfeld" dient der Erhellung seiner "dominanten Persönlichkeit." Zwei Interaktionsfelder werden hier als die beiden Höhepunkte im öffentlichen Wirken des Eugen Diederichs gegenüber der gesamten Verlegerkonkurrenz herausgehoben. Zum ersten die weltweite Auszeichung auf der "Internationalen Buchausstellung für Kunstgewerbe und Graphik" unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zum zweiten seine programmatische Rede über die Krisis des deutschen Buches, gehalten zum "Tag des deutschen Buches" am 21. März 1929 im deutschen Reichstag. Reichskanzler und Reichstagspräsident waren zugegen, die Rundfunkanstalten übertrugen direkt. Heidler widerspricht damit dezidiert Interpretationen, die den Zenit seines kulturverlegerischen Wirkens mit der Bugra von 1914 und spätestens den Kulturtagungen von 1917 überschritten sehen.

Der Rezensent rätselt deshalb um so mehr über den Satz, mit dem sie diesen "Tag des deutschen Buches" politisch deutet: "Allerdings betrachtete das liberale Lager, einschließlich Diederichs selbst, der eine Unterstützung von Bildungsorganisationen höher bewertete, die Veranstaltung mit Skepsis" (S.135). Wird Diederichs hier als Liberaler gewürdigt, so wie im kurzen Intermezzo seiner "Politischen Bibliothek", die Heidler mit ihren nach 1918 eiinbrechenden Absatzzahlen sorgfältig dokumentiert (S.890-893)? Oder ist "das liberale Lager" von Eugen Diederichs zu trennen? Erstaunlichereise wird der Leser nicht auf die Rede selbst verwiesen. Gibt es ein Originalmanuskript, das die nicht unproblematische Edition von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs überprüfen hilft? Nach Eugen Diederichs Leben und Werk hat er an die "Lieben Volksgenossen" im Reichstag folgenden Appell gerichtet:

Den >schöpferischen Realismus< hoffe ich noch zu erleben. Er wird unsere Literatur dadurch befruchten, daß sie ihre Kräfte erhält aus wirklichen Bindungen, nämlich aus der Verwurzelung des Menschen in Landschaft und im Blutserbe. (...) Die augenblickliche Krisis in unserer Literatur hängt auch zuusammen mit einer allzu starken Überfremdung mit ausländischer Literatur 1.

Sollten diese Sätze keine Fälschung der zweiten Ehefrau sein, dann war wenig Mühe nötig, Diederichs im nationalistischen Lager der Liberalismus-Gegner zu profilieren. Spricht hier der gleiche "Kulturverleger" wie auf der Internationalen Leipziger Buchausstellung von 1914, auf der er als Vermittler von Weltliteratur prämiert wurde? Der in Wirtschaftskreisen geschätzte Leipziger Historiker Karl Lamprecht konzipierte für diese "Bugra" eine Universalgeschichte der Schrift und Buchkultur. Eugen Diederichs durfte darin seinen Verlag in einer symbolisch überbürdeten Raumgestaltung als Höhepunkt kultureller Evolution präsentieren. Die "Buchkapelle" mit Paul de Lagarde als sakralem Zentrum befremdete nicht erst spätere Generationen in "einer heute merkwürdig anmutenden Präsentation" (S.166). Schon sachkundige Zeitgenossen wie der Münchner Kollege Hans von Weber sahen das so. Es ist wohl richtig, das Kulturprogramm blieb noch bis in den Weltkrieg hinein durchaus von einer "weltoffenen Haltung" in der verlegerischen Praxis (S.167) geleitet. Diederichs Werbekampagne für Ernst Lissauer, Verfasser des viel zitierten Haßgesang gegen England, führte nicht dazu, seine englischen Autoren im Verlagsalmanach von 1916 zu streichen. Nur finden sie sich nicht mehr wie im Almanach von 1913 unter der Rubrik "Das Ausland", sondern unter der den geistigen Kriegszielen geschuldeten Überschrift "Deutsche Weltpolitik". Wie steht es demnach mit der Entwicklung des "ganzen Kulturfeldes" zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik?

Die große Spannweite der Kulturbewegungen, denen Diederichs insbesondere vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zur Sprache verhalf, ermöglicht es, viele unterschiedliche Verlagsgeschichten zu schreiben. Heidlers Biographie favorisiert die Geschichte vom romantischen Erneuerer der Buchkunst zur ästhetischen Erziehung des geschädigten Industriebürgers. Am Schluß stellt sich vielleicht doch die Frage, gibt es zum Selbstbild von "Diederichs´ Welt" auch eine Gegenprobe? Welche Kriterien stellt die Zeitgeschichte bereit? Hat Diederichs wirklich so wenig mit all dem zu tun, was seit Georg Bollenbecks einschlägiger Studie über "Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters" von 1994 als Prozeß kultureller Selbstenteignung der deutschen Bildungsschichten beschrieben wird?

Mark Lehmstedt und Andreas Herzog haben das "bewegte Buch" strukturell in das Spannungsverhältnis von selbstreformerischen und selbstzerstörerischen Kräften gestellt. Das könnte ein Ansatzpunkt sein, da Eugen Diederichs mit seinem Topos vom "Organisator" deutscher Kultur beide Pole berührt. Im Briefkopf von 1913 kündet der Verlag von der "Wiedergeburt des sozialen Lebens auf religiöser und nationaler Grundlage". "Religiös" und "national", – diese Kriterien lassen sich durch das Verlagsprogramm hindurch systematisch verfolgen. Vor dem Weltkrieg öffnete sich das Programm für ein universales und religionspsychologisches Verständnis der Weltkulturen, und "Nation" wurde im Sinne Gottfried Herders als Pluralisisierung der Völker verstanden. Nach dem Krieg wurde im Anschluß an Paul de Lagarde die Überhöhung der deutschen Rasse und Kultur für das bewegte Diederichsbuch strukturdominant. Ein roter Faden führt hier durch den hochprofessionell geführten Verlag und macht den veränderten religiösen und nationalen Kommunikationsprozeß sichtbar. Von den "Wegen zu deutscher Kultur" (Almanach für das Jahr 1908) führt die verlegerische Lenkung die lesenden Deutschen zur "Volkwerdung durch Mythos und Geschichte" (Almanach für das Jahr 1928).


Gangolf Hübinger
Europa-Universität Viadrina
Kulturwissenschaftliche Fakultät
Postfach 776
D-15234 Frankfurt an der Oder

Ins Netz gestellt am 28.08.2001
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Anmerkungen

1 Strauß und Torney-Diederichs: Eugen Diederichs. Leben und Werk. 1936, S. 452f.   zurück