- Mark Lehmstedt und Andreas Herzog (Hg.): Das bewegte Buch.
Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900.
(Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des
Buchwesens. Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte, Band 12) Wiesbaden:
Harrassowitz 1999. 429 S. mit Abb., Geb. DM 126,-.
ISBN 3-447-04029-7.
- Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt
(1896-1930). (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Band 8) Wiesbaden:
Harrassowitz 1998. 941 S. mit Abb. Geb. DM 198,-.
ISBN 3-447-04029-7.
Für eine Buchgeschichte als Teil der allgemeinen
deutschen Kulturgeschichte sind die beiden hier vorgestellten Titel eng
aufeinander bezogen. Alle sozialen, politischen und kulturellen Bewegungen
benötigen für ihren inneren Zusammenhalt wie für ihre Wirkung
nach außen das gedruckte Wort. Die These ist so einsichtig, dass man
sich in der Tat mit den Herausgebern des Sammelwerks Das bewegte Buch
fragen kann, warum ihr bisher so wenig systematisch und methodisch
reflektiert nachgegangen worden ist. Zwei einschlägige Publikationen
vermitteln jetzt wichtige Einblicke, welchen Anteil das Buchwesen an der
Sozialgeschichte in den Epochen des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer
Republik besessen hat.
Das bewegte Buch
Das deutsche Kaiserreich, das dem "bewegten Buche"
den politischen Rahmen schuf, war um 1900 zur führenden
europäischen Wirtschaftsmacht avanciert. Politisch griff es nach
Kolonien, um seinen Status als Weltmacht unter Beweis zu stellen; ein mehr
oder minder aggressiver Nationalismus wirkte als sozialer Integrationsfaktor.
Kulturell tat sich Erstaunliches gegenüber dem vergleichbaren
Industrienationen England und Frankreich. Das "vereinsselige"
Deutschland begann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sich in immer
neue große und kleine Bewegungen zu zerteilen. Die wichtigste
Zäsur bildete hier die kurze Zeitspanne zwischen 1886 und 1890, als mit
dem nahezu gleichzeitigem Abschluss des Kulturkampfes gegen die Katholiken
und dem Fall der Sozialistengesetze diese beiden gesellschaftlichen
Großgruppen nicht mehr den Repressionen des
protestantisch-konservativen Obrigkeitsstaates ausgesetzt waren. Seitdem
konnten sich alle sozialkulturellen Milieus gleichberechtigt mit ihren
Druckerzeugnissen auf dem politischen Massenmarkt präsentieren. Buch,
Zeitschrift und Zeitung dienten jetzt in freier Konkurrenz der
Massenkommunikation innerhalb und zwischen diesen Milieus. Zugleich begann
eine Ära immer neuer Abspaltungen von Subkulturen und intellektuellen
Zirkeln. Sehr allgemein sind sie unter dem Begriff der "Lebens- und
Sozialreformbewegungen" zusammengefasst worden; Eugen Diederichs hat
ihnen in seinem Verlag den bedeutendsten Ort der Selbstdarstellung geboten.
Viele Kleinst- oder Einmann-Verlage lassen sich einzelnen dieser Bewegungen
zuordnen. Immer breiter wurden dabei diejenigen Bewegungen, die einen neuen
Nationalismus propagierten und die Grundsätze sozialer Reformen am
Mythos einer völkischen Regeneration orientierten.
An diese soziale Fragmentierung des Kaiserreiches knüpft
die Kompositionsidee des bewegten Buches an. Der Berliner Buchforscher
Mark Lehmstedt hat mit seinem Mitherausgeber Andreas Herzog die Dynamik, die
"in den beiden letzten Friedensdekaden des Kaiserreichs zu ungeheurer
Breite anschwoll", den anschwellenden Buchgesang, in mancher Hinsicht
systematisch, stärker jedoch anhand von Fallbeispielen untersucht. Nur
die Voraussetzung dazu, was eine "Bewegung" soziologisch ausmacht,
bleibt in der Einleitung unbenannt. Gegenüber
geschichtswissenschaftlichen Konventionen sind die Periodisierungen rund um
die inhaltliche Kernzeit "um 1900" gewöhnungsbedürftig.
So, wenn mit der Reichsgründung von 1871 gleich das "Wilhelminische
Zeitalter" eingeläutet wird, das nach traditioneller Darstellung
erst mit der Entlassung Bismarcks und dem "persönlichen
Regiment" Wilhelms II. von 1890 beginnt. Ebenso
gewöhnungsbedürftig ist es, den Antisemitismus als eine nationale
Reformbewegung anzusprechen (S. 314); hier erscheint der Untertitel der
nationalen Bewegungen sehr weit ausgedeutet.
Einen Bandschwerpunkt bilden mit den drei ersten
Beiträgen Untersuchungen zur klassischen europäischen
Emanzipationsbewegung der Arbeitergeschichte. Wolfgang Schröder
schildert die Integrationsfunktion der Arbeiterpresse, nachdem die
Sozialdemokratie ihren Sieg über das Sozialistengesetz mit einem neuen
marxistischen Programm "krönte" (S. 10). Untermauert durch
aufschlußreiche statistische Auswertungen kann Schröder gut
veranschaulichen, auf welche Weise der "lesende Arbeiter" einen
neuen sozialen Machtfaktor im politischen Kommunikationsraum der
Jahrhundertwende darstellte. Wie sich die Sozialdemokratische Partei zugleich
eine herausragende Verlegerpersönlichkeit schuf, ist dem folgenden
Beitrag von Angela Graf, einer Zusammenfassung ihrer Dissertation, zu
entnehmen. Am Bespiel der Leipziger Buchdruckerei AG weist Jürgen
Schlimper auf eine eigentümliche aber wenig überraschende
Grundspannung sozialdemokratischen Buchmarketings hin. Auch
"Arbeiterunternehmen" operieren am Markt gewinnorientiert und sind
damit eben jenen Gesetzen unterworfen, die sie ideologisch, zumindest solange
sie dem Erfurter Programm von 1891 folgen, bekämpfen.
Ursprünglich wollten die jungen Wilden des
"Friedrichshagener Dichterkreises" die Sozialdemokratische Partei
von innen her kulturell erneuern. Liest man den Beitrag von Inge
Kießhauer über den Verlagsort Friedrichshagen am Müggelsee
bei Berlin, kann man leicht nachvollziehen, wie dort die "würzige
Waldluft" (S. 111) eher zu literarischen Experimenten und den
Lebensformen einer Bohème als zur Einflussnahme in einer modernen
Massenpartei führen musste. Welche Art von Bewegung hier von lokalen
Verlegern betreut wurde, und welche kreativen Energien diese Bohème
bündeln konnte, ist vor einiger Zeit bereits durch die vorzügliche
Monographie von Gertrude Cepl-Kaufmann und Rolf Kauffeldt vor Augen
geführt worden.
Justus Ulbricht steuert seinen facettenreichen Studien zur
Literatur bildungsbürgerlicher Reformbewegungen in diesem Band ein
Portrait des Jugendbewegungsverlegers Erich Matthes bei. Ulbricht
wiederspricht darin prinzipiell Mark Lehmstedts Vorbemerkung zum Leipziger
Max Spohr Verlag als literarischem Organisator der Homosexuellenbewegung,
dieser Typus des Kultur- oder Individualverlegers setze sich qualitativ ab
von denjenigen Verlegern der "schönen Literatur", die wie
beispielsweise Eugen Diederichs in Leipzig / Jena bislang zu sehr im
Vordergrund gestanden hätten. Inwieweit der Diederichs-Verlag als ein
belletristischer Verlag in die Buchgeschichte des frühen 20.
Jahrhunderts primär einbezogen werden sollte, ist im zweiten Teil dieser
Besprechung zu erörtern. An dem Punkt ist Lehmstedt zuzustimmen, dass
die Sexualreformbewegung der Jahrhundertwende einen radikaleren Verleger
benötigte, als er im bildungsbürgerlichen Spektrum zu finden war.
Liest man den Artikel des ins Beiträgerverzeichnis nicht
aufgenommenen Mitherausgebers Andreas Herzog über Theodor Fritsch,
dessen berüchtigte Zeitschrift Hammer und den Aufbau reichsweiter
"Hammer-Gemeinschaften" zur Verbreitung von Antisemitismus und
Rassismus, sollte sich der Leser einen Moment den Titel dieses Sammelbandes
vergegenwärtigen und innerlich erweitern. Die Hälfte der
Beiträge sind Periodika, der bewegten Zeitschrift oder Zeitung,
gewidmet. So kann die Halbmonatsschrift Der Hammer in der Tat als ein
Gradmesser für das Dominantwerden einer völkischen
Ressentimentkultur gegenüber den tatsächlichen subkulturellen
Bewegungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Lebensreform. Ob Werner
Sombart, einer der führenden sozialwissenschaftlichen Intellektuellen
des Kaiserreichs, "dem Antisemitismus eine seriös erscheinende
>wissenschaftliche Begründung<" gab (S. 179), dürfte sich nach
der ausführlichen Sombart-Biographie von Friedlich Lenger so pauschal
nicht mehr behaupten lassen. Die Hammer-Forschung wird in diesem Band
sinnvoll ergänzt durch den buchgeschichtlich typischen Fall eines
ideologischen Selbstverlegers, wie ihn Thomas Adam mit Heinrich Pudor
vorstellt, der Lebensreform und Antisemitismus aufs Engste miteinander zu
verbinden suchte. Erst 1919, sozusagen außerhalb der Kernzeit des
Untersuchungszeitraums, wurde der Philo-Verlag gegründet, in dem sich
der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens" ein eigenes Instrument zur "Entlarvung völkischer
und antisemetischer Vorurteile" schuf (Susanne Urban-Fahr).
Der große Reiz, der in einer Konstellationsanalyse von
Buchproduktion und sozialer Bewegung liegen kann, wird in Ulrich Linses
Erfolgsgeschichte des Oswald Mutze Verlages in Leipzig deutlich. Mutze
führte die spiritistische Bewegung Sachsens zusammen und stieg zum
Monopolverlag spiritistischer Literatur in Deutschland auf. Akribisch ist
Linse den untergründig politisch wirkenden Netzwerken nachgegangen, auf
denen dieser Erfolg beruhte. Natürlich entfalteten solche Verlage keine
"Breitenwirkung" (S.244); das gehört ja gerade zur Logik des
kommunikativen Massenmarktes, daß der Wunsch nach breiter Wirkung immer
neue Parzellierungen zur Folge hat.
Leser, die auf die explizite Verwendung sozial- und
kulturwissenschaftlicher Kategorien Wert legen, seien auf den
übergreifenden Beitrag von Mirjam Storim über die
Sittlichkeitsbewegung der Jahrhundertwende verwiesen. Hier ist auch die Rolle
der christlichen Konfessionen berücksichtigt. Unter dem Stichwort der
"Schmutz- und Schundliteratur" wurde Massenliteratur wie
künstlerische Avantgarde gleichermaßen bekämpft. Zugleich
schuf sich diese Bewegung ihre eigenen publizistischen Organisationsformen.
Bis in die semantischen Auswertungen hinein liefert dieser Beitrag
hervorragende Aufschlüsse über das Scham- und
Sittlichkeitsgefühl der wilhelminischen Epoche. So wie der Leipziger
Arbeitskreis zur Geschichte des Buchwesens die Beiträge dieses Bandes
insgesamt arrangiert hat, legt er eine These nahe. Die Demokratisierung des
Lesens um 1900 hat bei allem Einsatz für Bücherhallen (Peter
Vodosek) den emanzipatorischen Sozialbewegungen nicht mehr gedient als der
Zirkulation neuer nationalistischer Gesellschaftsbilder. Beides kann eng
zusammengehören. Wie eng, dazu ist in letzter Zeit immer wieder der
Eugen Diederichs Verlag nicht nur aus buchgeschichtlicher Perspektive befragt
worden.
Eugen Diederichs und seine Welt
Schon ein rascher Blick in die knapp tausend Seiten starke
Verlegerbiographie von Irmgard Heidler genügt, um sich zu
überzeugen, daß Diederichs mehr als einen schöngeistigen
Verlag führte. Von Anspruch und Wirkung her dürfte er der
bedeutsamste "Organisator" jugendbewegter, zivilisationskritischer und
sozialutopischer Bücher in Deutschland gewesen sein. Um sich des
Facettenreichtums dieses erst am Ende des 20. Jahrhunderts durch
ökonomische Konzentrationsprozesse aufgelösten Verlages zu
vergewissern, wird man demnächst als erstes zu Heidler greifen. Nirgends
sind die Materialien zu dieser so ausdrucksstarken wie
schillernd-umstrittenen Verlegerpersönlichkeiten so sorgsam aus dem
verstreuten Verlagsarchiv und aus privaten Sammlungen zusammengetragen wie
hier.
Der immense Stoff ist in drei große Teile gegliedert.
Der erste und kürzeste Teil ist dem Lebensweg mit seinen privaten
Höhen und Tiefen und seinem gesellschaftlichen Umfeld gewidmet. Unter
den Bildungserlebnissen, die das berufliche Profil schärften, ist
Friedrich Nietzsche hervorgehoben. Als Stationen eines bewegten Lebens sind
die erste Ehe mit Helene Voigt, die Verlagerung des Lebens- und
Arbeitszentrums von der Buchmetropole Leipzig in das traditionalere Jena, die
nationalen Intellektuellentreffen auf Burg Lauenstein im Ersten Weltkrieg und
das Engagement für den Nachwuchsbuchhandel in der Weimarer Republik in
eigenen Abschnitten behandelt. Exkurse zum werbewirksamen Prozeß um
Nietzschebriefe, um die Verteidigung seines Schweizer Autors Carl Spitteler
im Ersten Weltkrieg und zum wilhelminischen Antisemitismus unter der
mächtigen Überschrift "Das Judentum und Eugen Diederichs" sind
zwischengeschaltet. Der Verlag lebte ganz von den Leidenschaften und
Einfällen seines Patriarchen.
Der wesentlich umfänglichere zweite Teil ist der
Etablierung und Professionalisierung des Verlages im literarischen und
verlegerischen Konkurrenzfeld des frühen 20. Jahrhunderts gewidmet.
Heidler verbindet hier Abschnitte zur Programmatik und Kulturpolitik mit
Fragen der Markt- und Leseranalyse, der Werbestrategien und der
Literaturtheorie. Indirekt kommen die Reaktionen auf Ökonomisierung und
Demokratisierung des Lesemarktes zur Sprache, die für die Positionierung
und Selbstabgrenzungen aller Verlagstypen zum überlebenswichtigen Thema
wurden. Zu den Hauptarbeitsgebieten und hervorstechenden Linien des Hauses
Diederichs, das konsequenter Weise mehr auf "Lebensbücher" als auf
Lesebücher setzen wollte, zählen die künstlerische
Buchgestaltung mit E. R. Weiß und F. H. Ehmcke, darüber hat
Irmgard Heidler auch an anderen Orten einschlägig publiziert.
Einen großen Block bildet hier die sogenannte
"Verlagsreligion". Sogar in einschlägigen Lexika wird Diederichs
mit eigenem Eintrag unter "Neumystik" geführt. Er betrieb
aufwendige Gesamtausgaben zu Tolstoi, Kierkegaard, Ruskin oder Bergson
jeweils unter dem Gesichtspunkt, die etablierten Amtskirchen mit
spiritueller, undogmatischer Religionsempfindung zu provozieren. Ein Almanach
Zum Aufbau neuen religiösen Lebens von 1910 dokumentiert den bis
heute bleibenden Ertrag dieser weltanschaulichen Verlagspolitik.
In den neueren Kulturgeschichten des Kaiserreichs begegnet
der Name von Eugen Diederichs in erster Linie als Organisator
lebensreformerischer Bewegungen. Ob Werkbund, freistudentischer Elitekreis,
Ausdruckstanz oder Reformpädagogik, hier war er der Meister des
"bewegten Buches", hier bauten sich neue "Interaktionsfelder" auf
und bildeten sich Lesegemeinden. Insofern überrascht es, diesen Bereich
eher beiläufig und der "künstlerischen Kultur" zugeordnet
vorzufinden, während Diederichs kurzfristigem Versuch, am expandierenden
Markt der Soziologie zu partizipieren, ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Es
gibt dafür einen plausiblen Grund. Alle politischen Linien werden unter
der Überschrift "Sozialismus im Verlag" zusammengeführt.. Es
ist ein eigentümlicher europäischer Sozialismus, der Sydney und
Beatrice Webb mit Hendrik de Man bei Diederichs zusammenführt.
Diederichs machte in Deutschland das Ideal der Fabian Society heimisch, das
vor der Gründung der britischen Labour Party darin lag, den Sozialismus
zu entökonomisieren und stattdessen zu nationalisieren. Nur wurde dies
im Gegensatz zu England in der Weimarer Republik ein Spiel mit dem Feuer.
Der heterogenere dritte Teil ist überschrieben
"Verlegerische Praxis". Neben manchen Wiederholungen finden sich hier
Ausführungen zu Diederichs als Zeitschriftenverleger. Die berühmt
gewordene Wochenschrift Die Tat, die in der Niedergangsphase der
Weimarer Republik eine Schlüsselrolle spielte, ist im Stil eines Anhangs
behandelt und das Interaktionsfeld, in dem auch der Diederichs-Autor Alfred
Weber eine Rolle spielt, nur noch rudimentär dargestellt.
Eugen Diederichs hat in einer Hartnäckigkeit Politik mit
seinen Büchern und für seine Bücher gemacht, wie es kein
Verlag dieser Größenordnung, seien es katholische Universalverlage
wie Herder in Freiburg oder protestantische Universitätsverlage wie
Mohr-Siebeck in Tübingen, die ebenfalls weltanschauliche Ziele
verfolgten, jemals versuchten. Deshalb ist die in der Einleitung aufgeworfene
Frage so spannend, wie sich der Verlag in die deutsche Kulturgeschichte ganz
generell einfügt. Weil die dazu angegebene Literatur bis ins Jahr 1997
reicht, verwirrt der Hinweis, daß einschlägige Forschung, sogar
Verlagsstudien, nur selektiv herangezogen wurden. Für die methodischen
Ansprüche der Arbeit blieb dies nicht ohne Folgen. Erkennbar ist die
Unlust, ältere ideologiekritische Ansätze wie von Gary D. Stark,
der den Spuren des großen Kulturpessimismus-Buches von Fritz Stern
folgt, näher zu prüfen. Dabei hat Stark mit seinem Vergleich
unterschiedlicher Verlagshäuser durchaus mehr zu bieten als nur
"Hypothesensprünge" (S.876). Ignoriert wurden die neueren
Forschungen zur "vagierenden Religiosität" (Thomas Nipperdey),
seien es Friedrich Wilhelm Graf, Justus H. Ulbricht oder Meike Werner.
Berührungsängste zeigt die Autorin vor allem gegenüber
kulturgeschichtlichen Ansätzen zum "neuen Nationalismus" und den
auch am Beispiel Diederichs geführten Debatten um die Bewegungen der
"konservative Revolution" (Stefan Breuer). Dadurch klaffen
positivistische Breite und analytische Stringenz weit auseinander.
Unfair wäre es, die Autorin nicht an ihren eigenen
methodischen Maßstäben zu messen. Zwei Ziele verfolgt sie, das
sagt schon der Titel. Erstens schreibt sie eine "detaillierte
Buchhandelsgeschichte", sie entwickelt die professionelle Seite des Verlages
mit literatursoziologischen Bezügen zum Verleger-Leser-Verhältnis,
wo immer das möglich ist. Zweitens soll des Verlegers Welt erfaßt
werden. Das "verlegerische Interaktionsfeld" als "ganzes
Kulturfeld" dient der Erhellung seiner "dominanten Persönlichkeit."
Zwei Interaktionsfelder werden hier als die beiden Höhepunkte im
öffentlichen Wirken des Eugen Diederichs gegenüber der gesamten
Verlegerkonkurrenz herausgehoben. Zum ersten die weltweite Auszeichung auf
der "Internationalen Buchausstellung für Kunstgewerbe und Graphik"
unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zum zweiten seine
programmatische Rede über die Krisis des deutschen Buches,
gehalten zum "Tag des deutschen Buches" am 21. März 1929 im
deutschen Reichstag. Reichskanzler und Reichstagspräsident waren
zugegen, die Rundfunkanstalten übertrugen direkt. Heidler widerspricht
damit dezidiert Interpretationen, die den Zenit seines kulturverlegerischen
Wirkens mit der Bugra von 1914 und spätestens den Kulturtagungen von
1917 überschritten sehen.
Der Rezensent rätselt deshalb um so mehr über den
Satz, mit dem sie diesen "Tag des deutschen Buches" politisch deutet:
"Allerdings betrachtete das liberale Lager, einschließlich
Diederichs selbst, der eine Unterstützung von Bildungsorganisationen
höher bewertete, die Veranstaltung mit Skepsis" (S.135). Wird Diederichs
hier als Liberaler gewürdigt, so wie im kurzen Intermezzo seiner
"Politischen Bibliothek", die Heidler mit ihren nach 1918 eiinbrechenden
Absatzzahlen sorgfältig dokumentiert (S.890-893)? Oder ist "das
liberale Lager" von Eugen Diederichs zu trennen? Erstaunlichereise wird der
Leser nicht auf die Rede selbst verwiesen. Gibt es ein Originalmanuskript,
das die nicht unproblematische Edition von Lulu von Strauß und
Torney-Diederichs überprüfen hilft? Nach Eugen Diederichs Leben
und Werk hat er an die "Lieben Volksgenossen" im Reichstag folgenden
Appell gerichtet:
Den >schöpferischen Realismus< hoffe ich noch zu
erleben. Er wird unsere Literatur dadurch befruchten, daß sie ihre
Kräfte erhält aus wirklichen Bindungen, nämlich aus der
Verwurzelung des Menschen in Landschaft und im Blutserbe. (...) Die
augenblickliche Krisis in unserer Literatur hängt auch zuusammen mit
einer allzu starken Überfremdung mit ausländischer Literatur
1.
Sollten diese Sätze keine Fälschung der zweiten
Ehefrau sein, dann war wenig Mühe nötig, Diederichs im
nationalistischen Lager der Liberalismus-Gegner zu profilieren. Spricht hier
der gleiche "Kulturverleger" wie auf der Internationalen Leipziger
Buchausstellung von 1914, auf der er als Vermittler von Weltliteratur
prämiert wurde? Der in Wirtschaftskreisen geschätzte Leipziger
Historiker Karl Lamprecht konzipierte für diese "Bugra" eine
Universalgeschichte der Schrift und Buchkultur. Eugen Diederichs durfte darin
seinen Verlag in einer symbolisch überbürdeten Raumgestaltung als
Höhepunkt kultureller Evolution präsentieren. Die
"Buchkapelle" mit Paul de Lagarde als sakralem Zentrum befremdete nicht
erst spätere Generationen in "einer heute merkwürdig
anmutenden Präsentation" (S.166). Schon sachkundige Zeitgenossen wie der
Münchner Kollege Hans von Weber sahen das so. Es ist wohl richtig, das
Kulturprogramm blieb noch bis in den Weltkrieg hinein durchaus von einer
"weltoffenen Haltung" in der verlegerischen Praxis (S.167) geleitet.
Diederichs Werbekampagne für Ernst Lissauer, Verfasser des viel
zitierten Haßgesang gegen England, führte nicht dazu, seine
englischen Autoren im Verlagsalmanach von 1916 zu streichen. Nur finden sie
sich nicht mehr wie im Almanach von 1913 unter der Rubrik "Das Ausland",
sondern unter der den geistigen Kriegszielen geschuldeten Überschrift
"Deutsche Weltpolitik". Wie steht es demnach mit der Entwicklung des
"ganzen Kulturfeldes" zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik?
Die große Spannweite der Kulturbewegungen, denen
Diederichs insbesondere vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zur Sprache
verhalf, ermöglicht es, viele unterschiedliche Verlagsgeschichten zu
schreiben. Heidlers Biographie favorisiert die Geschichte vom romantischen
Erneuerer der Buchkunst zur ästhetischen Erziehung des geschädigten
Industriebürgers. Am Schluß stellt sich vielleicht doch die Frage,
gibt es zum Selbstbild von "Diederichs´ Welt" auch eine Gegenprobe?
Welche Kriterien stellt die Zeitgeschichte bereit? Hat Diederichs wirklich so
wenig mit all dem zu tun, was seit Georg Bollenbecks einschlägiger
Studie über "Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen
Deutungsmusters" von 1994 als Prozeß kultureller Selbstenteignung der
deutschen Bildungsschichten beschrieben wird?
Mark Lehmstedt und Andreas Herzog haben das "bewegte
Buch" strukturell in das Spannungsverhältnis von selbstreformerischen
und selbstzerstörerischen Kräften gestellt. Das könnte ein
Ansatzpunkt sein, da Eugen Diederichs mit seinem Topos vom "Organisator"
deutscher Kultur beide Pole berührt. Im Briefkopf von 1913 kündet
der Verlag von der "Wiedergeburt des sozialen Lebens auf religiöser
und nationaler Grundlage". "Religiös" und "national", diese
Kriterien lassen sich durch das Verlagsprogramm hindurch systematisch
verfolgen. Vor dem Weltkrieg öffnete sich das Programm für ein
universales und religionspsychologisches Verständnis der Weltkulturen,
und "Nation" wurde im Sinne Gottfried Herders als Pluralisisierung der
Völker verstanden. Nach dem Krieg wurde im Anschluß an Paul de
Lagarde die Überhöhung der deutschen Rasse und Kultur für das
bewegte Diederichsbuch strukturdominant. Ein roter Faden führt hier
durch den hochprofessionell geführten Verlag und macht den
veränderten religiösen und nationalen Kommunikationsprozeß
sichtbar. Von den "Wegen zu deutscher Kultur" (Almanach für
das Jahr 1908) führt die verlegerische Lenkung die lesenden Deutschen
zur "Volkwerdung durch Mythos und Geschichte" (Almanach für
das Jahr 1928).
Gangolf Hübinger
Europa-Universität Viadrina
Kulturwissenschaftliche Fakultät
Postfach 776
D-15234 Frankfurt an der Oder
Ins Netz gestellt am 28.08.2001
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Anmerkungen
1 Strauß und Torney-Diederichs: Eugen Diederichs. Leben und Werk. 1936,
S. 452f. zurück
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