Hüser über Jost: Die Logik des Parasitären

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Rembert Hüser

Große Namen

Kurzrezension zu
  • Claudia Jost: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte. Medizinische Diskurse. Schrifttheorien. (M&P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung) Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. 412 S. Kart. DM 65,-.
    ISBN 3-476-45233-6.


Die Figur des Parasitären

1990 erscheint in Boston in Blast Unlimited eine fünfseitige Transkription eines Derrida-Seminars. Fünf Jahre später wird sie in Bornheim-Roisdorf in einem Sammelband des Hanseatischen Fachverlags für Wirtschaft ins Deutsche übersetzt. In diesem Seminar sagt Derrida an einer Stelle: woanders erwähne ich Passagen, in denen dieses Seminar, die schreckliche Monotonie dessen, was ich sage oder unterrichte, sich als Theorie des Parasiten finden wird, ja als Parasitologie." 1 Wieder fünf Jahre später bildet dieses "ausdrücklichste Bekenntnis zum Parasitären", das Derridas "gesamte Arbeit explizit in den Horizont einer >Parasitologie<"(S. 1) stellt, den Ausgangspunkt des Buchs Die Logik des Parasitären von Claudia Jost. In den "zentralen" Schrift- und Bedeutungstheorien spielen Jost zufolge Annahmen zum Status des Parasitären eine gewichtige Rolle, werden als Theorie jedoch eigens nicht entwickelt. "Eine Ausnahme ist Jacques Derrida ... sowie Michel Serres, dessen Buch Der Parasit ich hier nicht näher untersuche" (S. 12). Warum nicht, wird nicht mitgeteilt. Das Fehlen von Der Parasit in der Logik des Parasitären hat einen systematischen Grund und einiges mit einer Emphase zu tun, die an Ausdrücken wie >Bekenntnis<, >gesamte Arbeit<, >explizit<, >zentral<, >Theorie< und >Derrida< ablesbar ist. Trotz des Aufweises der "groteske[n] Zwiespältigkeit, Überspanntheit und Gewalt parasitärer Logiken" (S. 6) läuft das Parasitäre in dieser Arbeit mitunter Gefahr, zum Universalschlüssel für große Themen zu werden: >der Tod<, >der Körper<, >das Andere<, >die Signifikation< usw.

Dabei wird am Beispiel von Derrida schnell ersichtlich, daß es keineswegs darum gehen kann, eine >Theorie des Parasiten< zu schreiben – Derrida tut das auch nirgends; bei ihm heißt der Untertitel über der Transkription einer Seminarsitzung so – sondern eher darum, sich mit der Figur des Parasiten – wie mit möglichen anderen Metaphern auch – zu >Theorie< zu verhalten. (Und zu beobachten, welche Effekte beim Schreiben / Lesen der Unterscheidung sich dabei einstellen. 2) "I often tell myself, and I must have written it somewhere – I am sure I wrote it somewhere – that all I have done, to summarize it very reductively, is dominated by the thought of a virus, what could be called a parasitology, a virology, the virus being many things." 3 Anders gesagt: wenn man sich in die supplementäre Struktur des Parasiten hineinbegibt, gilt es, diese in ihren Konsequenzen ernstzunehmen und das heißt zuallererst, sie bei der Organisation der eigenen Beobachtungen nicht zu substantialisieren. Sie nicht zu einem Großkonzept zu machen, in das sich alle Diskussionen der letzten Zeit hineinpacken lassen.

Rückzug auf den Autor

Die Logik des Parasitären erliegt zum Teil der Versuchung des Konzepts. Die großen Einheiten dieses Buches sind die kanonischen Autorennamen. Das Buch gliedert sich in vier Teile, die weitgehend der klassischen Einteilung: methodologisches Vorwort (I. Schrifttheorien des Parasitären. II. Die Frage der conditio humana) – historischer Kontext (III. Das Naturgesetz des Menschen) – literarische Lektüren (IV. Vom Begehren zum Parasitären) entsprechen. Jedes einzelne Kapitel bietet als Untertitel zwei bis drei große Eigennamen auf. ( Der parasitäre Akt. John Austin, Sigmund Freud, Jacques Derrida; Genuß, Gesetz und Tyrannei. Jacques Lacan, Slavoj Zizek, Hannah Arendt; Die Leiche und die Literatur. Franz Kafka, Friedrich Hölderlin usw.), insgesamt 17. Die Kapitel fangen entsprechend an: Michel Foucault hat die >Kritik< als ... verstanden; Emmanuel Levinas hat eine Philosophie hinterlassen; Slavoj Zizek hat daran erinnert; Es ist Kafka, der, usw. Die einzelnen Bereiche sind strikt voneinander getrennt; das Nachdenken über einen Pappkameraden Wissenschaft ("ein Ort, wo alles berührt werden darf, sofern es nicht der eigenen Lust dient" (379)) dient letztlich dazu, einen emphatischen Literaturbegriff in Szene zu setzen ("Demnach wäre es gerade die >Sache der Poesie< [. . .] das >Unberührbare< als blendendes und doch unersetzbares Moment des Schönen anzuerkennen " (S. 387)).

Der Rückzug auf das einheitsstiftende Moment der Autorkategorie als Strukturvorgabe zur Beschreibung des Dementis von Einheit durch die parasitäre Struktur wirft dabei Probleme sowohl in der Wahrnehmung des Gegenstandsbereichs wie bei der Lektüre der Bezugsautoren selbst auf und macht den Text über weite Strecken unbeweglicher als er sein müßte. Was fehlt, ist der Blick für Zweitversionen der Unterscheidung. Überlegungen zum eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten, zu Rauschen, Noise, Gegensinn und Störung bilden ohne Zweifel eine Grundlage der meisten Bedeutungstheorien, "zentral" sind neben Arbeiten der Dekonstruktion und Psychoanalyse dann aber auch Arbeiten aus dem Kontext der Kybernetik, Linguistik und Ethnologie, die nicht zuletzt als Störung der eigenen Gewissheiten genutzt werden könnten. Druck auf die anderen Konzepte ausüben könnten 4 .

Der Umgang mit den Kanonautoren der Humanities ist in Die Logik des Parasitären entsprechend routiniert. Sie werden weniger gelesen, sondern ideologisch als Topoi entfaltet. Daß Austin nicht im Ausschlußmechanismus von Zitat und Parodie aufgeht, dürfte spätestens seit Shoshana Felmans La Scandale du Corps Parlant 5 bekannt sein. Daß man im Derrida-Kapitel einmal mehr lesen muß, wie das Supplement in die Grammatologie kommt und wie Derrida im Differance-Aufsatz von einem Buchstaben spricht, wird insbesonders dann ärgerlich, wenn deshalb für Derridas Überlegungen zum Parasitären in The Rhetoric of Drugs 6 oder in Some Statements 7 kein Platz mehr bleibt. Daß bei der Parade der Namen nicht alles ohne weiteres mit allem kombinierbar ist, daß die Berufung etwa auf Baudrillard im Kontext viraler Schreibstrategien nicht unproblematisch ist, hat Brigitte Weingart in Parasitäre Praktiken 8 herausgearbeitet. So drängt sich bei der Lektüre von Die Logik des Parasitären zunehmend der Eindruck auf, daß der pflichtbewußte Durchlauf durch die Konzepte dem Zwang der Textsorte Dissertation geschuldet sein könnte. Daß man durch sie hindurch muß, um irgendwo hinzukommen. (Warum das Buch mit einem 37seitigen Abstract beginnen muß, das jedes folgende Kapitel unter seiner jeweiligen Überschrift auf zwei Seiten in klein schon mal zu erzählen sucht, ist mir allerdings schleierhaft).

Die heimliche Macht des Performativen

In Die Logik des Parasiten ist man nach 200 Seiten im Zentrum der Überlegungen angelangt – interessanterweise in dem Teil des Buchs, dessen Kapitel als einzige ohne die Autorität von Großen-Namen-Untertiteln auskommen. Hier wird am Ort der Leiche die Wirkungsweise einer Diskurspolitik im Schnittfeld von Biomedizin und Informationstechnologien analysiert, die im Setzen auf das Parasitäre einen rechtsfreien Raum eröffnet, in dem "ein absolutes Verbrechen stattfinden kann, ein Verbrechen, dessen Spuren unauffindbar sein werden" (S.10). Dieser Raum wird durch die "heimliche Macht des Performativen" (207) der Sprache definiert, die in ihren Versuchen der Klassifikation innerhalb des Rechtssystems "den toten Körper beweglich" (206) hält und den Kreis derer, die als Rechtssubjekt anerkannt werden, sukzessive einschränkt. Am Beispiel der neuen Todesdefinition, des Hirntod-Kriteriums, die ein "Organbegehren" (241) sei und "zwei Dinge – >Tod< und >Hirntod<, >Menschsein< und >eigentliches Menschsein<:– zu einem Begriff zusammenwirft" (251), wird deutlich, daß die "Legitimationsprozesse, die dazu führen, tödliche Gewalt nicht mehr als solche zu bezeichnen, als Vorspiel einer Tötungspolitik" (252) gesehen werden müssen.

Hier bieten sich zahlreiche Anschlußmöglichkeiten. Historische wie Thomas Schlichs Studie Die Erfindung der Organtransplantation 9 oder anthropologische, die die Zirkulation toter Körper lokal weiter unterscheiden, etwa Nancy Schepers-Hughes' The End of the Body. The Global Traffic in Organs for Transplant Surgery 10, deren Überlegungen zum >body of apartheid< mit Balibars Überlegungen zum Rassismus aus Teil II gekoppelt werden könnten. Vielleicht wären Anschlußmöglichkeiten dieser Art auch interessanter gewesen, als das letzte Wort zum Performativen (pflichtbewußt?) wieder der Literatur einzuräumen: Kafka, Schreber, Hölderlin, Schiller, Barthes und Schulz.

Auf dem Cover des Buches steht im Bioblurb der Autorin: "Derzeit Habilitation über Hannah Arendt, Elias Canetti und Emmanuel Levinas." Der Titel, den Derrida für die Transkription seines Seminars gewählt hat, dessen Untertitel A Theory of the Parasite die Logik der Dissertation in Gang gesetzt hatte, heißt Subverting the Signature.

Dr. Rembert Hüser
SFB/FK 427 – Universität zu Köln
Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg
"Medien und kulturelle Kommunikation"
Bernhard-Feilchenfeld-Str. 11
D-50969 Köln

Ins Netz gestellt am 26.06.2001
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Anmerkungen

1 Jacques Derrida: Die Signatur aushöhlen. Eine Theorie des Parasiten. In: Hannelore Pfeil / Hans-Peter Jäck (Hg.): Eingriffe im Zeitalter der Medien. Übersetzt von Peter Krapp. (Reihe: Politiken des Anderen, Bd.1). Bornheim-Roisdorf: Hanseatischer Fachverlag für Wirtschaft 1995, S. 29-41, hier: S. 31.   zurück

2 Instruktiv in diesem Zusammenhang Derridas Umgang mit der Figur des "Biodegradablen": "People will wonder: Since he does not believe in the pertinence of this figure, the >biodegradable<, when it is applied to discourses, to discursive texts, to culture in general, why, then, does he devote so much space to it? Why is he writing so publicly and at such length on this subject, and so on? Response: Well, for no reason, just to see, to reflect and see what remains of it, perhaps to take the measure of the "(bio)degradability" of this text here, precisely, beyond its meaning, to test its conditions of translation, publication, and conservation" (Jacques Derrida: Biodegradables. Seven Diary Fragments. Translated by Peggy Kamuf. In: Critical Inquiry 15 (Summer 1989), S. 866).   zurück

3 Jaques Derrida: The Spatial Arts: An Interview With Jacques Derrida. In; Peter Brunette / David Wills (Hg.): Deconstruction and the Visual Arts. Art, Media, Architecture. Cambridge Mass. 1994, S. 9-32, hier S. 12.   zurück

4 Empfehlenswert ist hier eine Arbeit, die demnächst erscheinen wird: Erhard Schüttpelz: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Ludwig Jäger / Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren (Medien/Lektüre). München: Fink 2001.   zurück

5 Shoshana Felman: Le Scandale du corps parlant. Paris: Editions du Seuil 1980.   zurück

6 Jacques Derrida: The Rhetoric of Drugs. An Interview. In: Differences, 5.1 (1993), S. 1-25.   zurück

7 Jacques Derrida: Some Statements And Truisms About Neo-Logisms, Newisms, Postisms, Parasitisms, And Other Small Seismisms. Translated by Anne Tomiche. In: David Carroll (ed.): The States of >Theory<. History, Art, and Critical Discourse. Stanford, California: Stanford University Press 1990, S. 63-94.   zurück

8 Brigitte Weingart: Parasitäre Praktiken. Zur Topik des Viralen. In: Claudia Benthien / Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.): Über Grenzen: Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 207-230.   zurück

9 Thomas Schlich: Die Erfindung der Organtransplantation: Erfolg und Scheitern des chirurgischen Organersatzes (1880 - 1930). Frankfurt, New York: Campus 1998.   zurück

10 Eine Fassung dieses Textes ist über das Netz zugänglich: http://sunsite.berkeley.edu/biotech/organswatch/pages/cadraft.html   zurück