Jahraus über Götze und Schmidt: Frühromantik 2001

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Oliver Jahraus

Frühromantik 2001:
Die Darstellung des Undarstellbaren
und der Beginn der Moderne

  • Martin Götze: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik. Schöningh: Paderborn u.a. 2001. 409 S. Kart. DM 88,-.
    ISBN 3-506-73200-5.
  • Benjamin Marius Schmidt: Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität. Stuttgart / Weimar: J.B.Metzler 2001. 326 S. Kart. DM 60,-.
    ISBN 3-476-45254-9.


Zwei Dissertationen und ihr komplementäres Verhältnis

Im Jahr 2001 sind zwei Dissertationen erschienen, die beide für sich in Anspruch nehmen können, die Diskussion um den engen Zusammenhang zwischen philosophischer Reflexion und poetisch-literarischer Praxis, der die Frühromantik nicht nur charakterisiert, sondern geradezu ausmacht, auf ein neues Niveau gehoben zu haben. Und obwohl sie beide dieselbe Epoche und sogar denselben Problemkomplex der Darstellung des Undarstellbaren behandeln, sind sie doch so unterschiedlich, sowohl in ihrer systematischen Grundlegung, in ihren Zielen, in ihrer Schwerpunktsetzung, als auch in ihrer historischen Aktualisierung, dass man nicht nur von einem komplementären Ansatz sprechen kann, sondern darin zudem zwei Modelle sehen mag, wie man sich zur Literaturgeschichte überhaupt stellen kann.

Für eine erste Charakterisierung mag es dienlich sein, wenn man die Bamberger Dissertation von Martin Götze mit dem Adjektiv >immanent< charakterisiert. Auf fast 400 Seiten werden alle philosophischen ebenso wie poetologischen (die poetischen nur am Rande) Texte der Frühromantik einer exakten, geradezu mustergültigen philologischen Interpretation unterzogen (zu nennen sind insbesondere: Schillers "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen", "Ueber naive und sentimentalische Dichtung", Fichtes "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre", Hölderlins "Urtheil und Seyn", Novalis "Fichte-Studien", Schlegels "Philosophische Lehrjahre").

Demgegenüber macht die Züricher Dissertation von Benjamin Marius Schmidt von Anfang deutlich, dass sie die Schillerschen und Schegelschen Texte (insbesondere ebenfalls Schillers "Ueber naive und sentimentalische Dichtung", aber auch den "Wallenstein", Schlegels "Lucinde", die "Kritischen Fragmente", die "Athenäums-Fragmente", das "Gespräch über Poesie", die "Geschichte der alten und neuen Literatur" und sein Aufsatz "Über die Unverständlichkeit") unter der Vorgabe moderner und avancierter Theorien wie der Systemtheorie Luhmanns, der Psychosemiologie Lacans und der Zeichentheorie Peirces liest.

Mit der Immanenz hier und der Theoretisierung dort verändert sich nicht nur die Herangehensweise an die Texte und ihr Status, sondern korrelativ auch das Frageinteresse. Während Götze die Texte als Beiträge zu einem poetologischen Gesamtzusammenhang im Kontext idealistischer Philosophie und Ästhetik liest, verwandeln sich die interpretierten Texte bei Schmidt zu Dokumenten einer historischen Krisen- und Umbruchsphase. Für beide Arbeiten ist jedoch die Moderne der terminus a quo, von dem aus die Problemkonstellationen überhaupt erst entworfen werden.

Das philosophische Problem des Undarstellbaren
und seine poetologische Lösung

Ausgangspunkt der Dissertation von Götze ist die Frage, warum — wie es Novalis ausdrückt — die Poesie zum Helden der Philosophie werden könne. Die Beantwortung dieser Frage bringt eine der bislang gründlichsten Herleitungen der philosophischen Grundlagen der Frühromantik hervor. Sie beginnt in ihrer umfassenden Rekonstruktion des theoretischen ebenso wie ästhetischen Problembestandes jener Epoche am Einsatzpunkt der Moderne zwischen Theorie und Kunst, Philosophie und Literatur mit der neuen philosophischen Grundlegung der Ästhetik im Kontext des deutschen Idealismus bei Kant und in der Folge bei Schiller.

Götze bringt die gesamte, philosophische, ästhetische, poetologische und literarische Gesamtkonstellation in eine argumentative Ablaufstruktur, in der die Aufeinanderfolge der Positionen aus der Bearbeitung anfallender Problembestände deutlich wird. Er setzt ein, indem er zeigt, wie Kant den philosophischen und Schiller den ästhetischen Diskurs eröffnen (Kap. A). Kant habe das Problem der Begründung allen Wissens aufgeworfen, aber dabei keine Lösung gefunden, die die Einheit des Denkens noch begründen könnte. Doch die daraus resultierende Ausdifferenzierung von Verstand, Vernunft und Urteilskraft — entsprechend den drei Kritiken Kants — bot aber immerhin die Möglichkeit, über die Urteilskraft die Ästhetik als Problemlösungskapazität zu funktionalisieren.

Was Kant hier vorgezeichnet hat, greift Schiller — vermittelt durch seine Kant-Rezeption — auf. Grundsätzlich gesagt: Für ihn wird Schönheit zu einem objektiven Begriff, und das heißt: zu einem Vernunft-Begriff und mithin das Ästhetische zu dem Moment der Einheitsstiftung schlechthin. Dadurch gewinnt das Ästhetische eine gleichermaßen historische ebenso wie anthropologische Dimension.

Zentral jedoch wird Fichtes System der "Wissenschaftslehre" als entscheidende Gelenkstelle und Abstoßmarke für die Poetologie der Frühromantik rekonstruiert (Kap. B). Fichte setzt bei Kant an und radikalisiert das Problem der Einheitsstiftung in der Begründung des Wissens auf eine Weise, dass dadurch das Grundproblem des Idealismus seine deutlichste Ausprägung findet. Die "Wissenschaftslehre" ist also nichts anderes als der Versuch (der über die verschiedensten Fassungen fast über zwei Jahrzehnte fortgesetzt wird), eine Einheit des Wissens zu rekonstruieren, die zugleich das Wissen begründen kann. Diese Einheit muss, um ihre Begründungsfunktion leisten zu können, selbstbegründend sein. Sie wird als Ich bzw. als Selbstbewusstsein benannt.

Götze liefert hierbei eine umfassende Fichte-Exegese, die zwar die bekannten Topoi wieder aufgreift, sie aber auf jenes aporetische Problem der Absolutheit zuspitzt, auf dessen Ausprägung dann die Frühromantiker reagieren. Insbesondere fokussiert Götze dabei die Aporie, die Konstitution einer solchen Letztbegründungsinstanz darstellen zu wollen — die Aporie einer Darstellung, die vermittelt, aber nicht selbst vermittelt ist, ohne dabei wiederum in die Vermittlung zurückzufallen. Die Vermittlung des Absoluten raubt dem Absoluten genau jenen Charakter des Absoluten, um den es der Vermittlung doch zu gehen habe. Dargestelltes Selbstbewusstsein ist kein Selbstbewusstsein mehr, sondern ein — beliebiger — Gegenstand des Bewusstseins; aus jeder Tathandlung des Bewusstseins wird in der Reflexion eine Tatsache des Bewusstseins. Götze ist hier durchaus auf der Höhe der Diskussion, wie sie durch Namen wie Henrich oder Frank repräsentiert wird, so dass sich dieses Kapitel auch als Rekonstruktion einer bewusstseinsphilosophischen Debatte lesen lässt.

Der wichtigste Zielpunkt der gesamten Arbeit besteht darin, zu zeigen, wie aus der Aporie der Selbstbegründung des Absoluten (des Selbstbewusstseins bzw. des Ich) und seiner Selbst-Darstellung eine Poetik resultiert, die eben aus diesen Vorgaben die radikale Konsequenz zieht, an die Stelle der theoretischen die ästhetische Darstellung des Absoluten zu setzen.

Die Durchführung dieses Programms erfolgt in drei Schritten (Kap. C, D, E). Zunächst wird gezeigt, wie die Frühromantiker, insbesondere Hölderlin, Novalis und Schlegel, Fichte rezipieren und in ihrer kritischen Aneignung ein Problembewusstsein der Aporie von Fichtes "Wissenschaftslehre" entwickeln, das zum Teil das Reflexionsniveau von Fichte selbst wenn nicht übersteigt, so doch wesentlich erweitert, z.B. indem die Aporie der Letztbegründung auf das Problem eben der Darstellung des Absoluten bezogen wird. Das Problem des Absoluten wird so als Problem seiner Darstellung greifbar. Und damit kommt das wichtigste Bezugsproblem der Arbeit ins Spiel, nämlich das der Darstellung des Absoluten. Abkürzend ließe sich sagen, dass sich das gesamte Problempotential der Frühromantik auf die Darstellung des schon in der Reflexion nicht zugänglichen Absoluten zuspitzen ließe.

Romantische Ironie und die Differenz des Differenzlosen

Es ist die herausragende Leistung der groß angelegten Studie von Götze, in philologischen Musteranalysen der wichtigsten poetologischen Auseinandersetzungen der Frühromantik der genannten Autoren zu demonstrieren, warum und wie die für die Epoche geradezu konstitutiven Charakteristika des Fragments und der Ironie den Darstellungsformen der philosophischen Uneinholbarkeit des Absoluten geschuldet sind, warum und wie an die Stelle des philosophischen Systems die poetische Darstellung des Absoluten tritt und warum und wie die Poesie gerade in ihrer Eigengesetzlichkeit philosophisch als Organon der Philosophie (Schelling) instrumentalisiert und — bezogen auf die Ausgangsfrage — als Held inthronisiert werden kann.

Dabei werden insbesondere jene Probleme hervorgehoben, die den Repräsentationscharakter der Darstellung bestimmen, sei er nun als Buchstabe (Schlegel) oder als Bild (Novalis) benannt. In jedem Fall gibt es eine unüberwindbare Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem, zwischen Geist und Buchstabe (wie Schlegel es begrifflich fasst): Weil aber das Repräsentierte differenzlos gedacht werden muss, bezeichnet die Repräsentation des Absoluten einen Selbstwiderspruch. Es bedarf also einer Repräsentation, die diese Differenz anerkennt und gleichzeitig dementiert. Und genau dies wird durch die Ironie geleistet.

Romantische Ironie in diesem Sinne verfehlt, wovon sie spricht, aber sie spricht auch von diesem Verfehlen und sie gibt das Verfehlen als das Entscheidende aus. Romantische Ironie ist beständige Selbstdifferenzierung, die ein Bewusstsein dieser Differenz aufrechterhält. Es wird ja nicht nur die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem anerkannt, sondern auch die Differenz der Ironie zu dem darin Ironisierten markiert.

Götze zeigt nun, wie diese Ironie nicht allein als poetologisches Notfallprogramm für den transzendentalphilosophischen Ernstfall zum Einsatz kommt, sondern bereits den modifizierten Vorstellungen von Subjektivität der Frühromantiker entspringt und sich bis in die kunst- und repräsentationstheoretischen Überlegungen von Schlegel und Novalis nachverfolgen lässt. Romantische Ironie bekommt insofern eine positive Eigenqualität, als sie es den Autoren erlaubt, die Differenzen in einem ästhetischen Prozess zu dynamisieren und zwischen den Differenz-Termen kunst- ebenso wie lebenskonstitutiv oszillieren zu lassen.

Das Problem der Moderne

Diesen Problembestand rekonstruiert Schmidt nicht im Einzelnen, auch wenn er deutlich angesprochen wird. Wer also das gesamte Spektrum präsent haben will, dem sei empfohlen, Götzes Arbeit vor der Schmidts zu lesen. Doch während Götze mit dem Begriff der Moderne lediglich den historischen Einsatzpunkt einer Entwicklung, die mit der Frühromantik beginnt, benennt, wird er bei Schmidt selbst zum Gegenstand seiner Arbeit. Ich sehe hierin einen intrinsischen Zusammenhang:

Der Einbezug avancierter Theorien eröffnet gerade den Blick auf die Modernität, wie sie in und mit der Frühromantik zum Ausdruck kommt. Vor allem Lacan und Luhmann lenken mit ihren Theorien — wie Schmidt es prägnant vorführt — den Blick vor allem auf die Unverfügbarkeit des Subjekts im Kontext seiner psychosemiologischen Analyse bzw. gesellschaftsstrukturellen Situierung. Damit liegen Theoreme vor, die ihrerseits ein Konzept von Modernität entwickeln, in dem sie sich selbst verorten. Daher sind diese Theorien in gewisser Weise moderne Theorien in der doppelten Dimension des genitivus subjectivus und objectivus. Indem sie Modernität entwerfen, zeigen sie gleichzeitig eine Entwicklungslinie auf, in der sie selbst stehen.

Am Anfang dieser Linie, die als Theoriegeschichte verstanden werden muss, stehen — Schmidt zufolge — Schiller und Friedrich Schlegel, und an deren Ende, das man postmodern nennen mag oder nicht, situieren sich diese Theorien selbst. Daraus entsteht ein äußerst fruchtbares Wechselspiel zwischen den Theorien, die Schiller und Schlegel entwickelt haben, und den Theorien, mit deren Hilfe Schmidt wiederum diese Ansätze rekonstruiert. Schmidt zeigt daher, wie Schiller und insbesondere Schlegel in der querelle des anciens et des modernes nicht nur eine präzise Gegenwartsdiagnostik des Krisenbewusstseins im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, sondern damit zugleich auch ein kritisches Verständnis von Modernität entwickelt haben. So kann man also für Schmidts Arbeit ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Gegenstand und Theorie annehmen.

(Post-)Moderne Theorie lässt die Frühromantik als Beginn der Moderne erscheinen. Das Reflexionsproblem, das Götze so umfassend herausarbeitet, wird bei Schmidt als Problem der Moderne am Beispiel der Schriften Schillers und Schlegels psychisch, sozial und historisch durchschaubar.

Das Jahrzehnt 1790—1800

Schmidt nimmt dabei eine zeitliche Eingrenzung vor, aus der heraus sich eine der spannendsten Dramatisierungen jener Entwicklungen ergibt, die das Ende des 18. Jahrhunderts kennzeichnen. Er untersucht die theoretische ebenso wie literarische Produktion von Schiller und Schlegel im Jahrzehnt von 1790 bis 1800. In diesem Jahrzehnt spielt sich der erste Akt jenes Dramas der Moderne ab, der in seinem Krisenbewusstsein die Exposition für eine Entwicklung liefert, die bis zur Gegenwart Geltung besitzt.

Schmidt konzentriert sich auf nur zwei Autoren in diesem Jahrzehnt: Schiller und Schlegel. Aus ihren Gemeinsamkeiten entwickelt er das Problempotential der Moderne, an den Unterschieden zwischen beiden zeigt er das inhärente Entwicklungspotential, das sich in diesem Drama aktualisiert. Vor dem Hintergrund der Lebensläufe (so waren beide 22, als die entscheidenden Werke der für sie bestimmenden Philosophen erschienen: 1781 Kants "Kritik der reinen Vernunft", 1794 Fichtes "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre") (S. 254) zeigt er auch die philosophischen und literarischen Implikationen auf, die mit dem exemplarischen Generationswechsel von Schiller zu Schlegel, von der Klassik zur Frühromantik verbunden sind. Insofern erscheint ihm das Jahrzehnt ab 1790 selbst als ein Drama, das in seiner Mitte um 1795 eine Peripetie aufweist, als Schiller sich nach seinen theoretischen Schriften wieder verstärkt der Dramenproduktion zuwendet, Schlegel hingegen mit der Publikation seiner Reflexionen beginnt.

Krisenbewusstsein

Schmidts Arbeit setzt mit dem Krisenbewusstsein jenes Jahrzehnts ein; dies ist für ihn der Ausgangspunkt, die Gründe für dieses Krisenbewusstsein zu rekonstruieren. In seinem Durchgang durch das Jahrzehnt entwickelt er mit den drei Theorien, die er hierzu verwendet, ein Feuerwerk an Ideen, die den Zusammenhang zwischen politischer Geschichte und gesellschaftlicher Entwicklung, zwischen der Entstehung der Individualität und seiner sozialen Verankerung, zwischen der philosophischen und der literarischen Reflexion der neuartigen Weltverhältnisse erhellen. Schmidt ist fraglos ein Kabinettstück eigener Art gelungen. Es ist ja nicht nur eine geistesgeschichtliche Rekonstruktion, sondern auch eine Exemplifikation der Leistungsfähigkeit eben dieser Theorien. Aber auch das ist es noch nicht allein: Schmidt zeigt auch die Zusammenhänge der verschiedenen Aspekte, die die benannten Theorien immer nur isoliert hervorheben können.

Das Krisenbewusstsein ist daher auch auf mehreren Ebenen angesiedelt, die Schmidt in einer Gesamtkonstellation rekonstruiert. Gesellschaftlich sind die Umstellungen zwischen einem stratifikatorisch zu einem funktional ausdifferenzierten Modell geltend zu machen, die erhebliche Folgeprobleme auch in der innerpsychischen Verfasstheit des Subjekts ebenso wie in seiner sozialen, bürgerlichen, familialen und in seiner religiösen Verortung nach sich ziehen. Die gesellschaftliche Umstellung zerstört Ordnungsvorstellungen, die in der Hierarchie der Gesellschaft zugleich die Übertragbarkeit der Muster und ihre gesellschaftsweite Geltung garantieren konnten. In der Folge davon wird dem Subjekt die Last der Stiftung der gesellschaftlich verlorenen Einheit aufgebürdet, die dieses gar nicht mehr übernehmen kann. Schon im Entwurf der Subjektivität wird die Verwerfung des Subjekts durch sich selbst offenbar.

Gottesdämmerung

Genau diesen Zusammenhang kennzeichnet Schmidt als Gottesdämmerung, den er als Verlust der "paternalen Metapher" semiotisch, psychosemiologisch und auch noch gesellschafts- / systemtheoretisch präzisiert. An die Stelle des verschwundenen oder gemordeten Gottes tritt die >Gegenreligion der Liebe< (ein Begriff, den er von Peter von Matt übernimmt), die nicht nur das Individuum als zu verwirklichendes Subjekt voraussetzt, sondern gleichzeitig die Utopie privater und öffentlicher Authentizität entwirft. Wie dieses Ideal entworfen und gleichzeitig verworfen wird, zeigt er in einer höchst spannenden und innovativen Interpretation von Schillers "Wallenstein" — ein Kabinettstück im Kabinettstück. Er demonstriert nicht nur das Ideal der >Gegenreligion Liebe< im Paar Thekla und Max, sondern zeigt auch die Problematik der Vaterposition in der dilemmatischen Doppelung zwischen sozialem und biologischem Vater (Wallenstein, Octavio) und insbesondere den "Antagonismus zwischen utopischer Imagination und gesellschaftlicher Realität" (S. 104).

Während Schiller in seinen theoretischen Schriften immer bemüht ist, eine dichotomische Entfaltung der Welt als Einheit — und vor allem als ästhetische Einheit — zu denken, kann er in seinen Dramen auch das Scheitern dieser Einheitsstiftung demonstrieren. Schmidt kommt es vor allem auf das "Entwicklungskontinuum" zwischen den Positionen Schillers und Schlegels an; beide sind für ihn Denker ohne Gott und Vater, die genau in dieser Eigenschaft dem Jahrzehnt ihren Stempel aufdrücken. Aber dennoch bleiben auch die Weiterentwicklungen nicht unberücksichtigt. Im Grunde genommen beschäftigt sich der gesamte zweite Teil der Arbeit damit.

Die folgenden beiden Kapitel behandeln das Thema der Ironie als Kommunikationsprogramm und das Programm einer >Neuen Mythologie<. Wo Götze gerade die Kontinuität zwischen Ironie und Mythologie betont, hebt Schmidt die Diskontinuität hervor und sieht in beiden "zwei verschiedene Reaktionen auf dieselbe Problemlage >Modernität<" (S. 277). Die Rekonzeptualisierung, verstärkt unter kommunikationstheoretischen Prämissen, erlaubt ihm hierbei abermals verblüffende Einblicke in die Zusammenhänge, die gänzlich neue Perspektiven eröffnen. So z.B. wenn er romantische Ironie und Schizophrenie als Kommunikationsformen zur Deckung bringt. Er schreibt, "dass das Programm romantischer Ironie, wenn es realisiert würde, zu einem Kommunikationsstil führen kann, wie er für Familien mit einem schizophrenen Mitglied typisch ist" (S. 270). Oder wenn er die Funktion des Programms der >Neuen Mythologie< als "Latenzschutz" charakterisiert, der dazu dient, Utopien angesichts des Bewusstseins von Krise und aporetischer Reflexion überhaupt aufrechterhalten zu können.

Ein Schlusskapitel fasst noch einmal die grundlegenden Prinzipien jenes Wandels zusammen, die das Jahrzehnt 1790—1800 als Bewusstwerdung der Krise und als Beginn der Moderne auszeichnen. In diesem Jahrzehnt haben trianguläre Modelle endgültig ausgedient, die die Dichotomien durch die transzendente Position eines Vaters oder Gottes als psychische, soziale und politische Einheit miteinander vermitteln wollten. Statt dessen wird nun die dritte Position als Lücke erfahren, die einerseits dem Begehren das Feld öffnet, aber gleichzeitig neue, aber letztlich aporetische Anstrengungen der Einheitsstiftung in einem transzendentalen Subjekt evoziert. Dieses Jahrzehnt liefert gerade mit seinen frühromantischen Positionen die Einsicht, dass das Subjekt nicht einfach an die Stelle Gottes treten und dessen Verfügungsgewalt beerben kann, sondern dazu verdammt ist, seine eigene Begründungsproblematik und Selbstverwerfung vorzuführen.

Die Aktualität der Frühromantik

Ernst Behler und Jochen Hörisch haben 1987 nach der "Aktualität der Frühromantik" in einem gleichnamigen Sammelband (Paderborn: Schöningh 1987) gefragt und sich dabei insbesondere auf die literarhistorische Beschäftigung bezogen. Auch Schmidt demonstriert die Aktualität der Frühromantik, aber in einer grundsätzlichen Form. Gerade seine phantasiereiche, immer aber auch präzise Rekonstruktion zeigt die Gegenwärtigkeit der Modernität der Frühromantik. Er führt geradezu vor, wie man kreativ und wissenschaftlich zugleich sein kann. Der Titel "Denker ohne Gott und Vater" markiert auch heute noch, vielleicht sogar heute mehr denn je, eine denkgeschichtliche Situation, in der es keine Berufung auf transzendente Instanzen mehr geben kann und jede transzendentale Instanz einem umfassenden Verfahren der Kritik unterworfen werden muss.

Beide vorgestellten Arbeiten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Götzes Arbeit ist eine exzellente historisch-philologische Rekonstruktion, Schmidts Arbeit ist ein grosser theoretischer Entwurf, ein eigenständiger Beitrag zur Diskussion der Moderne: Damit liegen zwei Untersuchungen vor, die sich ergänzen, die aber nicht konkurrieren. Man wird zu diesem oder jenem Buch je nach Interesse greifen; man sollte beide zusammen lesen.


PD Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
An der Universität 5
D-96045 Bamberg

Ins Netz gestellt am 15.01.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Johannes Endres. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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