Jensen über Haye: Humanismus in Schleswig und Holstein

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Minna Skafte Jensen

Lateinische Poesie für Jedermann

Kurzrezension zu
  • Thomas Haye: Humanismus in Schleswig und Holstein. Eine Anthologie lateinischer Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts – mit deutscher Übersetzung, Kommentierung und literarhistorischer Einordnung. Kiel: Ludwig 2001. 248 S. Kart. Euro (D) 15, 90.
    ISBN 3-933598-21-4.


Präsentation

Das hier besprochene Werk ist ein anziehendes Büchlein, handwerklich schön gemacht, scharf gedruckt auf gutem Papier, ein Buch, das viel mehr Vergnügen als Arbeit ausstrahlt. Dass sich der Verfasser als seine Primärleser Schüler und Studenten vorstellt, wird nur ganz beiläufig in der Einleitung erwähnt (S. 10). Wahrscheinlich möchte Haye aber mit seiner Anthologie auch ganz >normale< Leser anziehen, die einfach von der Lust am Lesen motiviert werden. Jedenfalls sind die lateinischen Gedichte sorgfältig so präsentiert, dass man sie ohne Lateinkenntnisse oder andere Voraussetzungen verstehen kann.

Neun Dichter sind in der Anthologie vertreten: Heinrich Hudemann (1595–1628), Martin Ruarus (1588–1657), Johann Lauterbach (1531–1593), Samuel Rosenbohm (1567-1625), Jonas von Elverfeld (ca. 1550–ca. 1611), Henning Cunradinus (1538–1590), Johann Kirchmann (1575–1643), Bernhard Vaget (1548–1613) und Wilhelm Alard (1572–1645). Wie man sieht, ist die Reihenfolge nicht chronologisch. Haye kommentiert die Einordnung nicht, sagt nur, dass er zwei besonders lange Gedichte aus pragmatischen Gründen an das Ende gesetzt und sonst vor allem an Thematik und Prosopographie als Gliederungskriterium gedacht hat (S. 12). Man errät aber, dass auch pädagogische Gründe eine Rolle gespielt haben können. Es wirkt anziehend, dass das Buch mit Gedichten Hudemanns anfängt, die nicht nur kurz und verhältnismäßig einfach sind, sondern sich auch im Kreis der Freunde bewegen und einen kleinen Einblick in das private Leben ermöglichen. Die oft herzlichen Gefühle, die unter gelehrten Freunden dieser Zeit zum Ausdruck kommen, muten uns meistens angenehm an. Das letzte Gedicht, ein Kleinepos in 458 Hexametern, das einen Besuch des dänischen Königs Christian IV. in der Stadt des Dichters feiert, wirkt schon fremder.

Aufbau der Anthologie

Man darf sich von der Leichtigkeit und Eleganz allerdings nicht täuschen lassen: Hayes Buch ist ein durchaus gelehrtes Werk, geschrieben von einem Verfasser, der mit seinem Stoff vertraut ist und sich an ein breites Publikum mit derselben Sorgfalt wendet, mit der er sich an Fachkollegen richten würde. Die Einleitung skizziert knapp den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Gedichte und stellt sowohl die Dichter als auch diejenigen vor, die in den Texten angeredet sind.

Die Textgestaltung folgt einer Praxis der vorsichtigen Normalisierung, führt stillschweigend einleuchtende Korrekturen durch, und vereinfacht die Kommasetzung. Für eine Anthologie, die sich an Nichtspezialisten richtet, sind diese Entscheidungen richtig. Herausgeber neulateinischer Texte sind sich aber nicht einig darüber, wie sehr man Orthographie und Satzzeichen der Norm anpassen soll, die sich Jahrhunderte später etabliert hat und die in den internationalen Klassikerausgaben verwendet wird. Prinzipiell finde ich, dass man das Original pedantisch wiedergeben soll, wie es die Herausgeber von frühen volkssprachlichen Texten tun – und wie wir sehen werden, ist auch in Hayes Fall die Normalisierung nicht ohne Probleme durchgeführt worden.

Die Übersetzungen sind in Prosa verfaßt und halten sich eng an den lateinischen Text. Latein und Übersetzung stehen Seite für Seite einander gegenüber, und dem Leser, der nur wenig Latein kann, ist das Lesen des Originals auf diese Weise erleichtert.

In den Anmerkungen finden sich für jeden Dichter Hinweise auf bio- und bibliographische Nachschlagewerke sowie, wo vorhanden, auf weiterführende Forschungsliteratur, woraufhin Angaben zur Textgrundlage folgen. Es ist dies, wie für das Neulatein typisch, immer eine erste gedruckte Auflage. Abgerundet werden die Erläuterungen durch Angaben zum Versmass, antiken Vorbildern, sprachlichen Besonderheiten und historischen Ereignissen, auf die die Texte Bezug nehmen. Auf diese Weise werden dem Leser Informationen an die Hand gegeben, welche die Gedichte umfassend erschließen und den Weg zu intensiverer Auseinandersetzung sowohl mit den vertretenen Dichtern als auch mit der frühneuzeitlichen lateinischen Poesie insgesamt weisen.

Einheit und Vielfalt

Von diesem gelehrten, aber bescheiden im Hintergrund bleibenden Apparat begleitet, sprechen die Texte für sich selbst. Hayes Anthologie versammelt Gedichte aus dem halben Jahrhundert zwischen 1577 und 1625. Heinrich Hudemann und Samuel Rosenbohm sind Hauptpersonen, die mit verhältnismäßig vielen Gedichten vertreten sind, und deren Texte unmittelbares Interesse erregen. Dem früh verstorbenen Hudemann war zu Lebzeiten ein nicht unbedeutender Erfolg beschieden, als der von den Nordeuropäern der Zeit viel bewunderte Daniel Heinsius in Leiden (1581–1655) sich lobend über seine Gedichte äußerte. In der hier vorliegenden Auswahl wirkt aber Rosenbohm am besten, besonders mit den Gedichten Nr. 22 und 24.

Um ihre Texte gruppieren sich die anderen Gedichte, die von ihren Freunden und Bekannten stammen, so dass sich hier zwei Generationen von Dichtern präsentieren, die einander in freundschaftlicher oder sogar verwandtschaftlicher Beziehung verbunden waren. Einen weiteren Bezugspunkt der Dichtungen stellt der Mäzen Herzog Heinrich Rantzau auf Breitenburg dar, der viele Dichter und andere Künstler förderte und unterhielt. Hierdurch wird der Leser gleichsam beiläufig auch an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neulateinischer Literatur herangeführt, denn es sind vor allem Freundschaft und Mäzenatentum, denen diese Art von Poesie ihr Entstehen verdankt.

Haye führt durch seine Auswahl eine abwechslungsreiche Reihe von Gattungen vor, in der die klassischen metrischen Grundformen lyrische Verse, elegische Disticha und Hexameter in einer Vielfalt von Untergattungen präsent sind. Zu nennen sind Ehrenverse, die man in die Bücher der Freunde eintrug, Epigramme für Stammbücher oder zur Begleitung eines Porträts, Abschieds- und Begrüßungsgedichte, Briefgedichte – wie zum Beispiel Einladungen zum Mittagessen oder Antworten darauf –, Gedichte auf Hochzeiten und Beerdigungen sowie eine Grabinschrift für einen Herzog, außerdem spöttische Verse, historische Gedichte, Beschreibungen (Ekphraseis), und am Ende sogar ein Lehrgedicht sowie ein panegyrisches Kleinepos. In den versammelten Gedichten präsentieren sich die einzelnen Dichter als unter sich ganz verschiedenartige Persönlichkeiten. Auf diese Weise gibt die in einem knappen Zeitraum von nur fünfzig Jahren entstandene dichterische Produktion dieser eng umgrenzten Literaturlandschaft einen Einblick in die facettenreiche neulateinische Poesie insgesamt.

An einer einzigen Stelle bin ich von Hayes Übersetzung nicht überzeugt. Im Gedicht Nr. 10 bedankt sich Heinrich Hudemann bei einem reichen Freund für ein gutes Mittagessen. Er lobt den Freund und entschuldigt sich für seine viel zu schwache dichterische Begabung, die ihm nicht gestattet, einen zureichenden Dank zu formulieren. Er hofft aber, dass die Großzügigkeit des Freundes seinen eigenen Mangel gutmachen wird. Die Übersetzung der mittleren Passage lautet:

Wenn meine Muse, die sich zwar dem Phoebus und den Grazien geweiht, doch bei Phoebus und den Grazien nicht allzu viel Beifall gefunden hat, dir nicht den schuldigen Dank zu erweisen vermag, wie ich dies ja stets zu tun wünschte durch Speis' und Trank, durch Speis' und Trank in bester Qualität, da du mich neulich durch deinen heiteren Witz und deinen Humor reich beschenkt hattest: so sollst du dies deinem überaus gütigen Charakter zuschreiben... (S. 55).

Diese Gedankenfolge ist aber unklar: Wie sollte die Muse Speise und Trank herstellen können? Das fällt nicht in ihre Zuständigkeit und darum auch nicht in die des Dichters. In der formelhaften neulateinischen Kunstform haben die Mitspieler festgelegte Rollen: Während vom Dichter Bescheidenheit zu erwarten ist, die Entschuldigungen für das zu kleine Talent also normal sind, gehört es nicht zu seiner Rolle, reich zu sein. Sich dafür zu entschuldigen, daß er selbst keine Möglichkeit hat, zu einem genauso guten Mittagessen einzuladen, wäre eine Überschreitung dieser Rolle. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Mäzen zwar über Geld verfügt, der Dichter aber mit seiner Kunst über etwas genauso Bedeutendes. Also gehört es zur Rolle des Mäzens, Speise und Trank in bester Qualität zu bieten, gerne von Witz und Humor begleitet. Der Dichter aber muss als Dank die Muse anrufen und ein passendes Gedicht verfertigen, was Hudemann eben hier tut. Es stimmt also mit der Rolle des Dichters überein, sich zu entschuldigen, dass sein Talent nicht ausreichend groß ist, aber kaum, dass er den Freund nicht materiell belohnen kann. Als besonders untypisch mutet es an, dass das Ich sich ausmalt, welche opulente Speisen es selbst gerne bieten möchte.

Das Problem lässt sich mit einer anderen Interpretation der Syntax lösen. Die Passage lautet wie folgt:

Si grates tibi non Thalia nostra
[...]
Valet solvere debitas, ut usque
Optavi dapibusque poculisque
Optimis dapibusque poculisque,
Quod me magnificum tuis tuisque
Festivis salibus facetiisque
Nuper reddideras... (S. 54).

Wenn man den "quod"-Satz schon bei dem ersten "dapibusque" anfangen lässt, wird das erste "tuis" rückwärts zeigen und das "-que" bei dem anderen "tuis" zwei adverbiale Glieder gleichordnen, nämlich "dapibus tuis" und "tuis festivis salibus". Das führt zur folgenden Übersetzung:

Wenn meine Muse, die sich zwar dem Phoebus und den Grazien geweiht, doch bei Phoebus und den Grazien nicht allzu viel Beifall gefunden hat, dir nicht den schuldigen Dank zu erweisen vermag, wie ich dies ja stets zu tun wünschte, da Du mich neulich durch Speis' und Trank, durch Speis' und Trank in bester Qualität, und durch deinen heiteren Witz und deinen Humor reich beschenkt hattest: so sollst du dies deinem überaus gütigen Charakter zuschreiben...

Ich hätte mir also ein Komma nach "optavi" gewünscht. Dann sagt das Ich nur, dass es nicht, wie es stets wünschte, für Speise, Trank und Witz Dank zu erweisen vermag. Es war mir glücklicherweise möglich, in der Erstausgabe von 1625 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel das Gedicht nachzuschlagen, und wirklich: hier steht nicht nur ein Komma nach "optavi", sondern auch eines nach dem ersten "tuis"! Damit sei der Herausgeber gemahnt, die originale Kommasetzung neulateinischer Dichter nicht zu schnell abzufertigen.

Zusammenfassend möchte ich dieses unprätentiöse, aber gelehrte Buch so vielen Lesern wie möglich zur Belehrung und Unterhaltung empfehlen.


Prof. Dr. Minna Skafte Jensen
Syddansk Universitet Odense
Center for græsk-romerske Studier
Campusvej 55
Dk-5230 Odense
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Ins Netz gestellt am 10.03.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Gernot Michael Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


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