Joch über Komfort-Hein u. Luckscheiter: Epochenbruch und Volksglaube

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Markus Joch

Epochenbruch und Volksglaube

  • Susanne Komfort-Hein: Flaschenposten und kein Ende des Endes. 1968: Kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur (Reihe Litterae; 86) Freiburg: Rombach Verlag 2001, 376 S. Kart. EUR (D) 39,-.
    ISBN 3-7930-9273-9.
  • Roman Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung (Schriften zur Literaturwissenschaft; 16) Berlin: Duncker & Humblot 2001. 190 S. Kart. EUR (D) 49,-.
    ISBN 3-428-10359-9.


Über die literaturgeschichtliche Bedeutung von 1968 scheint sich auch die Generation der Töchter und Söhne wenig einig. Materialauswahl und Theorieorientierung dieser beiden Bände jedenfalls kontrastieren auffällig.

Susanne Komfort-Hein konzentriert sich im wesentlichen auf das Nachleben der Kritischen Theorie, die im Aufbruch von 1968 ihren Höhe- und Umschlagpunkt erlebt habe, um danach in den skeptischeren Momenten beerbt zu werden. Die Wenden von Hans Magnus Enzensberger geben dafür das Paradebeispiel ab. Roman Luckscheiter markiert das gleiche Datum als Durchbruch subkultureller Energie und fokussiert auf weniger kanonisierte Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann und Bernward Vesper, um bei ihnen nach Spuren beginnender Postmoderne zu suchen. Zu erwarten sind also komplementäre Informatorien und eine interessante Deutungskonkurrenz.

Spannungen zwischen beiden Zugängen sind tatsächlich beobachtbar, allerdings auch ein gewisses Qualitätsgefälle. Dies, weil wie bei den schweren Zeichen >1945< und >1989< auch bei dem von >1968< eine Epochenzäsurrhetorik nahe liegt, die sich hinterfragen oder nachsprechen läßt.

Flaschenposten rekonstruiert den Gegenstand >68< als einen Textraum heterogener Avantgarde-Diskurse, die im nachträglichen Dialog mit der Kulturkritik Theodor W. Adornos, dem Geschichtsverständnis Walter Benjamins und der Theorie der Momente Henri Levebvres stehen. Zwei Drittel der Arbeit kreisen um die Frage, zu welchen Zeitpunkten sich Enzensberger dem pessimistischeren Zungenschlag Adornos und wann dem etwas aktionistischeren Benjamins angeschlossen hat. Die sehr deutsche Perspektive erweitert sich mit Kap. III um eine französische. Berücksichtigt werden situationistische Theorie und Praxis in ihrem Verhältnis zu surrealistischen Anstößen der zwanziger Jahre.

Die titelstiftende Beobachtung, daß die kulturrevolutionäre Geste seinerzeit "mit der Suche nach einer im Faschismus verschütteten Geschichte korrespondiert, deren Archiv 1968 gleichsam als Flaschenpost geöffnet wird" (S. 15), leuchtet mit Blick auf den Absender ein. Adorno drängte sich das Bild einer ins Ungewisse entlassenen Botschaft als Chiffre seiner intellektuellen Lage in den vierziger und fünfziger Jahren auf. Faschismus, Restauration, amerikanische Kulturindustrie, Stalinismus: Der Erfahrungshorizont, gefaßt in den problematisch vereinheitlichenden Terminus der >verwalteten Welt< – der leider auch hier nicht problematisiert wird -–, ließ den Glauben an den dialektischen Materialismus schwinden. An seine Stelle trat ein Denken, das das Individuum zum verdichteten Erfahrungsort erklärte und jegliche Rede von einem Wir als "Komplizität mit dem Schlechten" ("Eingriffe") verabschiedete (bes. S. 128 ff.)

Da die Metapher der Flaschenpost das Moment von Isolation, von fraglicher, jedenfalls stets noch nachträglicher Rezeption festhielt, eignete sie sich auch für Celan, der damit die paradoxe Kommunikationssituation moderner Lyrik bezeichnete (S. 49 f). Es handelte sich um eine Denkfigur, die im kulturellen Text der Nachkriegszeit zirkulierte, ohne daß sich im nachhinein ein Urheber angeben ließe.

Repräsentanz

Warum für die kollektive Entzifferung der Botschaft das Werk des umstrittensten Meisterschüler Adornos stehen soll, verrät die Schlüsselstelle:

ganz grob [sind] drei Perspektivierungen zwischen Poesie und Politik bei Enzensberger zu unterscheiden. So wird das geduldige Festhalten am >Schmerz der Negation< und einer >verbarrikadierten Zukunft< in den Spuren Kritischer Theorie Adornos in Richtung eines operativen Literaturverständnisses und des emphatischen Glaubens an eine noch offene Geschichte verlassen, um schließlich mit der Forderung von >Bescheidenheit vor dem Unbekannten< gegen geschichtsphilosophische Hybris den Fortschritt als ebenso erfolgreiche wie auch fatale Fiktion abendländischer Geschichte zu verabschieden [...]. [...] In verdichteter Form lassen sich in Enzensbergers Texten hinsichtlich der Perspektivenwechsel symptomatische Denkfiguren für die poetisch-politischen Diskurse von 1968 wiederfinden. (S. 74 f.)

Die Repräsentanzbehauptung geht auf, soweit sie im analytischen Vollzug relativiert wird.

  1. Adornos Position, daß Literatur von Rang jeglicher politischer Funktionalisierung absagt und doch als widerständig sich bewährt, löste der Lyriker Enzensberger um 1960 ein, wenn er den Mitteln "subversiver Mimesis" vertraute (S. 46), das heißt den Jargon der fünfziger Jahre, eine durch den NS beschädigte Sprache, parodierte. Daß Werke wie verteidigung der wölfe und landessprache bei den zeitgenössischen Nonkonformisten (älteren wie Andersch, jüngeren wie Rühmkorf) eine begeisterte Aufnahme fanden, wäre freilich kaum möglich gewesen, wenn sie Frankfurter Vorgaben lediglich umgesetzt hätten. Entscheidend war eine Balance. Die Ablehnung ideologischer Dienstbarkeit ging mit einem polemischen Zeitbezug einher, der sich nicht allein von der monologischen Artistik Gottfried Benns distanzierte, sondern auch – das wäre einzuwenden – größeren Wert auf Transparenz legte, als Adorno zu konzedieren bereit war.
  2. Enzensberger, der 1968 wie viele andere unter dem Eindruck der Großen Koalition von einer reformerischen in eine revolutionäre Tonlage wechselte, verstand es, die tabula-rasa-Geste auf die Literatur zu übertragen. Wenn er das Reinheitsphantasma der Ästhetischen Theorie, wonach Kunst das richtige Leben nur als Leerstelle markieren kann, nun als politisch funktionslos verwarf und eine linksdokumentarische Literatur vorzog, so teilte er einen bei deutlich jüngeren Autoren wie Wallraff ebenso verbreiteten Pragmatisierungswunsch. Auch theoretisch vollzog er einen für die 68er typischen Schritt, aber eben früher als das nachrückende Hauptfeld (S. 138 ff.): Die Autorin begreift die mit kulturrevolutionärer Rhetorik aufgeladenen Entgrenzungsexperimente als einen für Jüngere musterhaften Rückgriff auf die Produktionsästhetik Benjamins, insbesondere auf den Kunstwerk-Aufsatz von 1936. Das leuchtet ein, da hier die Linie einer Ent-Auratisierung von Kunst bereits vorgezeichnet war. Hinzuzufügen wäre, daß sich die Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend intensiver noch auf Der Autor als Produzent und seine Forderung nach einer Vergesellschaftung von Literatur bezogen. Die Nachwirkungen dieses Textes werden allerdings später dokumentiert, wenn auch nur indirekt, am Beispiel einer handfesten Kollektivierungsgeste: der Entwicklung des Raubdrucks zum zeitweiligen Leitmedium der Studentenbewegung (S. 176 ff.)
  3. Der Untergang der Titanic dementierte nicht allein, wie es die Legende will, die Zukunftsvertraulichkeit des Marxismus. Das Versepos von 1978 unterschied sich von den Gemeinplätzen der späten siebziger Jahre, indem es dem elementareren und politisch unbestimmten Glauben an historische Null- oder Wendepunkte absagte. Da der Lyriker sich von der positiven Geschichtsteleologie abkehrte, ohne in eine negative (etwa der ökologischen Apokalypse) zu verfallen, genügte er letztlich wieder einem Anspruch Adornos: Kunst als das Nicht-Identische, das sich dem bündigen Begriff sperrt (S. 317 ff.).

Attraktion

Komfort-Heins Arbeit ist klug angelegt, weil sie eine spiralförmig verlaufende Werkgeschichte nicht einfach als die vertraute Geschichte einer Desillusionierung erzählt. Sie weiß auch zu erklären, warum Denkfiguren einer Kulturrevolution 1968 selbst einen abgeklärten Autorentypus wie Enzensberger anziehen konnten. Mit der Verdrängung des NS, der Entdeckung des Dissenter-Marxismus etc. läßt sich die zumindest vorübergehende Attraktion nicht hinreichend erklären. Hinzu kam ein kollektiver, aktionistischer, vor allem anti-akademischer Zug, der ein älteres Avantgardeprojekt aktualisierte. Die surrealistische Vision, die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben, beeinflußte schon Enzensbergers Gewährsmann Benjamin, wenn dieser die Erwartung an einen kontingent-diskontinuierlichen Moment der Geschichte formulierte (S. 153 ff.). In den sechziger Jahren aber erlebte der surrealistische Impuls eine regelrechte Renaissance. Das situationistische Programm einer zwischen künstlerischer Avantgarde und Sozialrevolution situierten Lebenskunst, vorgedacht in der spontaneistischen "Theorie der Momente", fand auch hierzulande etliche Anhänger, die die Entgrenzung des Literarischen (Manifest, Plakat, Flugblatt, Straßentheater) noch sehr viel weiter trieben als Enzensberger (S. 261 ff.). Daß letzterer auch in der >Kampfzeit< nicht auf den gediegenen Gedicht-Band bei Suhrkamp verzichten mochte, ist freilich die schwächere, weil bekannte Pointe.

Die eigentliche besteht in der ausgeprägten Selbstreflexion auch der radikaleren Aktivisten (S. 239 ff.). Die Mitglieder der Subversiven Aktion, eines deutschen Ablegers der Situationistischen Internationale, schrieben die avantgardistische Sehnsucht nach dem Authentischen fort. Und doch waren sie sich, weil an Musealisierung und Vermarktung des Surrealismus geschult, zumeist im klaren über die kommerzielle Vereinnahmbarkeit, mit der tabula-rasa-Gesten in einer massenmedial strukturierten "Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) zu rechnen haben. Die von Komfort-Hein recherchierten Fundstücke zeigen in einiger Deutlichkeit, daß die Radikalisierung der Beteiligten mit dem Wunsch zusammenhing, die Grenzen einer "wohldosierten Narrenfreiheit" auszuloten (S. 245, aus den Unverbindlichen Richtlinien von 1963).

Einleuchtend daher, daß sich die Autorin durchgehend reserviert zu jener Art Geschichtsschreibung äußert, die 1968 als Datum der Ent-Differenzierung moderner Hoch- und postmoderner Massenkultur auszeichnet (u.a. S. 150 f.): Die demokratische, ent-auratisierende Definition von Kunst, die Leslie A. Fiedler, der US-Kulturanthropologe, im gleichen Jahr als distinktes Merkmal der Pop-Kultur feiert ("The Case for Post-Modernism"), war integraler Bestandteil bereits des avantgardistischen Strangs der Moderne. An ihm wurde in den Sechzigern angeknüpft, nun allerdings verstärkt begleitet von selbstreflexiven Momenten. 1968, so das vorweggenommene, aber plausible Resümee, bezeichnet einen Schwellenort der Moderne, ein Neben-, nicht Nach- oder gar Gegeneinander: von kulturellem Aufbruch und dem Bewußtsein, daß er nur noch als historisches Zitat zu haben ist.

Selbstsimplifikation

Da die heuristische Konstruktion des Textraums erfaßt, welche Traditionen 1968 kulminieren und sich zugleich verschieben, erweist sich die Vorstellung eines einfachen Epochenbruchs als illusionär. Das entspricht einem Standard der Literaturgeschichtsschreibung, den man für geläufig halten sollte.

Einen prinzipiellen Zweifel am Erkenntniswert epochaler Zäsuren hat vor bereits 15 Jahren Wilfried Barner geäußert, als er zu bedenken gab, daß Epochenkonstruktionen sich weniger analytischen als literaturprogrammatischen Antrieben verdanken und die mit ihnen verbundenen Erneuerungserwartungen zur Übertreibung neigen. 1 Nicht daß sie gegenstandslos wären. Zäsursetzungen zählen, mit Niklas Luhmann zu sprechen, zu den "Selbstsimplifikationen" 2 sozialer Systeme, da sie übergehen, daß Einschnitte sich realiter als "Parallellauf von Diskontinuität und Kontinuität" 3 gestalten. Epocheneinteilungen sind "als eine Art Volksglauben der Intellektuellen" verständlich, "der sich bei näherem Zusehen in Nebel auflöst", 4 aber seit je Popularität besitzt, gerade weil er die Komplexität historischer Wirklichkeit gründlich reduziert. Bedürfte es eines Belegs, so liefert ihn auf eher unfreiwillige Weise Der postmoderne Impuls.

Die deutsche Nachkriegsliteratur, meint Roman Luckscheiter, ist leicht periodisierbar (Kap. A). Vor 1968 krankt sie am Elitismus und politmoralischen Anspruch der Gruppe 47, dann fliegt Fiedler ein und erklärt das postmoderne Zeitalter für eröffnet. Gemeint sind "Vorstöße in unentdeckte Bereiche" (S. 42): zum einen Erfahrungen und Experimente mit dem Innenleben – Drogenkonsum inbegriffen –, zum anderen die Aufwertung von Genres wie Sci-Fi, Western und Pornographie. Vom Bildungsbürgertum stigmatisiert, erklärt Fiedler sie für so subversiv wie egalitär. Die Formel "alle Formen stehen jedem jederzeit zur Verfügung", mit der Brinkmann die totale Freigabe des Literaturbegriffs unterstützt, nimmt der Autor als eine Art Mantra auf, das er nimmermüde wiederholt. Für die Umsetzung des Pop-Programms steht "Die Reise" von Vesper, der Kap. C vorbehalten bleibt.

Dieser letzte der drei Hauptabschnitte ist noch der beste, weil er die obsessiven Selbstbeschreibungen Vespers, seine eigentümliche LSD-Prosa und den Einfluß der >Beat Generation< vergleichsweise kenntnisreich, wenn auch arg unbeholfen beschreibt. Die ausufernden Paraphrasen und überlangen Zitatketten (häufig mehr als ein Dutzend "Ebd.s" auf einer Seite) werden durch das interessante, in der Forschung wenig beachtete Primärmaterial halbwegs aufgefangen.

Anders verhält es sich mit dem Axiom >Pop gleich postmodern<. Ihm liegt ein halbierter Begriff von Moderne zugrunde, der nur die >klassische< kennt, um eine Kontrastfolie zur >Postmoderne< zu schaffen: Thomas Mann und (!) die Gruppe 47 vs. Fiedler und Gefolge. Daß die Avantgarde der zwanziger Jahre ausgeblendet wird, weil sie ins Vorher-Nachher-Schema nicht recht paßt, hat kuriose Konsequenzen. Wer Vespers automatisches Schreiben als bahnbrechende Neuerung handelt (S. 165), muß von der écriture automatique natürlich schweigen. "Berlin Alexanderplatz" wird als "Bildungsbestand" des Autors erwähnt (S. 163), ohne daß sich der Gedanke einstellte, die Montagetechnik Döblins könnte in einer Beziehung zu den rasanten Schauplatzwechseln der "Reise" stehen, wenn nicht gar zum collagehaft-unlinearen Schreiben eines Brinkmann. Kaum besser steht es um die Analyse der Studentenbewegung. Einer ihrer charakteristischen Züge, "die freie Wahl ex-zentrischer Gruppenidentitäten", gilt als "typisch postmoderne Strategie" (S. 81). Das hätte, sagen wir, André Breton in Erstaunen versetzt.

Bisweilen beschleicht den Autor die Ahnung, sich beim Epochenschneiden geschnitten zu haben. Kap. B versucht sich an einem Exkurs zum "Verhältnis von Moderne und Postmoderne", allein, die kurze Erwägung einer "radikalisierten Moderne" (S. 71) bleibt folgenlos. Statt das Für und Wider der Präfixe "Spät" und "Post" zu diskutieren, taumelt Luckscheiter zwischen drei Dutzend Definitionen seines Fetischbegriffs, der schließlich zum umbrella term mutiert. Unter Postmoderne fallen, um nur eine Auswahl zu nennen, die "Ökokultur", die "homosexuelle Kultur", die "feministische Kultur", die "Metakultur", ein "Krankheitssystem gegenwärtiger Kultur" , ein "Unbehagen in der Kultur" sowie der "starke Einfluß der Kultur auf die Wahrnehmung der Außenrealität". Unverkennbar sind Tendenzen zur "Pluralisierung", freilich auch "Gegenbewegungen zur Pluralisierung", also "säkularisierte Gemeinschaftsideologeme" (S. 72 f.).

Denkwürdiger noch die These, daß 1968 ein völlig neuartiger, eben postmoderner Wunsch nach Selbstverwirklichung zutage tritt. Wenn nur diese Unübersichtlichkeiten nicht wären.

Da verwundert es, daß Thomas Luckmann schon 1963 die Beobachtung macht, daß die Selbstverwirklichung das vorherrschende Thema in Pädagogik und Philosophie sei. (S. 75)

Mit dem inflationären Begriffsgebrauch hat sich der Autor selbst ein Bein gestellt. Im krausen Sammelsurium droht ein triftiges Trennkriterium unterzugehen, das Luckscheiter gegen Ende erfaßt, wenn er die Zitathaftigkeit der "Reise" anspricht, den erklärten Rückgriff auf Mythen, auf Sagen, auf die Autobiographien von Revolutionären (S. 164). Daß Vesper auf Originalitätsansprüche verzichtete, unterschied ihn vom alternativen Strang der Moderne. Hier hätte sich eine letzte Gelegenheit geboten, moderne und postmoderne Elemente, Kontinuität und Diskontinuität, unaufgeregt abzuwägen. Hätte.

Rot-Weiß-Malerei

Das Luckscheitern in Epochenfragen wäre nicht weiter tragisch, hinge es nicht mit einer tieferliegenden Malaise zusammen, die im Vergleich zu Flaschenposten augenfällig wird.

Komfort-Hein bezieht ihr Leitmotiv der "Schwellenposition" wiederholt auf die Spannung zwischen einem Parteimarxismus, dessen Rede von klassenbedingter Determinierung den Handlungsspielraum des Einzelnen bagatellisierte, und Konzepten, die auf Aktion, Antiautorität und Lustgewinn zielten. Es war ein der Kritischen Theorie nahestehender Philosoph, der selbst seiner unorthodoxen Schule vorhielt, Phantasie und Lust zu vernachlässigen. Herbert Marcuse avancierte so zum Erfolgsautor. Seinen Schriften seit Triebstruktur und Gesellschaft kommt im Textraum die Funktion eines Scharniers zu. Die Neue Sensibilität wird im nachhinein als ein fließender Übergang zwischen Utopien kollektiver und individueller Emanzipation kenntlich (S. 227 ff).

Für solche Abstufungen hat Der postmoderne Impuls wenig Sinn. Er ordnet das gleiche Programm der Ganzheitlichkeit, der Spiritualität und dem dionysischen Denken zu, um es – durchaus einleuchtend – der "Ästhetischen Revolte" zu subsumieren (Kap. B, 2.). Nur wird das Ganze mit manichäischer Verve gegen Ansprüche politischer Egalität ausgespielt, gegen einen vom Beelzebub Rudi Dutschke verkörperten "Totalitarismus", der in einer "liberale(n), pluralistische(n) und ausdifferenzierten demokratische(n) Gesellschaft" ausgetrieben gehört (S. 119).

Daß die gratismutigen Attacken einer gewissen Dienstbeflissenheit geschuldet sind, 5 kaschiert der Autor nicht einmal; das mag man ihm zugute halten (S. 12, 61). Dennoch bleibt das Problem, daß der neoliberale Eifer nicht bemerkt, wie sehr er dem vulgärmarxistischen gleicht. Erkenntnissen zieht er Feindbilder vor. Er spricht vom "literarischen Feld um 1968" (S. 53) und meint einen sehr schlichten Gegensatz.

Hier der Dunkelmann Martin Walser, der es wagt, Fiedlers Rede als Geschäftsidee zu betrachten, und folglich als verbohrter Bildungsbürger im roten Gewande zu überführen ist (S. 42 ff.) Außerdem hat er ja den Eigensinn der Literatur verraten, weil ein Vorwort zu den Reportagen aus der Arbeitswelt verfaßt! Eine schlimme Sache, der Beweis für "selbstzerstörerische, rein handlungsorientierte Programme" (S. 171). Dort Brinkmann , der Wortführer einer de-hierarchisierten und autonomen Literatur, einer "Befreiung der Kreativität aus den Fesseln der politischen Revolutionsdiskurse" (ebd.). Mit der Beobachtung, daß der Acid -Herausgeber politische Rückbindungen kappte und darin ein selbstbewußter Angriff auf die (zweite) Generation der 47er steckte, liegt der Autor ganz richtig. Die identifikatorische Übernahme von Teilnehmerperspektiven aber sollte man vermeiden. Man übersieht sonst leicht, was literarische Felder zu kennzeichnen pflegt: Die "manifesten Konflikte zwischen Richtungen und Doktrinen verschleiern", was "den außenstehenden Beobachter frappiert":
"den Konsensus im Dissensus". 6

Hätte Luckscheiter bei der Beschreibung linksgewendeter 47er auch Enzensberger einbezogen, so hätte er vielleicht erkannt, was schon bei Walser sich abzeichnet. Auf die "Krise der Literatur um 1968", eine Relevanzkrise, reagierten die einen mit Gesten sozialer Gleichheit, bis hin zum Extrem, Autorschaft aufs Sammeln und Arrangieren von Arbeitertexten zu reduzieren (Der kurze Sommer der Anarchie). Der andere, Brinkmann, ebnete genauso entschlossen Gattungs- und Sujethierarchien ein.Es ging um konkurrierende Spielarten der Egalität, jener schönen Norm, die bei allen Beteiligten Episode blieb. Walser entdeckte sehr bald die deutsche Nation, Enzensberger die Freuden des Dichterkönigtums (Der fliegende Robert).

Und Brinkmann, der Heros der Egalität, der "unbefangener mit der Realität der Massendemokratie und der Problematik des Marktes umzugehen verstand" (S. 171)? Und damit die Literaturkrise "überwand", wie der Untertitel verspricht? Kaum in der Villa Massimo angekommen (November 1972), kultivierte er wie kein zweiter die Massenbeschimpfung, überdrüssig "des drohenden Ersticktwerdens durch die Vielen, eben den Durchschnitt". 7

Daß der Autor das unliebsame Faktum übergeht, überrascht gar nicht mehr, zeigt aber doch, daß sich negative Distinktionsgewinne steigern lassen.

Tradition

Von der Vorgeschichte der 68er weiß Luckscheiter soviel wie vom Danach. Die Kritischen Theoretiker, durchgehend aus zweiter Hand zitiert, finden sich als Vorläufer der Postmoderne wieder. Begründung: 1968 herrschte eine große Sinnkrise. Auf sie hat Benjamin eine frühe Antwort gegeben, konkret durch das "Erkennen und Durchbrechen der scheinhaften Zusammenhänge" (S. 58). Gut zu wissen.

Von geduldiger Festplatte zeugt auch der Umgang mit einem Autor, der als Verfechter literarischer Autonomie gelten kann; für den Autonomie und politische Kritik freilich keine Gegensätze waren; von dem man also nicht sprechen sollte, als habe er vernebelnder Erbaulichkeit das Wort geredet. "Das Ästhetische als Ort der Heilung ist ein Denkmuster, das vor allem von Adorno gepflegt worden ist" (S. 74): Spätestens bei diesem Satz, der auf einen Inneren Emigranten gemünzt sein könnte, fragt man sich, ob Luckscheiters Botschaften nicht einen anderen Titel verdient hätten. Nur daß Flaschenposten hier einen ganz neuen Sinn gewinnt.

Andererseits eignet der Arbeit eine Qualität, die Fiedler wohl geschätzt hätte. Sie ist nicht elitär.


Dr. Markus Joch
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für deutsche Literatur
Schützenstr. 21
D-10117 Berlin

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Anmerkungen

1 Wilfried Barner: Zum Problem der Epochenillusion. In: Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik; XII) München: Fink 1987, S. 517–529.   zurück

2 Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt / M. : Suhrkamp 1985, S. 25.   zurück

3 Niklas Luhmann (Anm. 2), S. 20.   zurück

4 Niklas Luhmann (Anm. 2), S. 26.   zurück

5 Die Grundlinie hat, ungleich nüchterner und ausgewogener, Helmuth Kiesel vorgegeben. Er vertritt die Auffassung, daß der Oppositionsgeist von 1968 vorwärtsweisend war, soweit seine Skepsis "nicht nur dem Machbarkeitswahn und den Freiheitsversprechungen des Kapitalismus, sondern auch dem Machbarkeitswahn und den Gleichheitsversprechungen der antikapitalistischen Utopien" galt: Literatur um 1968. Politischer Protest und postmoderner Impuls. In: Ralf Bentz u.a.: Protest! Literatur um 1968. Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar vom 9.5.–30.11.1998. Marbach, am Neckar 1998, S. 616.   zurück

6 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1974, S. 123. [Hervorhebung im Orig.]   zurück

7 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 264. [posthum erschienen]   zurück