Judersleben über Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955

Jörg Judersleben

In Hamburg ist noch ein Lehrstuhl frei.
Eine neue Arbeit über den Triumph der Durchschnittlichkeit

Kurzrezension zu
  • Christa Hempel-Küter: Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz (Literaturforschung). Berlin: Akademie Verlag 2000. 350 S. Kart. DM 98,-.
    ISBN 3-05-003472-6.


Neben Ulrich Pretzel ist Hans Pyritz (1905-1958) vielleicht der exponierteste jener Germanisten, die dafür sorgten, daß die philologische Tradition der "Berliner Schule" auch in der vierten Generation nach Karl Lachmann nicht abriß und namentlich an der Hamburger Universität eine Art Nachblüte erlebte.

Pyritz war Schüler von Gustav Roethe, an dessen Akademie-Projekten er mitwirkte, und von Julius Petersen, dessen diplomatisches Konzept einer Verbindung von Philologie und Geistesgeschichte er übernahm; er wurde 1942 Professor in Berlin, dort nach dem Krieg als vormaliges NSDAP-Mitglied von der Militäradministration entlassen und 1947, zunächst vertretungsweise, nach Hamburg berufen; er gehörte zahlreichen akademischen Gremien und Gesellschaften an, war kurzzeitig Herausgeber des "Euphorion" und galt zumindest unter den Zeitgenossen als ausgewiesener Goethe-Spezialist – Gründe genug für Christa Hempel-Küter, ihn in den Mittelpunkt eines Buches zu stellen, das freilich – wie bereits sein Titel unmißverständlich klarstellt – keineswegs nur das Profil eines erfolgreichen Gelehrten zeichnen will.

Gleich eingangs kritisiert die Autorin die rigide Aspektbezogenheit fachgeschichtlicher Arbeiten und kündigt an, was sie der Vielfalt isolierter Perspektiven entgegenzusetzen gedenkt:

Mit diesem hier vorgestellten, sozialgeschichtlich inspirierten, alltagsgeschichtlich orientierten, auf die komplexe Welt der Wissenschaft ausgerichteten Forschungsprojekt soll ein wissenschaftshistoriographischer Ansatz aufgezeigt werden, der [...] die Trennung zwischen institutioneller Fachgeschichte, Personengeschichte und konzeptioneller Wissenschaftsgeschichte auflöst und Vorschläge für eine Wissenschaftshistoriographie unterbreitet, die jenseits der engen Fächer- und Disziplingrenzen angesiedelt ist.(S. 17)

Daß sich Interdisziplinarität noch am ehesten im Alleingang verwirklichen läßt, weiß jeder, der sich einmal von der Ergebnisarmut interdisziplinärer Kolloquien überzeugen durfte, daß sie den einzelnen mit einem Höchstmaß an Schwierigkeiten konfrontiert, ebenso. Folglich ist man vor allem gespannt, ob Hempel-Küter diese Schwierigkeiten überwinden konnte.

Sie konnte es nicht, sie ist an ihnen gescheitert – und zwar aus dreierlei Gründen.

Die Schwierigkeit, Komplexität zu meistern

Erstens: Dem Buch fehlt es an kompositorischer Stringenz. Die von der Autorin angesprochenen Themenkreise werden zwar allesamt kurz beleuchtet, doch kaum systematisch aufeinander bezogen, so daß hier statt einer logisch durchgebildeten, durch ein klares Erkenntnisziel präformierten Abhandlung ein Konvolut mehr oder minder gelungener Exkurse vorliegt, das durch die Hauptfigur Pyritz eher schlecht als recht zusammengehalten wird.

Da Hempel-Küters Belegbasis begreiflicherweise zu dünn ist, um auf solider Vergleichsgrundlage beweiskräftige Induktionen zu ermöglichen, geht sie vom Allgemeinen aus – und bleibt allzuoft darin stecken. Das Eingangskapitel über die Sozialisation des akademischen Nachwuchses zwischen 1925 und 1945 enthält nicht nur keinerlei neue Gesichtspunkte, es versandet auch in Feststellungen von zweifelhaftem Erkenntniswert. So heißt es am Ende, der Nachwuchs habe sich nach 1933 "ohne größere Reibungsverluste" in die politischen Erwartungen eingefügt und sich obendrein "im Rahmen der individuellen Karriereplanung und -sicherung um vorteilsversprechende Arrangements mit den Verhältnissen" bemüht (S. 39f.).

Zum einen weiß man das bereits, zum anderen macht das der Nachwuchs nicht nur im Dritten Reich, sondern so gut wie immer so. Auch die besser geglückten Kapitel über die Hamburger Nachkriegsgermanistik belegen letztlich nichts weiter als das längst bekannte, in institutionellem Beharrungsvermögen und akademischem Nepotismus verankerte Streben nach personeller und konzeptioneller Kontinuität.

Dabei gelingt der Autorin gerade hier manche aufschlußreiche Detailstudie; ihre Rekonstruktion des "Falles Berendsohn" ist ebenso instruktiv wie ihre vielfarbige Darstellung des Universitätsalltags nach Kriegsende. Aber Derartiges läuft unverbunden nebeneinander her und wird auch nicht unter die Auspizien des historischen und wissenschaftsgeographischen Vergleichs gestellt. Wenn die Nachwuchssituation nach 1933 erörtert wird, warum nicht die nach 1945? Wenn stattdessen die Nachkriegsgermanistik in Hamburg ins Blickfeld rückt, warum nicht auch die an anderen deutschen Universitäten? Weil Hans Pyritz nun einmal älter geworden ist und 1947 nach Hamburg berufen wurde? Unter dramaturgischem Aspekt hätte es der Arbeit gutgetan, ganz bei Pyritz zu bleiben oder ganz auf eine Hauptfigur zu verzichten.

Die Schwierigkeit zu gewichten und zu beurteilen

Zweitens: Die Autorin referiert und zitiert auch dort, wo analysiert werden müßte. Seitenlang werden Aufsätze wiedergegeben, die den Dschungel elaborierter Traktate der völkisch-jungkonservativen Bewegungen um keinen Millimeter überragen, per se also kaum eine Fußnote wert sind und denn auch lediglich dazu dienen, den politischen Ort des Studenten Pyritz und seine Übereinstimmung mit dem Programm des "Bundes der Aufrechten" zu belegen (S. 61f.) – als würde man je einer Vereinigung angehören, deren Programm man ablehnt.

Auch das im ganzen lesenswerte Kapitel zum Goethe-Bild und zur Klassik-Konzeption des Professors Pyritz krankt an Ausführlichkeit am falschen Ort. Zum Beispiel stellt Hempel-Küter hier einem Vorlesungsmanuskript von 1943/44 einen Aufsatz von 1950 gegenüber und weist schlüssig nach, daß Pyritz zwar ein paar taktisch motivierte Umformulierungen vorgenommen hat, aber seiner Vorstellung von Goethes "gegenklassischer Wandlung" in jeder Hinsicht treu geblieben ist.Warum auch nicht? Wer vor 1945 der Ansicht war, daß die Sonne um die Erde kreist, wird dies auch danach noch geglaubt haben, und daß man selbst unter kommunistischer Herrschaft noch bis in die 1950er Jahre hinein im Fahrwasser der Geistesgeschichte flottieren konnte, zeigt das Beispiel Hermann August Korffs.

Zu Recht spricht Hempel-Küter denn auch von der "Ungleichzeitigkeit zwischen dynamischer politischer Entwicklung und der Beharrlichkeit wissenschaftlicher Programme" (S. 268); da sie daneben aber auch ein gewissermaßen hochmoralisches Erschrecken äußert, sei hier eine gleichfalls moralisierende Frage eingeschaltet: Ist es nun abstoßender, im festgeknüpften Sicherungsnetz alter Schule(n) und gedeckt durch eine notwendig pragmatische Hochschulpolitik sein altes Garn fortzuspinnen - oder einen "Lernprozeß" vorzutäuschen und die eigene Forschung für die vermeintlichen Bedürfnisse einer alsbald demokratisch konfessionalisierten Gesellschaft zurechtzuschneidern? Der Opportunismus hat viele Gesichter; den unseren aufzudecken, wollen wir gern späteren Generationen überlassen. (Der Widerstand gegen Hitler, hat Johannes Gross immerhin schon beobachtet, wächst von Tag zu Tag...)

Daß sich Hempel-Küter in ihrer Schlußbetrachtung vollends in die ausgetretenen Bahnen der Ideologiekritik zurückzieht (und, wie bereits im Eingangskapitel, den bornierten und seinerseits längst historischen "Links-Sengleaner" Jost Hermand als Autorität zitiert), ist ihr allerdings nur bedingt vorzuwerfen. Es sei die Vermutung gewagt, daß es sich hierbei um reine Verlegenheit handelt, um eine Verlegenheit, die unmittelbar mit dem geringen Eigengewicht des Hauptgegenstands ihrer Habilitationsschrift zusammenhängt: der dritten Ursache für deren Mißlingen.

Die Schwierigkeit, auf einer Glatze Locken zu drehen

Denn trotz der ambitiösen Ankündigung handelt das Buch ausführlich nur von Hans Pyritz, und Hans Pyritz hat kein eigenes Buch verdient. Nochmals: Dieser mäßig durchtriebene und mäßig skrupulöse Allerweltsgermanist, der seinem Fach weder neue Wege bahnte noch es auf einem der bereits gebahnten nennenswert voranbrachte, der weder als Wissenschaftsorganisator noch in der Kunst der akademischen Repräsentation sonderlich hervorstach und nicht einmal auf dem Gebiet der bösartigen Personalintrige Überdurchschnittliches leistete, hat kein eigenes Buch verdient!

Wohlverstanden: Wenn beispielsweise die Nachhut der nouvelle histoire zuletzt ihr Herz an den Alltag provenzalischer Bauern hängt und etwa einem beliebigen Charles-Henri aus der Regentenzeit eine akribische Lebensbeschreibung widmet, so setzt sie damit ihren jakobinischen Kontrapunkt zum Königsweg der politischen Historiographie und entwickelt überdies einen gewissen volkskundlichen Charme.

Wenn aber die germanistische Fachgeschichtsschreibung auf die Dörfer geht und Professor Hinz oder Privatdozent Doktor Kunz zum Gegenstand ambitionierter Monographien aufedelt, so zeugt dies bestenfalls von ärgerlichem Kleinmut, schlimmstenfalls vom Verlust der Fähigkeit, wissenswertes von nicht wissenswertem Wissen zu unterscheiden – "Betriebsblindheit" nennt man das dann wohl.

Man mag einwenden, daß hier eine schärfer vergleichende Perspektive signifikante Handlungs- und Einstellungsalternativen hätte erschließen können; daß Pyritz im Jahr der Gleichschaltung Paul Hankamer assistierte, ist eine keineswegs uninteressante Konstellation. Man mag ferner einwenden, daß sich Paradigmata nun einmal nur am Durchschnitt entwickeln lassen. Und schließlich mag man einwenden, daß jene von Hempel-Küter postulierte, wenn auch durch ihr Buch nicht wirklich eingelöste Verbindung von Institutionen-, Alltags- und konzeptioneller Fachgeschichte durchaus an einem Beispiel jenes Korsett aus wissenschaftsexternen Vorgaben und wissenschaftsinternen Indoktrinationen nachweisen könnte, in das eine akademische Vita normalerweise gezwängt ist.

Dennoch ist anzunehmen, daß auch bei einer derartigen Fokussierung der Erkenntnisgewinn in keinem sehr gesunden Verhältnis zum Arbeitsaufwand und zur verfügbaren Lebenszeit stehen würde. Und es ist ernstlich zu bezweifeln, daß einer brauchbaren wissenschaftsgeschichtlichen Gesamtdarstellung wirklich noch jene flächendeckende Unmenge an Einzel- und Detailstudien vorausgehen muß, die unablässig gefordert wird und am Ende zu allem möglichen, nur eben zu keiner brauchbaren Gesamtdarstellung führen dürfte.

Zumindest die so lange tonangebende Berliner Germanistik ist mittlerweile zwar nicht optimal, aber doch recht gründlich und unter recht verschiedenen Aspekten erforscht. Ein weiteres Buch in dieser Richtung müßte nicht, sagen wir, "Richard Kienasts Heidelberger Jahre", es könnte "Die >Berliner Schule< der Germanistik" heißen. Es muß eben nur geschrieben werden. Als Baustein zu einem solchen Unternehmen hätte auch Christa Hempel-Küters Arbeit ihre Berechtigung.


Dr. Jörg Judersleben
Kissingenstraße 41
D-13189 Berlin

Ins Netz gestellt am 29.05.2001

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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Hans-Harald Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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