Jürgens-Kirchhoff über Möbius: Montage und Collage

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Annegret Jürgens-Kirchhoff

Geschichte und Theorie der Collage / Montage
bis zum Ende der klassischen Moderne

  • Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000. 498 S. Kart. € 72,60
    ISBN 3-7705-3524-3


Über das >Prinzip Collage< ist in verschiedenen Disziplinen bis heute immer wieder nachgedacht worden. Dabei wurden Collage und Montage als ästhetische Verfahren in der Regel jeweils mit dem Blick auf die einzelnen Künste – Literatur, bildende Kunst, Fotografie, Film, Musik, Theater – untersucht, auch wenn die Tatsache, daß es sich hier um grenzüberschreitende Verfahren handelt, die Autoren nicht selten dazu bewog, in ihren theoretischen Anstrengungen über die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszugehen. So nahe es von der Sache her lag, Montage und Collage, die sich in den einzelnen Künsten zwar unterschiedlich, aber nicht unabhängig von den Nachbarkünsten entwickelten, im Gesamtsystem der Künste zu untersuchen, so schwierig mußte es auch erscheinen, einen interdisziplinären Ansatz mit der notwendigen Kompetenz auf einen Gegenstand anzuwenden, dessen unterschiedliche Begriffsbildung in den verschiedenen Disziplinen allein schon, wie Hanno Möbius im Vorwort seines hier besprochenen Buches zurecht betont, eine Herausforderung darstellt.

Möbius hat diese Herausforderung angenommen. In einer breit angelegten Untersuchung, die von der Literatur ausgeht und in den Bereichen Film und Theater einen weiteren Schwerpunkt hat, unternimmt er den Versuch, unter Berücksichtigung aller anderen Künste, in denen das Collage / Montage-Verfahren relevant wurde, den Transfer der Montage zwischen den Künsten zu verdeutlichen. Es geht dem Verfasser um eine überblicksdarstellung, die sich auf die historische Herausbildung des Begriffs Montage als Herausbildung eines spezifischen Verfahrens konzentriert. Ziel der Darstellung ist ein überblick, der sich nicht mit den bloßen Fakten begnügt und auch nicht damit, den Möglichkeiten der Montage in den einzelnen Künsten nachzugehen, sondern der vor allem die Grenzüberschreitungen der Collage / Montage zwischen den Künsten wie auch in Bezug auf den nicht-künstlerischen Alltag in den Blick nimmt. Das Forschungsinteresse der fast 500 Seiten umfassenden Untersuchung gilt also in besonderer Weise der Entwicklung der intermedialen Zusammenhänge und dem jeweiligen kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext, von dem Collage und Montage geprägt wurden und auf den sie selbst Einfluss nahmen.

Der Verfasser formuliert aber auch, wohl im Bewußtsein des hohen Anspruchs einer Untersuchung der Montage "im System der Künste" (S. 11), die Grenzen seines Vorhabens. Er sucht weder die kritische Auseinandersetzung mit den zahlreichen Abhandlungen zum Thema, da die sich daraus ergebenden Schwerpunkte seines Erachtens den Versuch einer Gesamtdarstellung beeinträchtigt hätten, noch ist ihm daran gelegen, in der Auseinandersetzung mit den Ansätzen der Forschungsliteratur deren Vielfalt gerecht zu werden. Daß daraus kein unkritischer Umgang mit den zentralen theoretischen Positionen zur Collage / Montage resultiert, läßt schon die Einleitung im Rekurs auf Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Peter Bürger u.a. erkennen. Möbius' Interesse gilt der historischen Entwicklung und intermedialen Verflechtung des Montage-Verfahrens und nur bedingt den Künstlern als Produzenten eines Gesamtwerks. Wo nach ihrem Beitrag zur Collage und Montage gefragt wird, wird das Gesamtwerk zwar nicht ausgeblendet, aber ihm kommt nur da besondere Aufmerksamkeit zu, wo es Einsichten in den Gebrauch des Verfahrens verspricht.

Die Gliederung des Buches folgt also nicht Autoren, sondern ordnet nach Material, Gattungen, Stilrichtungen und nach Typen von Montage. An der problematischen Gliederung nach Gattungen, die der grenzüberschreitenden Montage >im Prinzip< widerspricht, hält Möbius aus darstellungstechnischen Gründen fest; er relativiert sie jedoch durch andere Gliederungsaspekte und durch die Durchlässigkeit und Offenheit der einzelnen Gattungs-Kapitel.

Das gut vier Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis bleibt trotz seiner Länge übersichtlich und bietet dem Leser , der sich in einer komplexen Materie zurechtfinden muß, eine gute Orientierung. Der genaueren Analyse dienen 16 theoretische Kapitel, die Möbius fortlaufend jeweils im Kontext bestimmter Probleme und Fragestellungen in die verschiedenen Kapitel seiner Untersuchung eingefügt hat.

Konzentration auf literarische Montage

Daß Möbius' interdisziplinäres Interesse in einer Disziplin – und das ist in dem vorliegenden Fall die Literatur – ihren Ausgangspunkt hat, liegt nahe. Das eigene wissenschaftliche Terrain bleibt der sichere Ort, von dem aus in verschiedenen Richtungen und auf weniger gesichertem Gebiet geforscht werden soll. Das zeigt sich nicht nur in der Einleitung, die sich auf die literarische Montage konzentriert, sondern in der gesamten Arbeit. Die Kapitel über die verschiedenen Formen der literarischen Montage weisen die fundiertesten, umfassendsten und differenziertesten Untersuchungsergebnisse auf. Vergleichbar sind am ehesten noch die ausführlichen, kenntnisreichen Kapitel über Montage im Film. Dagegen enthalten die Ausführungen zur Collage und Montage in der bildenden Kunst kaum neue Einsichten. (Das in der Materialerfassung und Verdeutlichung des kunsthistorischen Kontextes sicher eindrucksvolle, theoretisch aber noch wenig entwickelte Buch von Herta Wescher aus dem Jahr 1968 genügt Möbius immer noch als "grundlegende Arbeit".)

Das Problem, daß sich ein einzelner Autor komplexer Zusammenhänge in verschiedenen Disziplinen nicht mit gleicher Kompetenz annehmen kann, zeigt sich hier bereits in der Einleitung. Das ist kein kritischer Einwand, der den Verfasser treffen soll; man muß sich an dieser Stelle nur fragen, ob die dem Gegenstand und dem interdisziplinären Vorhaben angemessene Form des Arbeitens noch die eines einzelnen Wissenschaftlers sein kann.

Definition der literarischen Montage in der Forschung

Am Ende der Einleitung findet sich das erste Theorie-Kapitel: "Die Definition der literarischen Montage in der Forschung als Ausgangspunkt der Untersuchung." Unter Bezug auf Viktor Zmegac, dessen Begriffsbestimmung der Montage / Collage Möbius für die bisher wichtigste und ausgreifendste hält, faßt er den in der Begriffsgeschichte erreichten Stand als Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung zusammen. Damit sind die unterschiedlich gut erforschten Problembereiche benannt, an denen sich Möbius' Versuch, Collage / Montage historisch, vergleichend und systematisch zu untersuchen, orientieren wird. Es handelt sich um zentrale Aspekte, die in den Collage / Montage-Debatten wiederholt aufgegriffen wurden und die heute als Elemente einer Theorie der Montage zur Verfügung stehen:

  1. Die Entwicklung der literarischen und auch der filmischen Montage beginnt am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die filmische Montage gilt als der Prototyp von Montage.
  2. Es gibt Phänomene, die sich als Vorläufer der Montage interpretieren lassen.
  3. Der Zusammenhang zwischen den Montageformen in den verschiedenen Künsten ist noch unbestimmt.
  4. Analogien zur Montage in der Technik bedürfen ebenfalls noch der genaueren Bestimmung.
  5. Da die Montage der traditionellen Einheit des Kunstwerks und entsprechenden künstlerischen Normen und Konventionen widerspricht, scheint sie über ein kritisches Potential zu verfügen, was aber durch den Gebrauch der Montage im italienischen Faschismus widerlegt erscheint.
  6. Das Verfahren der Montage verlangt vom Rezipienten eine verstärkte Aktivität; er soll die Bruchstücke synthetisieren, ohne eine neue Einheit herzustellen.

Daraus ergeben sich die Leitfragen der vorliegenden Untersuchung: Sie betreffen die filmische Montage als Prototyp, die intermedialen Zusammenhänge (Vergleich der Montageformen in der Literatur, in der bildenden Kunst, im Film, Theater etc.) und die Beziehungen zwischen künstlerischer Montage und außerkünstlerischen, dem modernen Alltag, insbesondere der Technik angehörenden Montagephänomenen.

Montage vor dem 20. Jahrhundert

Der Einleitung folgt ein etwa 80 Seiten umfassender Teil A "Montage vor dem 20. Jahrhundert" mit acht Kapiteln, die auf literarische und bildkünstlerische Vorformen der Montage, auf Collage und Montage in der Volkskunst und in den frühen kommerziellen Medien (Zeitung, frühe Fotografie) eingehen und die Montage vom Zitat, von Formen des Lachens (Satire, Groteske, Karikatur) und von weiteren künstlerischen Formen vor 1900 abgrenzen. In seiner historische, soziale und ästhetische Zusammenhänge berücksichtigenden Auseinandersetzung mit den Vorformen der Montage entwickelt Möbius ein weites, höchst informatives und anregendes Bezugsfeld, das es im folgenden erlaubt, dem komplexen Phänomen Collage / Montage in verschiedenen Richtungen nachzugehen und die jeweils aufgeworfenen Probleme von wechselnden Standorten auszuleuchten.

Besonders erhellend und spannend zu lesen ist Möbius' Darstellung des Einflusses, den realistische Erzählformen des 19. Jahrhunderts, z.B. Texte von Charles Dickens oder Gustave Flaubert, auf die Pioniere der filmischen Montage David Griffith und Sergej Eisenstein genommen haben. In der präzisen Darlegung der veränderten literarischen Darstellungsformen, die mit Parallelhandlungen, der Gleichzeitigkeit, Fragmentarisierung und Beschleunigung von Erzählsträngen, dem abrupten Wechsel von Nah und Fern, von Groß und Klein auf die neuen Erfahrungen vor allem der modernen Stadt reagieren, kann Möbius überzeugend zeigen, wie bestimmte in der Literatur zu beobachtende Darstellungsstrategien der Montage zuarbeiten und Vorformen ausbilden, die bereits erkennen lassen, aus welchen Quellen sich Collage und Montage speisen und welchen gesellschaftlichen und ästhetischen Zusammenhängen sich das neue ästhetische Verfahren verdankt.

Deutlich wird dabei – und dazu trägt Möbius' Untersuchung der Montagetheorie Eisensteins entscheidend bei –, daß der Film von bestimmten literarischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert wichtige Anregungen empfangen hat und dass die verbreitete Auffassung, die literarische Montage habe ihr Vorbild im Film, der Relativierung bedarf. Wie Möbius richtig hervorhebt, "gibt es ein gegenseitiges Geben und Nehmen, auch zu anderen Künsten, das näher zu untersuchen ist." (S. 32) Die intensive, kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der Collage / Montage vermittelt also bereits eine Vorstellung von der intermedialen Verflechtung und von der technischen Beeinflussung der Künste, die es wiederum erlaubt, das Aufkommen der Montage als einen Prozeß zu begreifen, in dem aus verschiedenen Vorformen schließlich Collage und Montage im engeren Sinne hervorgehen. Nicht nur in der Technikgeschichte, auch in den Künsten "kündigen sich die Neuerungen in den alten Techniken an und nicht erst in neuen Verfahren oder Instrumenten" (S.48).

Die Untersuchung der Vorformen der Montage vor dem 20. Jahrhundert ergibt, daß es keinen Prototyp der Montage gibt, daß das Verfahren der Montage vielmehr aus der Korrespondenz und wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Künste resultiert und als das Ergebnis einer medialen Verflechtung zu begreifen ist, in der Literatur und Film eine besondere Rolle spielen. Die Vorgeschichte der Montage erweist sich damit in Möbius' Untersuchung als erheblich komplizierter und in ihren verschiedenen Dimensionen aufschlussreicher als bisher angenommen.

Das letzte Kapitel des Abschnitts A zur Montage vor dem 20. Jahrhundert behandelt – zunächst nicht leicht nachvollziehbar, weil es sich hier nicht länger wie in allen anderen Kapiteln um symbolische Formen, um textliche und visuelle Repräsentationen handelt, – den menschlichen Organismus und Montage, die Prothesen in der Medizin und das Funktionieren von Automaten. Vermutlich soll dieses etwas angehängt wirkende kurze Kapitel abschließend noch einmal besonders auf die Herkunft des Begriffs Montage aus dem außerkünstlerischen Bereich aufmerksam machen. Jedenfalls sieht Möbius in den medizinischen Prothesen und den Auffassungen vom Körper als Maschine, die künstlerisch als Thema immer wieder aufgegriffen wurden, Montageformen, die mit der anthropologische Ausweitung der technischen Anwendung des Montage-Verfahrens zwischen den künstlerischen Montagen und den Montagen in der Technik angesiedelt sind. So gesehen, leuchtet das Kapitel "Menschlicher Organismus und Montage" an dieser Stelle ein. Gleichwohl könnte man fragen, ob es nicht besser im Abschnitt B "Die Montage in der Technik und in den Künsten" aufgehoben gewesen wäre. Hier hätten sich vermutlich interessante Beziehungen zu dem zentralen Aspekt dieses Abschnitts, zur Arbeitsteilung als Voraussetzung der Montage, ergeben.

Herkunft aus der industriellen Produktion
und Paradigmenwechsel in den künstlerischen Verfahren

So bleiben der Teil B über die "Montage in der Technik und in den Künsten" mit 13 Seiten und einer anspruchsvollen überschrift und der kaum längere Teil C "Paradigmenwechsel: Collage und Montage als künstlerische Verfahren" im Verhältnis zu Teil A und vor allem zu Teil D "Die Montage von 1900 bis zum Ende der Klassischen Moderne" (mit 319 Seiten der Hauptteil der Untersuchung) relativ kurze Abschnitte, die zumindest quantitativ in einem merkwürdigen Missverhältnis zum folgenden Teil D stehen. Warum hat Möbius die in den Abschnitten B und C behandelten Aspekte nicht in die großen Untersuchungsblöcke A "Montage vor dem 20. Jahrhundert" und D "Montage von 1910 bis zum Ende der klassischen Moderne" integriert?

Wohl um zunächst weitere Voraussetzungen für die Entwicklung der Montage im 20. Jahrhundert zu klären, hat er es vermutlich vorgezogen, die in B und C angesprochenen, noch in das 19. Jahrhundert reichenden Fragen der Montage in besonderen Abschnitten vorweg zu behandeln – in Teil B die "technische Mitgift des Begriffs" (S. 109), seine Herkunft aus der industriellen Produktion, besonders die Arbeitsteilung als Voraussetzung der Montage, in Teil C den daraus resultierenden Paradigmenwechsel in der künstlerischen Produktion und Kommunikation, Montage als Kritik an einer pontifikal auftretenden Kunst, die Aufkündigung konventioneller, vor allem illusionistischer, auf Ganzheit zielender Vorstellungen durch das Konstruktionsprinzip der Montage. (Aufschlussreich ist hier das bisher wenig bekannte Beispiel der "Inkohärenten", einer in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gegen den akademischen Kunst- und Kulturbetrieb revoltierenden französischen Gruppe von unkonventionellen Malern, Poeten, Musikern und Kabarettisten.)

Die beiden Teile haben sicher den Vorteil, den Leser auf die im folgenden Teil D behandelten Probleme vorzubereiten. Gleichwohl wirken sie an dieser Stelle im Vergleich zu dem material- und gedankenreichen Hauptteil der Untersuchung eher >dünn<. Zwar kommen hier die intermedialen Zusammenhänge, der kultur- und sozialgeschichtliche Kontext und die Herkunft der künstlerischen Montage aus dem nicht-künstlerischen Alltag, aus der Technik und der Sphäre der modernen materiellen (Fließband-) Produktion zur Sprache. Gemessen an dem hohen Anspruch, den Möbius mit den hier angesiedelten Fragestellungen verbindet, bleiben seine Ausführungen jedoch – auch wenn man sich die daran anknüpfenden überlegungen in Teil D vergegenwärtigt – an dieser Stelle eher enttäuschend. Was Möbius hier zum Zusammenhang von Montage und (außerkünstlerischer) Technik ausführt und was er als Paradigmenwechsel beschreibt, geht zurück auf bekannte Sachverhalte und Montagetheorien. Auf die "den Künsten bisher fremdartige Montage von Nicht-Künstlerischem" (S. 27), die Möbius einleitend als folgenreichen Bruch mit dem tradierten Verständnis von Kunst besonders hervorhebt, fällt kein neues, die Zusammenhänge erhellendes Licht.

Es ist ein bekanntes und sicher weiterhin nicht zu vernachlässigendes Faktum, dass es die Montage auch in der Technik und Industrie gibt, wo sie bestimmte moderne Fertigungstechniken, die Arbeit mit Fertigteilen, neuen Materialien und Kombinations- und Konstruktionsverfahren bezeichnet, die es erlauben, einzelne Elemente zu einem mehr oder weniger komplexen (Gebrauchs-) Gegenstand zusammenzusetzen. Wohl nie zuvor wurde ein Begriff in den Bereich der künstlerischen Theorie und Praxis eingeführt, der so eindeutig aus nicht-künstlerischen, alltagspraktischen Zusammenhängen stammt. Er findet sich, wie Möbius ausführt, außer im technisch-industriellen Bereich auch in der Medizin (Montage von Prothesen) und im Militärischen (als Montur, d.h. Kleidung bzw. Ausrüstung des Soldaten).

Es waren technikbegeisterte Künstler, wie Möbius richtig hervorhebt, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg den Begriff Montage auf ihre künstlerische Arbeit anwandten, um damit ein neues Verständnis von Kunst und ihren Protest gegen den traditionellen Kunst- und Kulturbetrieb zu formulieren. George Grosz und John Heartfield traten als >Monteure< in blauer Arbeitskleidung auf; als Dadaisten feierten sie unter der Parole "Die Kunst ist tot" die neue "Maschinenkunst" Vladimir Tatlins. Aber auch schon vor dem Ersten Weltkrieg collagierten und montierten in Frankreich, Italien und Russland Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten, wobei sich in Frankreich mit den kubistischen >papiers collés< eher der Begriff der Collage durchsetzte, während sich in Italien und Russland mit dem Interesse an den Sujets eines technisch geprägten modernen Lebens, an neuen künstlerischen Materialien und Funktionszusammenhängen wohl eher der Begriff der Montage anbot.

Gemeinsam war den unterschiedlichen Collagen / Montagen die Abgrenzung von traditionellen künstlerischen Formen und die Aufkündigung von bis dahin geltenden ästhetischen Normen und Verbindlichkeiten. Als ein allgemeiner, in vielen künstlerischen Bereichen unterschiedlich gebrauchter Begriff konnte, so Möbius, der Begriff Collage / Montage die Auffassung befördern, alles sei Montage bzw. Collage; es sei zu einem Gesamteindruck von Montage gekommen, der zwangsläufig diffus werden musste. "Doch trotz aller Differenzierungen und Filiationen in den einzelnen Künsten lässt sich eine Entwicklung zu dem Spezifischen der Montage und zu den Besonderheiten der Montage in den einzelnen Künsten nachvollziehen, bei dem die Merkmale sinnvoll zusammenhängen und beschreibbar sind." (S.18 f.)

An dieser Entwicklung waren in der Weimarer Republik, in einer Zeit, die für die Verfahren von Collage und Montage besonders fruchtbar war, vor allem die Künstler selbst beteiligt. Literaturwissenschaftler zeigten sich kaum interessiert; der Universitäts-Germanistik war nach Möbius die Montagekunst suspekt. Bis heute einflussreiche Montagetheorien wurden von Philosophen, Literatur- und Kulturkritikern und Schriftstellern wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht formuliert, deren Aufmerksamkeit nicht zufällig auch für die neuen Medien Fotografie und Film besonders geschärft war. Nachdem, so Möbius, der Nationalsozialismus die Montagekunst abgelehnt habe – eine Feststellung, die sich in dieser Form wohl kaum aufrechterhalten lässt – , war die künstlerische und literarische Entwicklung nach 1945 im Westen an Collage und Montage nicht interessiert. Sie wurden in die Rehabilitierung der modernen Kunst nicht einbezogen. In den Ländern des sozialistischen Realismus wurde die Montage zunächst als >formalistisch< abgelehnt. Erst in den 60er Jahren rückten mit neuen realistischen Tendenzen in Literatur und Kunst auch die mit der Montage verbundenen Fragen künstlerischer und literarischer Produktion wieder ins Blickfeld.

In den siebziger Jahren begann mit Peter Bürgers "Theorie der Avantgarde" (1974), in der Auseinandersetzung mit Benjamin und Brecht sowie Adornos 1970 erschienener "ästhetischer Theorie" eine systematische, kritische und theoretisch anspruchsvolle Debatte zu den Verfahren von Collage und Montage. Möbius stellt die verschiedenen Positionen vor, er nennt wichtige Autoren und charakterisiert einflussreiche Ansätze. Impulse zur interdisziplinären Ausweitung gingen nach Möbius von Herta Wescher (1968), Karl Riha (1971), Volker Klotz (1976), Max Faust (1977), Volker Hage (1981), Helmut Kreuzer (1982), Joachim Paech (1988) u.a. aus. Abschließend stellt er eine Reihe von Sammelbänden vor, die zum interdisziplinären Dialog beitrugen.

Die Beiträge zum Thema sind zahlreich und zeigen ein breites theoretisches Spektrum. Gleichwohl habe, so Möbius, das System der Wissenschaften mit seinen Abgrenzungen einen umfassenden und interdisziplinären Begriff der Montage bisher verhindert. übermäßig vorangetriebene Definitionsversuche einzelner Montagetypen, die zu sehr von einzelnen Belegen ausgingen (z.B. Volker Hage, 1984), hätten zur begrifflichen Unschärfe noch beigetragen. Möbius macht also die Definitionsversuche und die terminologischen Anstrengungen in den einzelnen Disziplinen dafür verantwortlich, dass es bis heute keinen entwickelten, verbindlichen Begriff von Montage gibt. Die Entwicklung hin zum Spezifischen der Montage verdanke sich interdisziplinären Anstrengungen, während die Konzentration auf einzelne Künste eine solche Entwicklung eher behindert habe.

Der erste Teil dieser Feststellung ist sicher richtig, der zweite Teil erscheint zumindest fragwürdig. Wie kann man sich eine Annäherung an das Spezifische der Montage vorstellen ohne die Differenzierungen in den einzelnen Künsten? Dass diese eine notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung für einen umfassenderen Begriff von Montage waren und sind, zeigt Möbius' Arbeit selbst. In seinem Bemühen, die Beziehungen zwischen den Gattungen zu verdeutlichen, tut Möbius über weite Strecken nichts anderes, als aufmerksam und präzise einzelne Montagetypen in den verschiedenen Künsten zu beschreiben und zu analysieren.

Montage von 1910 bis zum Ende der klassischen Moderne

Eindrucksvoll und für die weitere Auseinandersetzung mit Collage und Montage sicher aufschlussreich und weiterführend sind die Arbeitsergebnisse, die Möbius in Teil D – "Montage von 1910 bis zum Ende der klassischen Moderne" – vorstellt. In 12 unterschiedlich umfangreichen Kapiteln zur Montage in der bildenden Kunst (kubistische Collagen, Ready-mades, Dada-Montagen; Picasso, Duchamp, Man Ray, Hausmann, Schwitters u.a.) , in der Literatur (Lyrik, Drama, Erzählkunst; Apollinaire, Brecht, Joyce, Döblin u.a.), in der Musik (in der sich das Verfahren aus technischen Gründen erst Jahrzehnte später durchsetzt), in der Fotografie (dadaistische Fotocollagen und -montagen, die politischen Fotomontagen Heartfields), im Film (Eisensteins Montage-Konzepte und Theorien, Pudovkin, Vertov, Ruttmann), auf dem Theater (Brechts episches Theater, Piscators politisches Theater), im Kabarett und Varieté, im Hörspiel breitet Möbius eine immense Fülle von Material aus.

Möbius gibt einen breiten, detaillierten überblick, der eine nicht einfach zu überblickende Menge von Werken und Namen berücksichtigt, eine Vielzahl von Theorien und Interpretationen vorstellt, künstlerische und außerkünstlerische Prozesse verdeutlicht, in denen das ganze Spektrum der künstlerischen Montage aufscheint. Dass es hier intermediale Zusammenhänge gibt und einen Kontext, in dem Kunst und nicht-künstlerischer Alltag aufeinander Einfluss nehmen, ergibt sich allerdings weniger aus der vergleichenden Analyse als aus Möbius' Darstellungsweise, die selbst gewissermaßen montiert, wenn sie unterschiedliche Kapitel und Untersuchungsergebnisse so aufeinander folgen lässt, dass der Leser aufgefordert ist, Beziehungen zwischen ihnen herzustellen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Die Abfolge der Kapitel erscheint in der Regel einsichtig und überzeugend bis auf zwei Entscheidungen des Verfassers. Die eine betrifft den Schluss des Buches, den Abschnitt E "Ausblick: Montage im Faschismus und Nationalsozialismus", der vor die Frage stellt, ob das, was hier auf nur drei Seiten verhandelt wird, wirklich einen Ausblick ermöglicht und nicht eher den Blick verstellt für das kritische Potential und das Problem der politischen Instrumentalisierung der Montage. Es geht hier meines Erachtens um ein Problem, auf das entweder mehr Aufmerksamkeit hätte verwandt werden müssen, oder in dessen Konsequenz es gelegen hätte, in dieser Kürze darauf zu verzichten.

Die andere schwer nachvollziehbare Entscheidung des Verfassers betrifft die mitten in Teil D untergebrachte, im V. Kapitel über "Montagen von Text und Ton" unter "Theorie (12)" gleichsam >versteckte< Zusammenfassung der bisherigen Untersuchungsergebnisse zum "Grundmuster der Montage" (S. 277). Unter diesem Titel präsentiert Möbius in 15 Punkten Aspekte der Collage/Montage, die zusammen mit den "noch notwendigen und folgenden Erweiterungen [...] insgesamt das System der Montage" (S. 277) ergeben sollen. Die Zusammenfassung sei kein Katalog für die Bedingungen für die Montage, "sondern der Versuch, ihren intermedialen Zusammenhang und ihre Beziehung zum Außerkünstlerischen festzustellen." (S. 277), also das, was nach Möbius ihr "Grundmuster" ausmacht. Natürlich kann es sinnvoll sein, Zwischenergebnisse festzuhalten, aber um diese geht es hier offenbar nicht; es gibt auch keine weitere und weitergehende Zusammenfassung, weder am Ende von Teil D, noch im abschließenden Teil E. So bleibt die Frage: Warum eine Zusammenfassung an dieser Stelle, gleichsam auf halbem Wege?

Es folgen auf über 160 Seiten noch sieben weitere wichtige Kapitel zur Montage in Kabarett, Varieté und Revue, auf dem Theater, im Drama, im Stummfilm, für das Radio, in der Erzählkunst Thomas Manns und in der Erzählkunst von James Joyce, John Dos Passos, Alfred Döblin sowie in der "Brecht-Lukács-Debatte". Darauf zu bauen, dass der Leser selbst schon die Zusammenfassung durch die noch folgenden Untersuchungsergebnisse ergänzen werde, entwertet nicht zuletzt die noch folgenden Kapitel in ihrer Relevanz für eine genauere Bestimmung des Systems der Montage.

"Grundmuster der Montage"?

Davon abgesehen, wäre zu fragen, ob die hier zusammengefassten Untersuchungsergebnisse tatsächlich ein "Grundmuster" der Montage ergeben. Die meisten der insgesamt 15 Punkte kreisen direkt oder indirekt um das Montage-Material, d.h. um die für die künstlerische Montage als konstitutiv angesehene Verwendung von Fremdmaterial, in dem sich das Außerkünstlerische zu Wort meldet. Der Bruch, der Schnitt, die Unterbrechung charakterisieren, wie Möbius richtig und genau ausführt, ein Verfahren, das Materialien aus unterschiedlichen Kontexten kombiniert, diese in der Regel auf er einen Seite demontiert, einem bestimmten Kontext entnimmt, und auf der anderen Seite in einen anderen gegebenen Kontext einmontiert, der damit aufgebrochen wird und seine ursprüngliche Einheit und Geschlossenheit einbüßt. Was als neuer montierter Zusammenhang erscheint, ist als Einheit – wenn man überhaupt noch davon sprechen will – nicht länger homogen, wie unterschiedlich auch immer das Ergebnis der Montage ausfallen mag. Es kennzeichnet nach Möbius die "offene Montage", dass der Schnitt und die besonderen Eigenschaften des Fremdmaterials sichtbar bleiben und nicht kaschiert, angeglichen oder integriert werden, wie dies in von Möbius sogenannten "verdeckten Montagen" geschieht.

"Mit den Fremdmaterialien ziehen andere inhaltliche Aussagen sowie andere Standpunkte in das entstehende Werk ein." (S. 279) Mit ihnen ziehen auch Ungereimtheiten, Unvereinbarkeiten, Widersprüche in die künstlerische Arbeit ein. Polyvalenz kennzeichnet die offene Montage und ihre Affinität zu alltäglichen, außerkünstlerischen Gegenständen und Materialfragmenten, "die nicht bruchlos im neuen Zusammenhang aufgehen und sogar die Kausalität in Frage stellen" (S. 279). Das Verfahren der Collage / Montage erweise hier, so Möbius, seine eigentliche Sprengkraft. Das außerkünstlerische Fremdmaterial relativiert den Kunstcharakter des Werks; umgekehrt verfremdet und >nobilitiert< der künstlerische Kontext die fremden, dem außerkünstlerischen Bereich entstammenden Materialfragmente.

Die Künste geben mit der Integration von Alltagspartikeln der Tendenz nach ihren eigenständigen, abgrenzenden Charakter auf. (S. 288)

Das Verhältnis von Kunst und Realität verlange – darauf verweise die Doppelfunktion der montierten Fragmente als künstlerische und als außerkünstlerische Elemente – nach einer neuen Bestimmung.

Auch wenn sich nicht bestreiten lässt, dass die Frage des Materials für die Montage zentral ist, wäre doch zu fragen, ob sich ein "Grundmuster" oder gar ein verbindlicher interdisziplinärer Begriff von Montage so ausschließlich über das Material gewinnen lässt. Die Montagen im Film und in der Fotografie, die ohne Fremdmaterial auskommen und sich auf fotografisches bzw. filmisches Material beschränken, lassen sich ja nicht einfach den "verdeckten Montagen" zuordnen; an ihnen wird vielmehr deutlich, dass mehr noch als das der außerkünstlerischen Realität entnommene oder entfremdete Material der Schnitt, der Bruch, Unterbrechung und Konstruktion, der Verzicht auf Einheit und Homogenität das "Grundmuster" von Collage und Montage prägen und das Spezifische des ästhetischen Verfahrens ausmachen.

Fazit

Nimmt man am Ende das aus Möbius Zusammenfassung hervorgehende "Grundmuster" der künstlerischen Montage zusammen mit den noch folgenden "Erweiterungen" in den Blick, dann lässt sich sagen, dass Möbius zur Frage nach dem "System der Montage" und nach der Montage im "System der Künste" eine beeindruckende Fülle an Material und Kenntnissen, an theoretischen Bezügen, an Einsichten in Probleme und Entwicklungen zusammengetragen hat. Sie verdanken sich einem interdisziplinären Interesse, das in höchst differenzierter, fundierter und engagierter Weise den Blick öffnet für Zusammenhänge, in denen sich das Phänomen Montage als ein die Grenzen der Künste und der wissenschaftlichen Disziplinen überschreitendes Verfahren zu erkennen gibt.

Wer erwartet, dass die aufgezeigten intermedialen Zusammenhänge und die Beziehungen der künstlerischen Montage zur außerkünstlerischen Realität breit diskutiert und genauer analysiert werden, wird vielleicht enttäuscht sein; wer sich gründlich und umfassend informieren will und einen zuverlässigen überblick über die Geschichte und Theorie der Collage / Montage bis zum Ende der klassischen Moderne sucht, der wird in Möbius' Untersuchung ein interdisziplinäres, außerordentlich material- und gedankenreiches, übersichtlich organisiertes >Handbuch< zur Collage und Montage finden.

Offen bleibt die Frage nach einem übergreifenden, verbindlichen und interdisziplinären Begriff von Montage. Der Versuch, das Spezifische der Collage / Montage zu ermitteln, bekommt zwar vergleichend und analogisierend die Montageformen und -typen in den einzelnen Künsten in den Blick; deutlich werden auch Bezüge und Zusammenhänge und so etwas wie ein "Grundmuster" der Montage. Ihr Spezifisches lässt sich jedoch vermutlich nicht allgemein, sondern bestenfalls im besonderen der einzelnen Künste bestimmen, d.h. es gibt keinen Begriff von Montage, der von den historischen und medialen Besonderheiten des Verfahrens abstrahieren und sich als kunst- und fächerübergreifender Montage-Begriff etablieren könnte.

Hanno Möbius' Untersuchung selbst spricht meines Erachtens dafür, dass es in der Konsequenz von Collage und Montage liegt, deren Begriff offen zu halten und den Gedanken zu ertragen, dass es einen verbindlichen und verallgemeinerbaren Begriff von Collage / Montage nicht gibt.


Prof. Dr. Annegret Jürgens-Kirchhoff
Kunsthistorisches Institut
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D – 72070 Tübingen

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Ins Netz gestellt am 16.08.2002
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