Kaulen über Bokma: Benjamins Rezensionen pädagogischer Literatur

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Heinrich Kaulen

Fehlgeschlagenes Experiment
Ein Versuch, Benjamins
Pädagogik zu rekonstruieren

Kurzrezension zu
  • Horst Bokma: Das pädagogische Experiment des Schreibenden. Untersuchungen zu Walter Benjamins Rezensionen pädagogischer Literatur von 1924 bis 1932 (Europäische Hochschulschriften Reihe XI, Pädagogik; 814) Frankfurt / M. u.a.: Lang 2000. 148 S. Kart. € 27,60. [zugl. Univ. Frankfurt, Phil. Diss. 1999]
    ISBN 3-631-35956-X.


W. Benjamin und die Kinderkultur in der Weimarer Republik

Walter Benjamin hat sich seit seinen Anfängen in der Jugendbewegung immer wieder intensiv mit pädagogischen Fragen und Aspekten der Kinderkultur im umfassendsten Sinne auseinandergesetzt. Seine frühen Essays zu Erziehungsproblemen sind dafür ebenso ein Beleg wie etliche Rezensionen, die Rundfunksendungen für Kinder oder sein Programm eines proletarischen Kindertheaters (1929). Von einer Studie, die sich mit seiner Pädagogik befasst, sollte man erwarten, daß sie diesen Textkorpus in seinem ganzen Umfang berücksichtigt, mögliche konzeptionelle Verschiebungen analysiert und zudem die historischen und wissenschaftlichen Kontexte einbezieht, ohne die eine solche Rekonstruktion wenig sinnvoll erscheint, sei es nun die Reformpädagogik, die Jugendbewegung oder die proletarische Erziehungstheorie in der Weimarer Republik.

Leider wird die Dissertation von Horst Bokma diesen Ansprüchen nur ansatzweise gerecht. Die relativ schmale Untersuchung zieht lediglich in ihrem 4. Kapitel (S. 83–128) einige ausgewählte Rezensionen Benjamins zu pädagogischen Problemen heran und beleuchtet diese unter Prämissen, die durchaus umstritten und fragwürdig sind. Die anderen Kapitel verfolgen im Wesentlichen das Ziel, diese Prämissen zu begründen. Weder von den Kontexten noch von der Entwicklung des Benjaminschen Erziehungsdenkens ist näher die Rede. Manche einschlägigen Arbeiten, etwa die Rundfunkbeiträge oder die Überlegungen zum Kindertheater, werden nur beiläufig gestreift.

Schreiben als pädagogisches Experiment?

Die Hypothesen, auf denen die Studie von Bokma beruht, lassen sich so zusammenfassen: In Benjamins Werk gibt es Mitte der zwanziger Jahre eine scharfe Zäsur. Der Kritiker entwirft unter dem Einfluß Brechts eine Neubestimmung seiner Rolle als kritischer Intellektueller und organisiert von nun an sein Schreiben selbst als ein "pädagogisches Experiment", das weniger auf die Vermittlung von Einsichten über die jeweils behandelten Gegenstände als auf eine selbstreferentielle Demonstration des eigenen Denkprozesses ziele.

Keine dieser Aussagen kann in der Benjaminforschung auf allgemeine Zustimmung rechnen. Der Bruch, den es in Benjamins Biographie um 1924 / 25 nachweislich gegeben hat, wird durch die Kontinuitäten und Problemkonstanten seines Werks zumindest stark relativiert. Gerade der pädagogische Diskurs bleibt bei Benjamin bis zuletzt zweifellos von den Impulsen seiner Frühzeit geprägt. Brechts Einfluss darf ebenfalls, besonders für die Zeit vor 1929, nicht überschätzt werden. Und schließlich ist die These, Benjamin entfalte in all seinen Arbeiten lediglich eine verschlüsselte Selbstauslegung seiner eigenen intellektuellen Praxis, derart überpointiert, daß sie wesentliche Aspekte seines Schaffens kaum zu erfassen vermag. Wenn sie denn eine partielle Berechtigung besitzen sollte, so gilt sie für seine dezidiert pädagogischen Schriften jedenfalls noch am Wenigsten.

Die Aufgabe des Kritikers

Zunächst zeichnet der Verfasser in einem summarischen Abriß die Rezeptionsgeschichte des Pädagogen Benjamin seit den sechziger Jahren nach (Kap. I). Mit seiner Kritik an der Kontinuitätsthese (S. 21) bezieht er sich auf die Arbeiten von Schiavoni und Witte aus den siebziger Jahren; neuere Arbeiten der Forschung werden ignoriert. Zu Recht bemängelt er den häufig nur selektiven Zugriff der Forschung auf Benjamins Oeuvre, den er freilich mit seiner eigenen Arbeit leider ebenfalls fortsetzt.

Im zweiten Kapitel erläutert Bokma sein Verständnis der Benjaminschen Literaturkritik. Als deren Verfahrensweisen erkennt er die "Montage" und die "Technik des Zitats". Eine gründliche Auseinandersetzung mit Benjamins Theorie und Methodologie der Literaturkritik und den zahllosen Forschungsarbeiten dazu fehlt. Es ist viel zu einfach, in der Tätigkeit des Rezensenten Benjamin nur eine "Selbstreflexion der Intellektuellen" – also eine "Kritik für Literaten" (S. 44) – zu sehen, und es ist abwegig, die dabei entstehenden Texte "als Pendant zur Bühne" im Sinne des Brechtschen Lehrtheaters aufzufassen (S. 50) und dieses Konzept in einem weiteren Schritt überdies mit dem gänzlich anderen Modell des "pädagogischen Experiments" bei Richard Hönigswald zu verbinden (S. 77–80).

Das vierte Kapitel behandelt Benjamins Praxis als Rezensent pädagogischer Schriften, u.a. seine Besprechung von Hobreckers Darstellung Alte vergessene Kinderbücher, seine Äußerungen zu Spielzeug und Puppenspiel sowie seine Beschäftigung mit anderen Pädagogen von Pestalozzi bis Edwin Hoernle. Bokma zeigt, daß Benjamin in diesen Arbeiten mit philologischen Gepflogenheiten bisweilen recht unkonventionell umgeht und immer wieder bestimmte Denkfiguren – wie den Sammler, den Spieler, den destruktiven Charakter – akzentuiert, die oftmals eher für seine eigene Konzeption von Kindheit als für die der besprochenen Autoren relevant sind. Seine Rezensionen sind daher häufig komplexer, als man angesichts ihrer teilweise peripheren Gegenstände zunächst annehmen möchte.

Poststrukturalistische Sinndestruktion
in Benjamins Pädagogik?

So weit kann man den Beobachtungen des Verfassers durchaus folgen. Alles, was über diese Einsichten hinausgeht, verdankt sich indessen seinem fragwürdigen Hang zur Perspektivierung dieser Texte im Blick auf die Hypothese eines selbstreferentiellen pädagogischen Experiments, das auf esoterische Weise die verborgensten Implikationen des Benjaminschen Philosophierens ausspreche. Gewiß akzentuiert Benjamin manches eigenwillig und unkonventionell. Davon, daß sich die Aussagen etwa der Hobrecker-Rezension "hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht aufeinander beziehen" ließen (S. 91), daß hier vielmehr lediglich "doxale Sätze aneinander montiert" würden (S. 93) oder daß der Rezensent gar versuche, "das Schreiben in der Rolle des Kindes auszuüben" (S. 96), kann aber gewiß nicht die Rede sein. Benjamins funktionale Kritik zielt in dem hier betrachteten Zeitraum nicht auf eine subversive Sinndestruktion im Sinne poststrukturalistischer Ansätze, wie es Bokma, von Paul de Man u.a. inspiriert, unterstellt.

Ein selbstreferentielles Spiel, das unter der Maske der Besprechung fremder Ansichten lediglich das eigene Denkverfahren zur Anschauung bringen will, entdeckt Bokma auch in den meisten anderen Rezensionen – etwa bei der Behandlung von Gröbers Spielzeuggeschichte oder des historischen Werks von Max von Boehn über das Puppenspiel. So lautet sein Fazit:

In der Maske des >Kindes< zu schreiben heißt folglich, die Mächtigkeit von Sinnproduktion in der Wortsprache außer Kraft zu setzen, um die Differenz in der Einheit aus sich heraustreten zu lassen; es heißt Referenzen spielerisch zu vernichten, um Bedeutung an die Selbstreferenz des Sprachgebrauchs, nämlich an das sich äußernde Subjekt zu binden. Nicht anders als das spielende Kind inszeniert sich diese Art des Schreibens in seinem [sic!] Tun selbst (S. 126).

Während Benjamins Sprachstil seit Ende der zwanziger Jahre nach einem ebenso präzisen wie komplexen Lakonismus strebt, bleibt der seines Interpreten – leider nicht nur an dieser Stelle – in einem gelegentlich schwer zu ertragenden Wissenschaftsjargon befangen. Wäre es Benjamin tatsächlich nur um ein selbstreferentielles Spiel mit sprachlichen Signifikanten gegangen – er hätte kaum eine so makellose Prosa geschrieben, die selbst die Lektüre seiner kleinen Nebenarbeiten heute noch zu einem Vergnügen für den Leser werden läßt.


PD Dr. Heinrich Kaulen
Universität Essen
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Ins Netz gestellt am 09.09.2002
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