Kiefer über Esposito: Soziales Vergessen.

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Jens Kiefer

Das Vergessen der Gesellschaft

  • Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann (stw 1557) Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 416 S. Kart. 11,- EUR.
    ISBN 3-518-29157-2.


Gedächtnis als Untersuchungsgegenstand

Gedächtnis fungiert als einer der Schlüsselbegriffe der sich seit geraumer Zeit formierenden Kulturwissenschaften und gilt als Garant für eine fächerübergreifende Forschung. Denn die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung kann auf zuvor unverbundene Forschungstraditionen aus Soziologie, Philosophie, Kulturgeschichte, Literaturwissenschaft und Psychologie zurückgreifen. So spannend und vielfältig die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung dadurch auch ist, so bleibt doch methodologisch oft ungeklärt, worin das Verbindende von Identitätsdiskursen, Mnemotechnik, Kanonisierungsprozessen und textlichen Erinnerungsfiguren besteht. Diese begriffliche Unschärfe resultiert zum einen aus einem zu großen Bedürfnis nach Diskursverschmelzung, zum anderen aus einer Übernahme der auf Halbwachs bezugnehmenden Thesen von Jan Assmann zum kulturellen Gedächtnis, die nicht in Rechnung stellt, das dessen Analysen einer vormodernen Gesellschaft gewidmet waren. 1

Einer der interessantesten Ansätze, den Begriff Gedächtnis zu konkretisieren und konzeptualisieren, stammt aus der zeitgenössischen Soziologie. Soziologische Überlegungen zum Thema Gedächtnis stehen meist in der Tradition von Maurice Halbwachs und konzentrieren sich auf die identitätsstiftende Funktion kollektiver Erinnerung. 2 Elena Esposito, bekannt durch die Mitherausgabe des Luhmann Glossars, schließt jedoch mit ihrem Ansatz, Gedächtnis als gesellschaftliche Größe zu verstehen, nicht an die sich auf Halbwachs beziehende Forschungstradition an, sondern an Niklas Luhmann und die Systemtheorie. 3

Diese theoretische Vorentscheidung hat nicht nur für das theorieinterne Vokabular Konsequenzen, sondern auch für den Untersuchungsgegenstand selbst. Denn mit der systemtheoretischen Trennung von Bewusstsein und Kommunikation lässt sich ein soziales Gedächtnis nicht mehr in kollektiven Erinnerungen lokalisieren, sondern eben nur in Kommunikationen. Niklas Luhmann hat in mehreren Aufsätzen aufgezeigt, wie man sich ein solches Gedächtnis vorstellen kann und welche Funktion es für die Gesellschaft hat. 4 Während er noch in seinem frühen Theoriegrundriss Soziale Systeme davon ausgeht, dass Gedächtnis eine Zusatzleistung sozialer Systeme und für deren Autopoiesis nicht zwingend sei, verschiebt sich die Bedeutung des Gedächtnisses in seinen späteren Arbeiten. 5 In seinem späteren Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft schreibt Luhmann dem Gedächtnis schließlich eine wichtige Rolle bei der Informationsverarbeitung zu und widmet ihm ein eigenes Kapitel. 6

Espositos Buch ist somit eine konsequente Weiterführung einer Entwicklung innerhalb der Systemtheorie. Dementsprechend greift ihr Buch auch auf die bekannten Analysen Luhmanns zu Kultur als dem Gedächtnis der modernen Gesellschaft zurück, erweitert jedoch den Analyserahmen zeitlich. Während Luhmanns Theorie vor allem auf den signifikanten Umbruch der Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung konzentriert ist, analysiert Esposito detailliert die Erscheinungsformen des Gedächtnisses von frühen Hochkulturen bis zu den Auswirkungen des Computers auf das Gedächtnis.

Funktionen des Gedächtnisses

Wenn, wie bereits erwähnt, das soziale Gedächtnis nicht die Koordination individueller Bewusstseinsprozesse zur Herstellung kollektiv geteilter Erinnerungen übernimmt, was ist dann seine Aufgabe? Was genau heißt Erinnern und Vergessen auf gesellschaftlicher Ebene? Der systemtheoretische Vorschlag, Gedächtnis zu verstehen, bricht hier gleich mit zwei Allgemeinplätzen traditioneller Gedächtnistheorien. Zum einen wird Gedächtnis nicht als Beschäftigung mit der Vergangenheit aufgefasst, zum anderen wird betont, dass das Gedächtnis nicht mit Erinnern gleichgesetzt werden kann. Bereits der Titel von Espositos Studie verweist darauf, dass eben nicht das Erinnern, sondern das Vergessen die Hauptleistung des Gedächtnisses darstellt. Anstelle des Vergangenheitsbezugs setzt die Systemtheorie auf Selbstbeobachtung und Rekursivität. Das Gedächtnis hat nicht die Aufgabe Vergangenheit zu thematisieren, sondern die Gesellschaft zu beobachten und so eine Hintergrundfolie zu generieren, vor der Informationen gewonnen werden können.

Man kann mit Luhmann davon ausgehen, dass das Gedächtnis ein verkürzter Ausdruck für die Rekursivität von Operationen ist, die es erlaubt, jenseits des beständigen Fließens immer neuer Operationen, das festzuhalten, was sich wiederholt und deshalb erinnert wird, während alles andere dem Vergessen anheim fällt. Wiederholung erzeugt Redundanz und diese erspart es dem System, Informationen jedes mal von neuem zu elaborieren. [...] Das Gedächtnis ist nicht einfach ein "Vorrat an vergangenen Ereignissen", sondern in erster Linie die Organisation des Zugangs zu Information. (S. 24)

Ein solcher Gedächtnisbegriff zielt also nicht – wie die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung – auf Vergangenheitsbezüge etwa in Form von Denkmälern oder Feiertagen, sondern richtet sich auf eine viel allgemeinere Form der Sinnstiftung. Es geht vielmehr um die Frage, wie Kommunikationen durch Wiederholungen aufeinander Bezug nehmen und sich so Identitäten in Form von Themen, Erwartungen oder Semantiken etablieren. Gedächtnis entsteht mit der Aktualisierung eines Kontextes, vor dem Kommunikationen verstanden werden können. Dazu muss aber in erster Linie vergessen werden. Die Form wiederum, in der vergessen und erinnert wird, ist jedoch Evolution unterworfen.

Formen des Gedächtnisses

Esposito unterscheidet vier verschiedene Gedächtnistypen in ihrer historischen sich überlagernden Abfolge. Dies mag geübte Luhmann-Leser und Leserinnen zunächst erstaunen, rechnet man doch intuitiv damit, dass jedem Typus gesellschaftlicher Differenzierung (segmentär, stratifikatorisch und funktional) je ein spezifischer Gedächtnistyp zugeordnet werden kann.

Der segmentären Gesellschaft kommt in diesem Modell kein eigner Gedächtnistyp zu. Das kann jedoch nicht heißen, dass sie keine Form von Gedächtnis kennt, da die Gedächtnisfunktion zentral für die Informationsverarbeitung und somit für die Autopoiesis der Gesellschaft ist. Auch in segmentären Gesellschaften gibt es beobachtbare Beobachtungen und Redundanzen. Diese sind jedoch laut Esposito so selbstverständlich, dass sie nicht autonom beobachtet werden können.

Entscheidend für die Form des Gedächtnisses – und das ist eine der wichtigsten Thesen von Esposito – ist nicht die Form gesellschaftlicher Differenzierung, sondern die zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien. 7 Und hier lauert bereits die nächste Überraschung. Es ist nicht die Schrift als solche, die einem eigenen Gedächtnistypus generiert, sondern die alphabetische Schrift. Der erste Typ von Gedächtnis basiert auf der nicht-alphabethischen Schrift und wird von Esposito als das divinatorische Gedächtnis bezeichnet. Es wird abgelöst durch das auf der alphabetischen Schrift beruhende rhetorische Gedächtnis. Als Folge des Buchdrucks setzt sich im späten 18. Jahrhundert das moderne Gedächtnis als Kultur durch. Espositos These zufolge hängt der jeweilige Gedächtnistyp von der verfügbaren Massenmedien ab. Und so generiert auch der Computer eine eigene Form der Bearbeitung von Redundanz: das telematische Gedächtnis.

Das divinatorische Gedächtnis

In Gesellschaften, die über eine nicht-phonetische Schrift verfügen, bildet sich ein Gedächtnistypus heraus, den Esposito das divinatorische Gedächtnis nennt. Divinatorisch daher, da die Semantik dieser Gesellschaften an Divination und Weissagung geknüpft ist. Jan Assmann charakterisiert diese Gedächtnisform in seinem Nachwort als extrem abstraktionsarm und an die Sachdimension gebunden und vergleicht sie daher mit dem von Cassirer beschriebenem "Mythischen Denken". Die Schrift erfüllt in einer solchen Gesellschaft in erster Linie nicht-kommunikative Zwecke. Sie ist eine Art Gedächtnishilfe, die in den Praktiken der Weissagung und Verwaltung eine Rolle spielt.

Auf den qualitativen Unterschied zwischen alphabetischer und nicht-alphabetischer Schrift hat lange vor Esposito bereits Eric Havelock hingewiesen. 8 Die Differenz zwischen den beiden Schrifttypen liegt in ihrer Kontextgebundenheit bzw. -unabhängigkeit. Die nicht-alphabetische Schrift kann aufgrund ihrer Kontextgebundenheit dem Leser kaum Information mitteilen, die er noch nicht kannte. Die Möglichkeiten des Gedächtnisses, eine differenzierte Semantik auszubilden, sind somit limitiert. Zeitlich kann diese Gedächtnisform mit den frühen Hochkulturen Babylonien und Ägypten identifiziert werden.

Das rhetorische Gedächtnis

Das rhetorische Gedächtnis stellt sicherlich den Themenbereich Espositos dar, zu dem die meiste Forschungsarbeit vorliegt, denn das Thema Mnemotechnik ist sowohl unter kunstgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher als auch historischer und theologischer Perspektive bestens beleuchtet worden. 9 In Bezug auf die Darstellung und Interpretation des mnemotechnischen Verfahrens mit seinen imagines und loci kann Esposito daher nicht beanspruchen, neue Akzente zu setzen. Stattdessen rückt sie einmal mehr die Rolle der Schrift ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Denn mit der Etablierung der phonetischen Schrift ist erstmals die Möglichkeit gegeben, kontextfrei Informationen verfügbar zu machen und die Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem kann erstmalig reflektiert werden. Dadurch wird ein entscheidender Abstand zur Welt der Dinge ermöglicht, der im divinatorischen Gedächtnistypus noch nicht zu reflektieren war. Esposito beschreibt den Wandel zum rhetorischen Gedächtnis auch als eine Privilegierung der Sozialdimension im Gegensatz zur Betonung der Sachdimension des älteren Gedächtnistypus.

Eingebettet werden Espositos Thesen zur Verweltlichung des Gedächtnisses und der Entstehung des abstrakten Denkens in eine Neuinterpretation von Platons Phaidros. Sie liest Platons Text nicht als generelle Schriftkritik, sondern als Reflexion über die Form des Gedächtnisses bzw. die Erfindung der Alphabetsschrift. Mit Derrida unterscheidet sie zwischen hypomnesis, der Erinnerung, die auf Stützen, d.h. Aide–mémoire, beruht und mnémè, der lebendigen, in die Seele eingeschriebenen Erinnerung. Platons Kritik an der Schrift, sie unterstützte nur das Vergessen, da sie nicht in der Seele erinnert, sondern mit Hilfsmitteln Abwesendes wiederholt, wird nun von Esposito auf die Unterscheidung zwischen alphabetischer und nicht-alphabethische Schrift vor dem Hintergrund eines divinatorischen Weltbildes bezogen. Vor diesem Hintergrund erscheint nur die neue, alphabetische Schrift als schlechter Schriftgebrauch. "Platon gemäß müsste man auch die neue Schriftart wie die vorangegangene, nicht-alphabetische Schrift verwenden – indem man sie dem Kontext unterordnet und so der Illusion der Unabhängigkeit nicht nachgibt." (S. 142) Jan Assmann weist in seinem kritischen und sehr hilfreichen Nachwort darauf hin, dass sich der Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wort- und Dingschrift in Deutungen des Phaidros bereits bei Giordano Bruno und William Warburton findet.

Kultur als Gedächtnis

Mit dem Übergang zur Moderne betritt Esposito klassischen Boden der Systemtheorie, denn genau auf diesen Umbruch von einer stratifikatorischer Gesellschaftsdifferenzierung zu einer funktionalen zielen die meisten systemtheoretischen Analysen. Hier kann sich Espositos Arbeit an die Vorarbeiten Luhmanns zu Kultur als Gedächtnis anlehnen und dabei zugleich eigene Akzente setzen. Entscheidend für den Wandel des Gedächtnisses – so die These – ist jedoch nicht primär die gesellschaftliche Umstellung, sondern die Durchsetzung des Buchdrucks, die einem enormen Wissenszuwachs und Erkenntnisinteresse Vorschub leistet.

Die Durchsetzung des Buchdrucks und die allmähliche Etablierung eines Systems der Massenmedien setzen erstmals massenwirksam eine Form von Kommunikation durch, die durch Asymmetrie und Anonymität gekennzeichnet ist. Ab jetzt findet ein immer größer werdender Teil gesellschaftlicher Kommunikation nicht mehr in Interaktion unter Anwesenden statt, sondern massenmedial vermittelt und in Sender- und Empfänger- Rollen unterteilt. Das hat Folgen für die Kommunikation:

Der Sender ist für den Empfänger unzugänglich und umgekehrt. Wie auch schon Platon beobachtet hatte, bleibt das Geschriebene gegenüber Klärungsbedarf stumm und wiederholt allemal immer wieder das Gleiche, so dass der Leser den Sinn der Kommunikation mit anderen Mitteln erfahren muss. Auch wer schreibt, muss auf andere Art ersetzen, was ihm an Information abhanden kommt, die er zuvor aus dem Verhalten der Zuhörer hätte gewinnen können. (S. 192)

Dies führt zu einer Umstellung der Kommunikation auf eine Beobachtung zweiter Ordnung, sowohl was den Produktions- als auch was den Rezeptionsprozess betrifft. Für den Sender, der seinen Empfänger nicht kennt, stellt sich die Frage, wie er verstanden werden kann. Er ist daher gezwungen, einen Modell-Leser in den Text einzubauen, anhand dessen beobachtet werden kann, wie er selbst beobachtet hat. Hier treffen sich soziologische Überlegungen mit literaturtheoretischen Theorien zum impliziten Leser und impliziten Autor. Der Leser fragt nicht mehr nur, was der Text vermittelt, sondern gewinnt ebenso aus dem Wie, d.h. aus dem Mitteilungsaspekt der Äußerung, Information. Die Form der massenmedialen Kommunikation zwingt also zur Durchsetzung von Beobachtungen von Beobachtern – hier sind wir bei der koevoltionären Entdeckung von Individualität und Kultur angelangt. Denn die Beobachtung von Beobachtern zeigt zum einen die Singularität jeder Beobachtung auf, zum anderen lädt sie zu deren Vergleich ein. "Nur durch die Beobachtung von Beobachtern entdeckt man [...] die Besonderheit ihrer Perspektive; und diese Entdeckung basiert auf dem Vergleich und nicht auf der Wiederholung." (S. 250)

Das moderne Gedächtnis, das als Kultur beschrieben werden kann und auf dem System der Massenmedien beruht, ersetzt somit das System der Rhetorik und dessen Form der möglichst identischen Wiederholung durch die Form des Vergleichs. An die Stelle der Wiederholung von Topoi tritt der Vergleich unterschiedlicher Perspektiven und an die Stelle des Primats der Erinnerung tritt das Primat des Vergessens. Denn damit Kommunikationen unter einer bestimmten Perspektive miteinander verglichen und erinnert werden können, muss eine unzählige Menge anderer Aspekte ausgeblendet und vergessen werden. Esposito beschreibt die moderne Form des Gedächtnisses, das nicht mehr als Speicher fungiert, daher als ein Archiv, das die Aufgabe hat "möglichst wirkungsvoll und schnell zu vergessen – mit einem entsprechenden Zuwachs der Fähigkeit zu erinnern." (S. 258)

Das telematische Gedächtnis

Während Espositos Thesen zum rhetorischen Gedächtnis und zum Gedächtnis der Kultur weitgehend verständlich und an bekannte Forschungstraditionen angelehnt sind, betritt sie mit ihrer These eines telematischen Gedächtnisses unsicheren Boden. Das liegt weder daran, dass sie Luhmanns Skepsis dem Begriff Postmoderne gegenüber nicht zu teilen scheint und von einem postmodernen Gedächtnis spricht, noch liegt es daran, dass die Vorstellung eines speziellen, dem Netz angepassten Gedächtnismodus nicht nachvollziehbar sei.

Problematisch erscheint eher die Tatsache der doppelten Argumentation. Zum einen wird der neue Gedächtnistypus durch das neue Medium Computer erklärt, zum anderen dient die Entstehung nicht mehr integrierbarer, funktionsspezifischer und medienspezifischer Gedächtnisse als Argument für die Ungültigkeit des Kulturmodells. Die Frage, ob Kultur sich nur aus den einzelnen Systemgedächtnissen speist oder wie man sich das Verhältnis zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Gedächtnis und den Systemgedächtnissen vorstellen soll, scheint Luhmann nicht geklärt zu haben.

Espositos Argument, Kultur könne die systemspezifischen Gedächtnisse nicht mehr integrieren, überzeugt jedoch aus zwei Gründen nicht. Erstens lassen sich die systemspezifischen Gedächtnisse nicht erst in der Postmoderne, sondern bereits mit Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung beobachten. Auch das Kunstsystem benötigt seit seiner Ausdifferenzierung eine Gedächtnisleistung, um seine Autopoiesis gewährleisten zu können. Zweitens ist Kultur eine Beobachtungsperspektive und keine Programmvorgabe, d.h. alle Kommunikationen lassen sich unter Vergleichsperspektive unter Kultur subsumieren. Die Perspektive Kultur bietet zwar Integrationsmöglichkeit, jedoch keinen Einschluss für alle. Es hängt von der jeweiligen Beobachtungsperspektive ab, ob man sich einer Kultur als zugehörig betrachtet oder nicht. Und tut man es nicht, lässt sich diese Beobachtung dennoch in einer nächsten Beobachtung als Kulturleistung beschreiben.

Das Neue des am Netz orientierten telematischen Gedächtnisses sieht Esposito in der Umstellung von einer Beobachtung zweiter Ordnung auf eine Beobachtung dritter Ordnung – einer Tendenz, die nicht radikal mit der Moderne bricht, sondern deren Traditionen und Charakteristika radikalisiert. Die Differenz zwischen Beobachtung zweiter und dritter Ordnung zeigt sich in der Inklusion des Beobachters. Diese Inklusion des Beobachters soll in einem Raum totaler Kontingenz Anhaltspunkte schaffen und für die Rationalität des Beobachteten bürgen.

Beispiele für die Thematisierung des eigenen Beobachtens lassen sich viele finden, etwa die Writing Culture – Debatte in der Ethnographie. Esposito verweist auf den postmodernen Roman, der den Autor der Fiktion häufig metaleptisch integriert. Aber gerade dieses Beispiel kann nur bedingt überzeugen. Zum einen ist die Inklusion des Autors ein Stilmittel, das schon wieder fast überwunden scheint. Zum anderen ist der Effekt, der daraus erzielt wird, eben oft nicht Orientierung, sondern die Steigerung der Verwirrung des Lesers.

Espositos These der Invalidität des Kulturmodells ist trotz der von ihr aufgezeigten Tendenzen nicht überzeugend, da ein Großteil ihrer Beschreibungen des telematischen Gedächtnisses noch immer auch vom Modell der Kultur abgedeckt werden. Die These von der Ersetzung des statischen Modells der Aufbewahrung durch ein dynamisches Modell der Konstruktion etwa, beschreibt ja eben den Wechsel von Rhetorik zum Vergleich. Ebenso wenig überzeugend wirkt ihr Beispiel der Suchmaschinen. "In diesem Sinne erzeugen die search engines Erinnerungen, die allerdings zuvor noch nie gedacht worden sind und lediglich das Produkt der kontextbezogenen Befehle des Anwenders sind [...]." (S. 358) Genau wie im Kulturmodell werden hier Erinnerungen hergestellt, die es zuvor nicht gab, die Suchmaschinen unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von der Technik des Vergleichens. Zugenommen hat zwar die Vergessensmenge, aber die Inklusion des Beobachters scheint nicht deutlicher auszufallen und nicht weniger Kontingenz zu erzeugen als in der kulturellen Vergleichstechnik. Denn das Suchergebnis erschreckt meist mit seiner Kontingenz und seinem Mangel an Orientierungshilfe.

Abschluss & Anschluss

Stärke und Schwäche von Espositos Projekt einer historisierenden Soziologie resultieren aus dem hohen Grad an Komplexität, der dem Leser / der Leserin zugemutet wird. Es schleicht sich eine ähnliche Erfahrung wie bei der Lektüre Luhmanns ein: die Gefahr des scheiternden Nachvollzugs der abstrakten Theorie am konkreten Beispiel. Kaum ein Leser ist in literaturwissenschaftlichen, soziologischen, philosophischen, und religionsethnologischen Diskursen gleichzeitig beheimatet, um die beschriebenen Transformationen vollständig nachvollziehen zu können.

Unter einer einzelnen fachspezifischen Perspektive lassen sich jedoch interessante Anschlussmöglichkeiten finden, die für die eigene Disziplin fruchtbar gemacht werden könnten. Aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel lässt sich etwa aus Espositos Buch eine Fiktionalitätstheorie destillieren, die einen historischen Bogen von der Entstehung des Romans zur virtuellen Realität des Netzes spannt. Außerdem finden sich Ansätze einer historischen Narratologie. In diese Richtung weisen sowohl ihre Ausführungen zur Inklusion des Beobachters wie Überlegungen zur Zeit und Handlungsstruktur im modernen Roman.

Ob sich Espositos Buch in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdebatte so durchsetzen kann, wie es dies verdient, bleibt fraglich. Denn eine systemtheoretisch fundierte Kulturreflexion erscheint zwar attraktiv, ihre Sperrigkeit und theoriebedingte Leseunfreundlichkeit stehen ihrer breiten Rezeption jedoch im Wege.


Jens Kiefer
Universität Hamburg
Forschergruppe Narratologie
Edmund-Siemers-Allee 1
DE - 20146 Hamburg

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Ins Netz gestellt am 16.10.2002
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Anmerkungen

1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1997.    zurück

2 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt / M.: Fischer 1985.   zurück

3 Schon vor Elena Esposito hat bereits Dirk Baecker in einigen Aufsätzen Luhmanns Überlegungen zu Kultur als gesellschaftlichem Gedächtnis weitergeführt. Wie Luhmann konzentriert er sich dabei weitgehend auf die Moderne und beschreibt vor allem die Auswirkungen des Gedächtnisses als Vergleichsmechanismus in der Sozialdimension.
Vgl. dazu: Dirk Baecker. Wozu Kultur? Berlin: Kulturverlag, Kadmos 2000.
(Dazu die Rezension von Mirjam-Kerstin Holl in IASLonline
http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/holl.html).
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4 Niklas Luhmann: Zeit und Gedächtnis In: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologie; 2:2 (1996). S. 307–330 und Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996. S. 31–54.   zurück

5 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1984.   zurück

6 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1997.   zurück

7 Der Begriff Medium taucht in der Systemtheorie zweimal auf, einmal als eine Seite der Form / Medium Unterscheidung und einmal im Sinne der Verbreitungsmedien (Buchdruck, Schrift...). Espositos Verwendung des Begriffs Medium bezieht sich auf diesen zweiten Aspekt.   zurück

8 Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1990.    zurück

9 Vgl. etwa Frances Yates: The Art of Memory. Chicago: Chicago University Press 1974; oder zum literaturwissenschaftlichen Diskurs Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1990.   zurück