- Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des
Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann (stw 1557) Frankfurt am Main: Suhrkamp
2002. 416 S. Kart. 11,- EUR.
ISBN 3-518-29157-2.
Gedächtnis als Untersuchungsgegenstand
Gedächtnis fungiert als einer der Schlüsselbegriffe der sich
seit geraumer Zeit formierenden Kulturwissenschaften und gilt als Garant für eine
fächerübergreifende Forschung. Denn die kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung kann auf zuvor unverbundene Forschungstraditionen aus
Soziologie, Philosophie, Kulturgeschichte, Literaturwissenschaft und Psychologie
zurückgreifen. So spannend und vielfältig die kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung dadurch auch ist, so bleibt doch methodologisch oft
ungeklärt, worin das Verbindende von Identitätsdiskursen, Mnemotechnik,
Kanonisierungsprozessen und textlichen Erinnerungsfiguren besteht. Diese begriffliche Unschärfe resultiert zum einen aus einem zu
großen Bedürfnis nach Diskursverschmelzung, zum anderen aus einer
Übernahme der auf Halbwachs bezugnehmenden Thesen von Jan Assmann zum
kulturellen Gedächtnis, die nicht in Rechnung stellt, das dessen Analysen einer
vormodernen Gesellschaft gewidmet waren. 1
Einer der interessantesten Ansätze, den Begriff Gedächtnis zu
konkretisieren und konzeptualisieren, stammt aus der zeitgenössischen Soziologie. Soziologische Überlegungen zum Thema Gedächtnis
stehen meist in der Tradition von Maurice Halbwachs und konzentrieren sich auf die
identitätsstiftende Funktion kollektiver Erinnerung. 2 Elena Esposito, bekannt durch die
Mitherausgabe des Luhmann Glossars, schließt jedoch mit ihrem Ansatz,
Gedächtnis als gesellschaftliche Größe zu verstehen, nicht an die sich auf
Halbwachs beziehende Forschungstradition an, sondern an Niklas Luhmann und die
Systemtheorie. 3
Diese theoretische Vorentscheidung hat nicht nur für das
theorieinterne Vokabular Konsequenzen, sondern auch für den
Untersuchungsgegenstand selbst. Denn mit der systemtheoretischen Trennung von
Bewusstsein und Kommunikation lässt sich ein soziales Gedächtnis nicht mehr
in kollektiven Erinnerungen lokalisieren, sondern eben nur in Kommunikationen. Niklas Luhmann hat in mehreren Aufsätzen aufgezeigt, wie man
sich ein solches Gedächtnis vorstellen kann und welche Funktion es für die
Gesellschaft hat. 4
Während er noch in seinem frühen Theoriegrundriss Soziale Systeme
davon ausgeht, dass Gedächtnis eine Zusatzleistung sozialer Systeme und für
deren Autopoiesis nicht zwingend sei, verschiebt sich die Bedeutung des Gedächtnisses
in seinen späteren Arbeiten. 5 In seinem späteren Hauptwerk Die Gesellschaft der
Gesellschaft schreibt Luhmann dem Gedächtnis schließlich eine wichtige
Rolle bei der Informationsverarbeitung zu und widmet ihm ein eigenes Kapitel. 6
Espositos Buch ist somit eine konsequente Weiterführung einer
Entwicklung innerhalb der Systemtheorie. Dementsprechend greift ihr Buch auch auf die
bekannten Analysen Luhmanns zu Kultur als dem Gedächtnis der modernen
Gesellschaft zurück, erweitert jedoch den Analyserahmen zeitlich. Während
Luhmanns Theorie vor allem auf den signifikanten Umbruch der Umstellung von
stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung konzentriert ist, analysiert Esposito
detailliert die Erscheinungsformen des Gedächtnisses von frühen Hochkulturen
bis zu den Auswirkungen des Computers auf das Gedächtnis.
Funktionen des Gedächtnisses
Wenn, wie bereits erwähnt, das soziale Gedächtnis nicht die
Koordination individueller Bewusstseinsprozesse zur Herstellung kollektiv geteilter
Erinnerungen übernimmt, was ist dann seine Aufgabe? Was genau heißt Erinnern
und Vergessen auf gesellschaftlicher Ebene? Der systemtheoretische Vorschlag,
Gedächtnis zu verstehen, bricht hier gleich mit zwei Allgemeinplätzen
traditioneller Gedächtnistheorien. Zum einen wird Gedächtnis nicht als
Beschäftigung mit der Vergangenheit aufgefasst, zum anderen wird betont, dass das
Gedächtnis nicht mit Erinnern gleichgesetzt werden kann. Bereits der Titel von
Espositos Studie verweist darauf, dass eben nicht das Erinnern, sondern das Vergessen die
Hauptleistung des Gedächtnisses darstellt. Anstelle des Vergangenheitsbezugs setzt die
Systemtheorie auf Selbstbeobachtung und Rekursivität. Das Gedächtnis hat nicht
die Aufgabe Vergangenheit zu thematisieren, sondern die Gesellschaft zu beobachten und so
eine Hintergrundfolie zu generieren, vor der Informationen gewonnen werden können.
Man kann mit Luhmann davon ausgehen, dass das Gedächtnis
ein verkürzter Ausdruck für die Rekursivität von Operationen ist,
die es erlaubt, jenseits des beständigen Fließens immer neuer
Operationen, das festzuhalten, was sich wiederholt und deshalb erinnert wird,
während alles andere dem Vergessen anheim fällt. Wiederholung erzeugt
Redundanz und diese erspart es dem System, Informationen jedes mal von
neuem zu elaborieren. [...] Das Gedächtnis ist nicht einfach ein "Vorrat an
vergangenen Ereignissen", sondern in erster Linie die Organisation des Zugangs
zu Information. (S. 24)
Ein solcher Gedächtnisbegriff zielt also nicht – wie die
kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung – auf
Vergangenheitsbezüge etwa in Form von Denkmälern oder Feiertagen, sondern
richtet sich auf eine viel allgemeinere Form der Sinnstiftung. Es geht vielmehr um die Frage,
wie Kommunikationen durch Wiederholungen aufeinander Bezug nehmen und sich so
Identitäten in Form von Themen, Erwartungen oder Semantiken etablieren.
Gedächtnis entsteht mit der Aktualisierung eines Kontextes, vor dem
Kommunikationen verstanden werden können. Dazu muss aber in erster Linie
vergessen werden. Die Form wiederum, in der vergessen und erinnert wird, ist jedoch
Evolution unterworfen.
Formen des Gedächtnisses
Esposito unterscheidet vier verschiedene Gedächtnistypen in ihrer
historischen sich überlagernden Abfolge. Dies mag geübte Luhmann-Leser und
Leserinnen zunächst erstaunen, rechnet man doch intuitiv damit, dass jedem Typus
gesellschaftlicher Differenzierung (segmentär, stratifikatorisch und funktional) je ein
spezifischer Gedächtnistyp zugeordnet werden kann.
Der segmentären Gesellschaft kommt in diesem Modell kein eigner
Gedächtnistyp zu. Das kann jedoch nicht heißen, dass sie keine Form von
Gedächtnis kennt, da die Gedächtnisfunktion zentral für die
Informationsverarbeitung und somit für die Autopoiesis der Gesellschaft ist. Auch in
segmentären Gesellschaften gibt es beobachtbare Beobachtungen und Redundanzen.
Diese sind jedoch laut Esposito so selbstverständlich, dass sie nicht autonom
beobachtet werden können.
Entscheidend für die Form des
Gedächtnisses – und das ist eine der wichtigsten Thesen von Esposito –
ist nicht die Form gesellschaftlicher Differenzierung, sondern die zur Verfügung
stehenden Kommunikationsmedien. 7 Und hier lauert
bereits die nächste Überraschung. Es ist nicht die Schrift als solche, die einem
eigenen Gedächtnistypus generiert, sondern die alphabetische Schrift. Der erste Typ
von Gedächtnis basiert auf der nicht-alphabethischen Schrift und wird von Esposito als
das divinatorische Gedächtnis bezeichnet. Es wird abgelöst durch das auf der
alphabetischen Schrift beruhende rhetorische Gedächtnis. Als Folge des Buchdrucks
setzt sich im späten 18. Jahrhundert das moderne Gedächtnis als Kultur durch.
Espositos These zufolge hängt der jeweilige Gedächtnistyp von der
verfügbaren Massenmedien ab. Und so generiert auch der Computer eine eigene Form
der Bearbeitung von Redundanz: das telematische Gedächtnis.
Das divinatorische Gedächtnis
In Gesellschaften, die über eine nicht-phonetische Schrift
verfügen, bildet sich ein Gedächtnistypus heraus, den Esposito das divinatorische
Gedächtnis nennt. Divinatorisch daher, da die Semantik dieser Gesellschaften an
Divination und Weissagung geknüpft ist. Jan Assmann charakterisiert diese
Gedächtnisform in seinem Nachwort als extrem abstraktionsarm und an die
Sachdimension gebunden und vergleicht sie daher mit dem von Cassirer beschriebenem
"Mythischen Denken". Die Schrift erfüllt in einer solchen Gesellschaft in
erster Linie nicht-kommunikative Zwecke. Sie ist eine Art Gedächtnishilfe, die in den
Praktiken der Weissagung und Verwaltung eine Rolle spielt.
Auf den qualitativen Unterschied zwischen
alphabetischer und nicht-alphabetischer Schrift hat lange vor Esposito bereits Eric Havelock
hingewiesen. 8 Die Differenz zwischen den beiden
Schrifttypen liegt in ihrer Kontextgebundenheit bzw. -unabhängigkeit. Die nicht-alphabetische Schrift kann aufgrund ihrer Kontextgebundenheit dem Leser kaum Information
mitteilen, die er noch nicht kannte. Die Möglichkeiten des Gedächtnisses, eine
differenzierte Semantik auszubilden, sind somit limitiert. Zeitlich kann diese
Gedächtnisform mit den frühen Hochkulturen Babylonien und Ägypten
identifiziert werden.
Das rhetorische Gedächtnis
Das rhetorische Gedächtnis stellt sicherlich
den Themenbereich Espositos dar, zu dem die meiste Forschungsarbeit vorliegt, denn das
Thema Mnemotechnik ist sowohl unter kunstgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher,
literaturwissenschaftlicher als auch historischer und theologischer Perspektive bestens
beleuchtet worden. 9 In Bezug auf die Darstellung und
Interpretation des mnemotechnischen Verfahrens mit seinen imagines und loci
kann Esposito daher nicht beanspruchen, neue Akzente zu setzen. Stattdessen rückt sie
einmal mehr die Rolle der Schrift ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Denn mit der
Etablierung der phonetischen Schrift ist erstmals die Möglichkeit gegeben, kontextfrei
Informationen verfügbar zu machen und die Unterscheidung zwischen Zeichen und
Bezeichnetem kann erstmalig reflektiert werden. Dadurch wird ein entscheidender Abstand
zur Welt der Dinge ermöglicht, der im divinatorischen Gedächtnistypus noch
nicht zu reflektieren war. Esposito beschreibt den Wandel zum rhetorischen Gedächtnis
auch als eine Privilegierung der Sozialdimension im Gegensatz zur Betonung der
Sachdimension des älteren Gedächtnistypus.
Eingebettet werden Espositos Thesen zur Verweltlichung des
Gedächtnisses und der Entstehung des abstrakten Denkens in eine Neuinterpretation
von Platons Phaidros. Sie liest Platons Text nicht als generelle Schriftkritik, sondern als
Reflexion über die Form des Gedächtnisses bzw. die Erfindung der
Alphabetsschrift. Mit Derrida unterscheidet sie zwischen hypomnesis, der Erinnerung,
die auf Stützen, d.h. Aide–mémoire, beruht und mnémè, der lebendigen, in die
Seele eingeschriebenen Erinnerung. Platons Kritik an der Schrift, sie unterstützte nur
das Vergessen, da sie nicht in der Seele erinnert, sondern mit Hilfsmitteln Abwesendes
wiederholt, wird nun von Esposito auf die Unterscheidung zwischen alphabetischer und nicht-alphabethische Schrift vor dem Hintergrund eines divinatorischen Weltbildes bezogen. Vor
diesem Hintergrund erscheint nur die neue, alphabetische Schrift als schlechter
Schriftgebrauch. "Platon gemäß müsste man auch die neue Schriftart
wie die vorangegangene, nicht-alphabetische Schrift verwenden – indem man sie dem
Kontext unterordnet und so der Illusion der Unabhängigkeit nicht nachgibt." (S. 142)
Jan Assmann weist in seinem kritischen und sehr hilfreichen Nachwort darauf hin, dass
sich der Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wort- und Dingschrift in Deutungen des
Phaidros bereits bei Giordano Bruno und William Warburton findet.
Kultur als Gedächtnis
Mit dem Übergang zur Moderne betritt Esposito klassischen Boden
der Systemtheorie, denn genau auf diesen Umbruch von einer stratifikatorischer
Gesellschaftsdifferenzierung zu einer funktionalen zielen die meisten systemtheoretischen
Analysen. Hier kann sich Espositos Arbeit an die Vorarbeiten Luhmanns zu Kultur als
Gedächtnis anlehnen und dabei zugleich eigene Akzente setzen. Entscheidend
für den Wandel des Gedächtnisses – so die These – ist jedoch
nicht primär die gesellschaftliche Umstellung, sondern die Durchsetzung des
Buchdrucks, die einem enormen Wissenszuwachs und Erkenntnisinteresse Vorschub leistet.
Die Durchsetzung des Buchdrucks und die allmähliche Etablierung
eines Systems der Massenmedien setzen erstmals massenwirksam eine Form von
Kommunikation durch, die durch Asymmetrie und Anonymität gekennzeichnet ist. Ab
jetzt findet ein immer größer werdender Teil gesellschaftlicher Kommunikation
nicht mehr in Interaktion unter Anwesenden statt, sondern massenmedial vermittelt und in
Sender- und Empfänger- Rollen unterteilt. Das hat Folgen für die
Kommunikation:
Der Sender ist für den Empfänger unzugänglich
und umgekehrt. Wie auch schon Platon beobachtet hatte, bleibt das Geschriebene
gegenüber Klärungsbedarf stumm und wiederholt allemal immer wieder
das Gleiche, so dass der Leser den Sinn der Kommunikation mit anderen Mitteln
erfahren muss. Auch wer schreibt, muss auf andere Art ersetzen, was ihm an
Information abhanden kommt, die er zuvor aus dem Verhalten der Zuhörer
hätte gewinnen können. (S. 192)
Dies führt zu einer Umstellung der Kommunikation auf eine
Beobachtung zweiter Ordnung, sowohl was den Produktions- als auch was den
Rezeptionsprozess betrifft. Für den Sender, der seinen Empfänger nicht kennt,
stellt sich die Frage, wie er verstanden werden kann. Er ist daher gezwungen, einen Modell-Leser in den Text einzubauen, anhand dessen beobachtet werden kann, wie er selbst
beobachtet hat. Hier treffen sich soziologische Überlegungen mit literaturtheoretischen
Theorien zum impliziten Leser und impliziten Autor. Der Leser fragt nicht mehr nur, was der
Text vermittelt, sondern gewinnt ebenso aus dem Wie, d.h. aus dem Mitteilungsaspekt der
Äußerung, Information. Die Form der massenmedialen Kommunikation zwingt
also zur Durchsetzung von Beobachtungen von Beobachtern – hier sind wir bei der
koevoltionären Entdeckung von Individualität und Kultur angelangt. Denn die
Beobachtung von Beobachtern zeigt zum einen die Singularität jeder Beobachtung auf,
zum anderen lädt sie zu deren Vergleich ein. "Nur durch die Beobachtung von
Beobachtern entdeckt man [...] die Besonderheit ihrer Perspektive; und diese Entdeckung
basiert auf dem Vergleich und nicht auf der Wiederholung." (S. 250)
Das moderne Gedächtnis, das als Kultur beschrieben werden kann
und auf dem System der Massenmedien beruht, ersetzt somit das System der Rhetorik und
dessen Form der möglichst identischen Wiederholung durch die Form des Vergleichs.
An die Stelle der Wiederholung von Topoi tritt der Vergleich unterschiedlicher Perspektiven
und an die Stelle des Primats der Erinnerung tritt das Primat des Vergessens. Denn damit
Kommunikationen unter einer bestimmten Perspektive miteinander verglichen und erinnert
werden können, muss eine unzählige Menge anderer Aspekte ausgeblendet und
vergessen werden. Esposito beschreibt die moderne Form des Gedächtnisses, das nicht
mehr als Speicher fungiert, daher als ein Archiv, das die Aufgabe hat "möglichst
wirkungsvoll und schnell zu vergessen – mit einem entsprechenden Zuwachs der
Fähigkeit zu erinnern." (S. 258)
Das telematische Gedächtnis
Während Espositos Thesen zum rhetorischen Gedächtnis und
zum Gedächtnis der Kultur weitgehend verständlich und an bekannte
Forschungstraditionen angelehnt sind, betritt sie mit ihrer These eines telematischen
Gedächtnisses unsicheren Boden. Das liegt weder daran, dass sie Luhmanns Skepsis
dem Begriff Postmoderne gegenüber nicht zu teilen scheint und von einem
postmodernen Gedächtnis spricht, noch liegt es daran, dass die Vorstellung eines
speziellen, dem Netz angepassten Gedächtnismodus nicht nachvollziehbar sei.
Problematisch erscheint eher die Tatsache der doppelten Argumentation.
Zum einen wird der neue Gedächtnistypus durch das neue Medium Computer
erklärt, zum anderen dient die Entstehung nicht mehr integrierbarer,
funktionsspezifischer und medienspezifischer Gedächtnisse als Argument für die
Ungültigkeit des Kulturmodells. Die Frage, ob Kultur sich nur aus den einzelnen
Systemgedächtnissen speist oder wie man sich das Verhältnis zwischen dem
gesamtgesellschaftlichen Gedächtnis und den Systemgedächtnissen vorstellen
soll, scheint Luhmann nicht geklärt zu haben.
Espositos Argument, Kultur könne die systemspezifischen
Gedächtnisse nicht mehr integrieren, überzeugt jedoch aus zwei Gründen
nicht. Erstens lassen sich die systemspezifischen Gedächtnisse nicht erst in der
Postmoderne, sondern bereits mit Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung beobachten.
Auch das Kunstsystem benötigt seit seiner Ausdifferenzierung eine
Gedächtnisleistung, um seine Autopoiesis gewährleisten zu können.
Zweitens ist Kultur eine Beobachtungsperspektive und keine Programmvorgabe, d.h. alle
Kommunikationen lassen sich unter Vergleichsperspektive unter Kultur subsumieren. Die
Perspektive Kultur bietet zwar Integrationsmöglichkeit, jedoch keinen Einschluss
für alle. Es hängt von der jeweiligen Beobachtungsperspektive ab, ob man sich
einer Kultur als zugehörig betrachtet oder nicht. Und tut man es nicht, lässt sich
diese Beobachtung dennoch in einer nächsten Beobachtung als Kulturleistung
beschreiben.
Das Neue des am Netz orientierten telematischen Gedächtnisses sieht
Esposito in der Umstellung von einer Beobachtung zweiter Ordnung auf eine Beobachtung
dritter Ordnung – einer Tendenz, die nicht radikal mit der Moderne bricht, sondern
deren Traditionen und Charakteristika radikalisiert. Die Differenz zwischen Beobachtung
zweiter und dritter Ordnung zeigt sich in der Inklusion des Beobachters. Diese Inklusion des
Beobachters soll in einem Raum totaler Kontingenz Anhaltspunkte schaffen und für die
Rationalität des Beobachteten bürgen.
Beispiele für die Thematisierung des eigenen Beobachtens lassen
sich viele finden, etwa die Writing Culture – Debatte in der Ethnographie. Esposito
verweist auf den postmodernen Roman, der den Autor der Fiktion häufig metaleptisch
integriert. Aber gerade dieses Beispiel kann nur bedingt überzeugen. Zum einen ist die
Inklusion des Autors ein Stilmittel, das schon wieder fast überwunden scheint. Zum
anderen ist der Effekt, der daraus erzielt wird, eben oft nicht Orientierung, sondern die
Steigerung der Verwirrung des Lesers.
Espositos These der Invalidität des Kulturmodells ist trotz der von ihr
aufgezeigten Tendenzen nicht überzeugend, da ein Großteil ihrer Beschreibungen
des telematischen Gedächtnisses noch immer auch vom Modell der Kultur abgedeckt
werden. Die These von der Ersetzung des statischen Modells der Aufbewahrung durch ein
dynamisches Modell der Konstruktion etwa, beschreibt ja eben den Wechsel von Rhetorik
zum Vergleich. Ebenso wenig überzeugend wirkt ihr Beispiel der Suchmaschinen.
"In diesem Sinne erzeugen die search engines Erinnerungen, die allerdings
zuvor noch nie gedacht worden sind und lediglich das Produkt der kontextbezogenen Befehle
des Anwenders sind [...]." (S. 358) Genau wie im Kulturmodell werden hier
Erinnerungen hergestellt, die es zuvor nicht gab, die Suchmaschinen unterscheiden sich in
diesem Punkt nicht von der Technik des Vergleichens. Zugenommen hat zwar die
Vergessensmenge, aber die Inklusion des Beobachters scheint nicht deutlicher auszufallen
und nicht weniger Kontingenz zu erzeugen als in der kulturellen Vergleichstechnik. Denn das
Suchergebnis erschreckt meist mit seiner Kontingenz und seinem Mangel an
Orientierungshilfe.
Abschluss & Anschluss
Stärke und Schwäche von Espositos Projekt einer
historisierenden Soziologie resultieren aus dem hohen Grad an Komplexität, der dem
Leser / der Leserin zugemutet wird. Es schleicht sich eine ähnliche Erfahrung wie bei
der Lektüre Luhmanns ein: die Gefahr des scheiternden Nachvollzugs der abstrakten
Theorie am konkreten Beispiel. Kaum ein Leser ist in literaturwissenschaftlichen,
soziologischen, philosophischen, und religionsethnologischen Diskursen gleichzeitig
beheimatet, um die beschriebenen Transformationen vollständig nachvollziehen zu
können.
Unter einer einzelnen fachspezifischen Perspektive lassen sich jedoch
interessante Anschlussmöglichkeiten finden, die für die eigene Disziplin
fruchtbar gemacht werden könnten. Aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel
lässt sich etwa aus Espositos Buch eine Fiktionalitätstheorie destillieren, die
einen historischen Bogen von der Entstehung des Romans zur virtuellen Realität des
Netzes spannt. Außerdem finden sich Ansätze einer historischen Narratologie. In
diese Richtung weisen sowohl ihre Ausführungen zur Inklusion des Beobachters wie
Überlegungen zur Zeit und Handlungsstruktur im modernen Roman.
Ob sich Espositos Buch in der kulturwissenschaftlichen
Gedächtnisdebatte so durchsetzen kann, wie es dies verdient, bleibt fraglich. Denn eine
systemtheoretisch fundierte Kulturreflexion erscheint zwar attraktiv, ihre Sperrigkeit und
theoriebedingte Leseunfreundlichkeit stehen ihrer breiten Rezeption jedoch im Wege.
Jens Kiefer
Universität Hamburg
Forschergruppe Narratologie
Edmund-Siemers-Allee 1
DE - 20146 Hamburg
E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:
Ins Netz gestellt am 16.10.2002
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.
Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline.
Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Thorsten Wufka.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!
[ Home | Anfang | zurück ]
Anmerkungen
1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift,
Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck
1997. zurück
2 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis.
Frankfurt / M.: Fischer 1985. zurück
3 Schon vor Elena Esposito hat bereits Dirk Baecker in
einigen Aufsätzen Luhmanns Überlegungen zu Kultur als gesellschaftlichem
Gedächtnis weitergeführt. Wie Luhmann konzentriert er sich dabei weitgehend auf die
Moderne und beschreibt vor allem die Auswirkungen des Gedächtnisses als
Vergleichsmechanismus in der Sozialdimension.
Vgl. dazu: Dirk Baecker. Wozu Kultur? Berlin: Kulturverlag, Kadmos 2000.
(Dazu die Rezension von Mirjam-Kerstin Holl in IASLonline
http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/holl.html).
zurück
4 Niklas Luhmann: Zeit und Gedächtnis In: Soziale
Systeme. Zeitschrift für Soziologie; 2:2 (1996). S. 307–330 und Niklas Luhmann: Kultur als
historischer Begriff. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der
modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996. S. 31–54. zurück
5 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt / M.:
Suhrkamp 1984. zurück
6 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Frankfurt am Main. Suhrkamp 1997. zurück
7 Der Begriff Medium taucht in der Systemtheorie zweimal
auf, einmal als eine Seite der Form / Medium Unterscheidung und einmal im Sinne der
Verbreitungsmedien (Buchdruck, Schrift...). Espositos Verwendung des Begriffs Medium bezieht sich
auf diesen zweiten Aspekt. zurück
8 Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet
als kulturelle Revolution. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1990. zurück
9 Vgl. etwa Frances Yates: The Art of Memory. Chicago:
Chicago University Press 1974; oder zum literaturwissenschaftlichen Diskurs Renate Lachmann:
Gedächtnis und Literatur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1990. zurück
|