Als ein bisher nur eher vage vermessener Bereich der Literaturgeschichtsschreibung zur Weimarer Republik kann die "Neue Sachlichkeit" gelten. Hier mit einer Studie und Quellensammlung zur Klärung grundlegend beitragen zu wollen, was sowohl die
zeitgenössischen Diskussionen als auch die systematische Auswertung angeht, ist deshalb das große Verdienst dieser an der der Universität des Saarlandes entstandenen
Habilitationsschrift (1998). Das Erkenntnisinteresse liegt dabei wesentlich auf der Klärung eines begrifflich soliden Instrumentariums, woran es bisher einschließlich des diffusen Leitwortes "Neue Sachlichkeit" mangelt. Unternommen wird der Versuch, dem von unterschiedlichen Gruppierungen 1918-1933 geführten und entsprechend kontrovers
profilierten "neusachlichen Diskurs" (S.6) eine klare literaturhistorische Kontur zu geben, wobei mit guten Gründen das stets zitierte Forschungsmythem, der Begriff gehe auf ein kunstgeschichtliches Stiftungsereignis, Gustav Hartlaubs Mannheimer Ausstellung "Neue Sachlichkeit" von 1925, zurück, endlich korrigiert wird (vgl.Bd.1, S.40ff.). Entsprechend blendet die Studie auch die möglichen kunsthistorischen Dimensionen des Themas weitgehend ab. Diese wären also noch eigens parallel wie vernetzt zu erörtern. Was hier vorliegt, ist eine Aufarbeitung der literarischen Szene.
Methodik
Die Verfasserin zieht sich auf eine rein theoretische und poetologische Zugriffsebene
zurück. Der phänomenologische Weg über die Werklösungen, die wie auch
immer strittig genug unter der Signatur "neuer Sachlichkeit" zu rubrizieren sind, bleibt weitgehend unbegangen, zumeist nur auf den Umgang mit programmatischen Vorworten reduziert. Die 'neusachlich' realisierten Texte selbst werden in ihrem genuinen Gestaltungsraum zwar im Blick behalten und immer wieder einmal anzitiert, doch stehen letztlich immer die zeitgenösssischen Stellungnahmen zur Neuen Sachlichkeit im Vordergrund, die in einer beeindruckenden, etwa 600 Titel umfassenden "Liste der ausgewerteten Texte" aus Zeitschriften jahrgangsweise geordnet für 1918/19 bis 1935 auch im Anhang aufgeführt sind (Bd.1, S.371-401). Die inhaltlichen Kriterien, nach denen diese Liste
generiert wurde, sind für die aufgenommenen Titel zum Großteil unstrittig
nachvollziehbar, weniger klar erscheint, weshalb der eine oder andere Beitrag ausgeschlossen
wurde. 1 Dies betrifft grundsätzlich Buchtitel mit nur teilweise
einschlägiger Relevanz für das Thema, die generell bibliographisch ausgeblendet
wurden. 2 Hierzu motiviert eine nachvollziehbare Materialökonomie
(keine Monographien, nur Zeitschriftenpublikationen). Aber auch bei den in Aufsatzform
vorliegenden Veröffentlichungen ließe sich nach noch weiter Relevantem fragen. Ebenso fehlt der wichtige, oft programmatisch gehaltene Bereich der
Theaterrezensionen. 3
Die Untersuchung relativiert sich auf diese Weise wie aber auch durch den Verzicht auf eine neusachliche Textproduktion selbst. Es ergeben sich Lücken, die man gerne geschlossen
sähe. Daß ein Autor wie z.B. Heinrich Hauser im Analyse-Teil der Arbeit nicht einmal
erwähnt wird, obwohl er als Romanautor, Sachpublizist und Photograph Einschlägiges
zur Neuen Sachlichkeit beisteuert (und deshalb auch im Editionsteil mit dem Vorwort zu 'Schwarzes
Revier' von 1930 auftaucht [Bd.2, S.205f.]), verunsichert. Gleiches gilt z.B. auch für Ernst Erich Noth ('Die Mietskaserne' 1930) oder Rudolf
Neumann 4 ('Das Schiff Espérance' 1931). Franz Hessel, dessen Berliner
Flaneurbuch 'Spazieren in Berlin' (1929) neusachliche Epochenqualität hat, wird gerade einmal
(S.209) beiläufig erwähnt. Martin Beradt mit seinem präzisen, autobiographischen
Weltkriegs-Roman 'Schipper an die Front' (1927), aber auch seinen Gerichtsreportagen wird
ebensowenig erwähnt wie Alexander Moritz Frey mit seinem
"Feldsanitätsroman" 'Die Pflasterkästen' von 1929. Die 'Klassikerin' der
neuen Sachlichkeit, Irmgard Keun, findet nur an zwei Stellen peripherste Erwähnung. Selbst Oskar Maria Graf, mit seiner Autobiographie 'Wir sind Gefangene'
(1927) geradezu ein Leitautor neusachlicher Diktion, wird nicht näher erörtert. 5 Solche Art der (sachlich beliebig ausgewählten) Anmerkung soll keine
besserwisserische Abwertung sein. Zu breit ist der Anschnitt an Autoren und auch Werken, um nicht von einem repräsentativen Untersuchungsfundus zu sprechen. Aber Ansatz und
Ausführung der Studie verleiten dazu, seine Handbuchqualität auszuloten und zu testen.
Da gerät man, was die literaturgeschichtliche Aufarbeitung von Autoren und narrativen oder
dramatischen Primärtexten angeht, eben an zu diskutierende Grenzen.
Was und wer die Verfasserin interessiert hat, läßt sich anhand des Registers
über die Zahl der Erwähnungen leicht erschließen: Brecht, Döblin,
Feuchtwanger, Fleißer, Glaeser, Kisch, Reger, Roth, Tucholsky sind die ausführlicher
behandelten Primärautoren. Hinzu treten Theoretiker (Balázs, Benjamin, Döblin,
Kracauer, Lukács, Ottwald, Pinthus), Kritiker (Diebold, Ihering) und der Theaterkonzeptionalist
Piscator. Das ist ein beachtliches Ensemble, aber eben auch eines, das deutlich von Akzenten, um
nicht zu sagen von Vorlieben, geprägt ist.
Im Mittelpunkt: Alfred Döblin
Das hochgeschätzte Zentrum, um das die Studie kreist, ist dabei sicher nicht zu Unrecht
Alfred Döblin, dessen 'Berliner Programm' von 1913 (unter Ausblendung der autorspezifischen
Forschungslage) geradezu als Stiftungsurkunde der neuen Sachlichkeit avant la lettre stilisiert wird
(S.65ff.). Dieser Ansatz hat zwar etwas für sich und liefert eine zustimmungsfähige
Perspektive großen Zuschnitts, dennoch beschleicht einen Unbehagen angesichts einer nicht
abzustreitenden Stilisierungshöhe neusachlicher Poetologie. Kleinteiligeres aus zweitrangiger
Überlieferung erscheint demgegenüber nachgeordnet, wenn nicht sogar abgeblendet zu
werden, weil es Erkenntnisinteresse und Thesenbildung verunsichert.
Der poetologische Theorieblick, so begründet er gerade für die Diskursordnung der
neuen Sachlichkeit wirkt, schattet hier die Mühen der Werkanalyse ab, auf die bedarfsweise
zwar für die größeren Paradigmen ausführlicher, zumeist aber doch nur mit
passageren Seitenblicken zurückgegriffen wird. Den auf eine "dominante literarische
Ästhetik" (S.13) ausgerichteten Blickwinkel der Untersuchung bestimmen Manifeste,
Streitschriften, zustimmende wie ablehnende Kritiken und essayistische wie erste wissenschaftliche
Bestandsaufnahmen der Zeit. Die 'räsonnierenden' Quellen liefern die Parameter, nicht jedoch
(oder nur zweitrangig) die literarischen Texte selbst.
Man kann solchen Zugang akzeptieren, weil er methodisch mit einer Diskursgeschichte
ernstmacht und sich aus einer erfindend-rekonstruierenden Literaturgeschichtsschreibung
phänomenologischer Ausrichtung und Begründung zu befreien versucht.
Schwierigkeiten entstehen aber dort, wo die erforschte Diskursgeschichte wieder in eine
literaturhistorischen Problemstellung mündet und neue Sachlichkeit als "historische
Bewegung" (S.13) projiziert wird, wo sie vielleicht und gerade nur eine 'bestimmende Rede' sein wollte und konnte.
Unabhängig von diesem Einwand ist die Darstellung eines neusachlichen Theorie- und
Programmdiskurses materiell differenziert gelungen. Die Verfasserin legt dazu zunächst einen
systematischen Aufriß (I) vor (S.13-64), der Forschungsbericht, eigene Wertungslinien und
Zielsetzungen miteinander produktiv verbindet. Schwieriger wird die Suche (II) nach den initiativen
Konzepten von Sachlichkeit im Kontext der Frühmoderne. Die Studie macht hier spannend,
aber auch heterogen, Döblin, die architekturtheoretische und kunstgewerbliche Diskssion der
Jahrhundertwende, den Werkbund, Adolf Loos und den Sturmkreis sowie schließlich (mit
anregendem Blick, wenn auch sicher noch weiterer Diskussion bedürfend) den (Berliner)
Dadaismus namhaft. Alle diese Wegbereiter sind relevant und in den entwickelten Einzelprofilen
auch gut vermittelt, doch ist das derart eröffnete Tableau sicher weder historisch noch
materiell umfassend und zureichend vermessen. Aber die so vorgeschlagene Genese ist ein solider
Anfang, der zu weiterem Ausbau eine erste Basis liefert.
Diskursarchäologie greift nicht tief genug
Die Plädoyers für eine gestalterische Ästhetik der Sachlichkeit (das als Wort
das Grimmsche Wörterbuch 1893 noch nicht einmal bucht) reichen diskursgeschichtlich weiter
ins 19. Jahrhundert zurück, als dies sichtbar gemacht wird. Schließlich sind Realismus
und sein Ableitprodukt Naturalismus genuine Vorgaben eines 'sachlich' sich verstehenden
Formungswissens. Auch sind außerliterarische bzw. außerkünstlerische
Einflüsse zu beobachten, die noch zu wenig oder gar nicht in diese Diskursarchäologie
einbezogen sind. So fehlt die Abklärung des generellen Einflusses von historistischen und
positivistischen Denkhorizonten, vor allem aber gerät der naturwissenschaftliche und
medizinische Anteil ins Hintertreffen. Hier wäre mehr darzustellen und zu erläutern
möglich und nötig gewesen. Die Studie macht indes über ihren in sich stimmigen,
aber eben nicht umfassend verbindlichen Zugang bewußt, daß Bedarf an weiterer
Klärung für das Dispositiv "Neue Sachlichkeit" besteht. Das Niveau, auf
dem sich solche Forschung zu bewegen hat, gibt Beckers Untersuchung allerdings inskünftig
vor.
Die bibliographisch ermittelte und verfügbare Textgrundlage bildet das instrumentelle
Substrat der Studie. Sie wirkt als allerdings mit großem Einsatz erarbeitete und
verfügbar gemachte Basis, die dann zu wenig problematisiert und ausgreifend flankiert wird.
Entsprechend taucht ein Autor wie Benn nur ein
einziges Mal als Kritiker des neusachlichen Berichts- und Reportagestils in der Gruppe der
Rechtskonservativen behandelt auf (S.339), weil es eben nur diesen einen vierseitigen Kurz-Essay
von ihm "Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit" (1929) im
Materialkorpus gibt. 6 Daß er komplexer und intensiver in die Debatte
um Ästhetik und Sachlichkeit involviert ist, bleibt so unerörtert. 7
Andererseits ist trotz relativ knapper Berücksichtigung (Bd.1, S.61-63) zu einem Autor wie
Ernst Jünger und seinen 'In Stahlgewittern' das Wesentliche gesagt. Überhaupt
verfügt die Verfasserin über eine beachtliche Fähigkeit zu pointieren, was ihr
überhaupt erst ermöglicht, ein solches Unterfangen auf die Reihe zu bringen.
"Dimensionen
neusachlicher Ästhetik"
Jenseits von Einwänden gegen das einbezogene Korpus an theoretischen Texten profiliert
sich die Studie über ihr faktisch gewähltes Material, wenn sie die "Dimensionen
neusachlicher Ästhetik" (III) begrifflich katalogisiert (S.97-257). In fünfzehn
thematischen Feldern von Antiexpressionismus über Reportagestil und Antipsychologismus bis
hin zu Entsentimentalisierung und Entindividualiserung arbeitet die Verfasserin systematisch sehr
fruchtbar die legitimatorischen Argumentationsmodi aus, die zugleich faktische Gestaltungsfelder
sind. Die Präsentation dieser neusachlichen Wissensordnung, die sich eng auf die Quellen
bezieht, gleitet bei der systematisierenden Auffächerung zwar immer wieder in eine eher
referierende als analysierende Darstellung ab, doch entfaltet sich trotzdem insgesamt ein breites und
differenziertes Spektrum. Die Fülle der Anschnitte überspielt Unschärfen in der
Domestizierung des Materials. Ideologie und Leistungsprofil der Neuen Sachlichkeit werden so mit
(durchaus auch sympathischer) Zurückhaltung bei der kritischen Wertung ausführlich
zugänglich gemacht und kann somit als produktive Grundlage für weiterführende
Werkanalysen dienen.
Insgesamt erweist sich die argumentative Substanz der Quellen als doch relativ homogen. Was an Differenzen aufscheint, wirkt unterm Strich trotz formaler Heterogenität eher als Folge von inszenatorischen Profilierungen denn als tiefenstrukturell wirklich gegeben. In den Facettierungen liegt denn auch das anregende Potential und so rechtfertigt sich für die weitere Debatte der Aufwand an Recherche, der getrieben wurde.
Gleiches gilt auch für die Kritik an der Neuen Sachlichkeit (IV), die sich auf weniger,
nämlich nur acht Untersuchungsfelder konzentriert (S.258-358), die z.T. identisch mit den
positiven Leistungsansprüchen der Bewegung (Dokumentarismus, Reportagestil) sind, z.T.
aber auch eigene Kritiklinien der Verfasserin ins Spiel bringt. Dabei geht es auch um politische
Positionen (marxistische auf der einen, rechtskonservative bzw. völkisch-nationale auf der
anderen Seite), aber auch neusachliche Selbstkritik wie poetologische
(Entpoetisierung / Entsentimentalisierung) und soziale Vorbehalte (Antiindividualismus,
Gebrauchsliteratur). Hier taucht gegenüber bisherigem Wissensstand wenig Neues auf. Es
bestätigt zum Teil bisherige literaturgeschichtliche Forschungsbefunde, revidiert aber auch
etablierte Einschätzungen. Heinz Kindermanns angebliche Verdienste um die Neue
Sachlichkeit werden als das, was sie eigentlich waren, nämlich hintergründig aggressive
Abrechnungen mit einer abgelehnten 'Modeströmung' vorgestellt.
Der zweite Band als Quellensammlung
Der zweite Band (mit eigener Seitenzählung) der Arbeit ist "eine umfassende
Sammlung von Texten zur neusachlichen Theorie und Ästhetik", die "bislang
gefehlt" hat (Bd.2, S.5). Die Herausgeberin begründet im Vorwort ihre Auswahl (und
deren Problematik) überzeugend. Die Anordnung der präzise edierten Quellen folgt der
Systematik des ersten Bandes, so daß eine komplementäre Lektüre zur
Untersuchung möglich ist. Das zum Teil entlegene und vergessene, zum Teil aber auch
geläufige Material stammt hauptsächlich aus Zeitschriften der zwanziger und
frühen dreißiger Jahre. Hinzu treten einige programmatische Vorworte zu literarischen
Werken sowie einige Ausschnitte (z.B. ein kurzer aus W.Benjamins 'Einbahnstraße' [Bd.2,
S.139]) aus einschlägiger Literatur. Die Edition nimmt in vielen Fällen Kürzungen
vor, um Teile zu überspringen, die nicht thematisch relevant sind. Das läßt sich
zwar verstehen, verändert aber doch den Kontext der Überlieferung.
Insgesamt liegt eine überzeugende Gesamtleistung vor, die Untersuchung und Edition
glücklich vereinigt. Der Leser wird in die privilegierte Lage versetzt, stete
Parallellektüre zwischen Quellenstudium und Auswertung betreiben zu können. Das
entlastet, befördert die rezeptive Kontrolle der vorgeschlagenen Analysen und erlaubt
schließlich auch, eigene Wege zu gehen, die nicht unbedingt mit denen der Verfasserin
übereinstimmen müssen. So entsteht ein Tableau für eine Art Gespräch, in
dem die Spannung des Sujets austragbar wird. Seine konkrete Entfaltung wird durch umfassende
Personen- und vor allem vorzüglich ausdifferenzierte Sachregister (für jeden Band
getrennt) wesentlich erleichtert. So ergibt sich eine lebendige interaktive Literaturgeschichte, die das
leistet, was Wissenschaft bereitstellen soll, Neugier zu wecken, Fragen aufzuwerfen und zu
beantworten, um schließlich auch auf weitere Perspektiven zu verweisen. Die Neue
Sachlichkeit hat auf diese Weise ihre erste diskursgeschichtlich fundierte Historiographie
gefunden.
Prof. Dr. Erich Kleinschmidt
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
D-50923 Köln
Ins Netz gestellt am 11.10.2000.
Update 09.01.2001
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact
IASL online.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.