Knebel über Bergler: Der philosophische Kampf gegen die Luhmannsche Kränkung

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Hermann Knebel

Der philosophische Kampf gegen die Luhmannsche Kränkung

  • Andreas Bergler: Kommunikation als systemtheoretische und dialektische Operation. Ein Beitrag zum Verhältnis von Hegel und Luhmann. München: Herbert Utz 1999. 242 S. Kart. € 48,-.
    ISBN 3-89675-514-5.


Die disjunktive Kopula:
Hegel und / oder Luhmann

Niklas Luhmann, der seinen Werken in der Regel ein Sachregister anhängt, aber die Subjekte oder besser die psychischen Systeme allenfalls als umweltliche Epiphänomene ihrer kommunikativen Beiträge zu einer Problemlage gelten läßt und ihnen daher auch ein Verzeichnis am Ende seiner Bücher als irrelevant mißgönnt, würde in einem imaginierten Personen- oder auch nur Namensregister Hegel wohl allenfalls als sporadisch Erwähnten anführen, dessen Anschlußfähigkeit an aktuelle Diskussionen obsolet ist. Mit Luhmanns systemtheoretischen Grundannahmen (die ihren "Grund" natürlich nur noch in sich selber finden) ist ein großzügiges Abräumen der sogenannten >alteuropäischen Traditionen< verbunden, zu deren Abschlußnotwendigkeiten auch der "objektive Idealismus" Hegels gerechnet wird. Wenn Hegel – selten und marginal genug – erwähnt wird, dann mit prinzipieller Verabschiedung von der Möglichkeit des absoluten Wissens. Eine typische Stelle klingt etwa so:

Der blinde Fleck wird nur verschoben, und nie kann sich die Erwartung Hegels erfüllen, daß der mit der Unterscheidung markierte Gegensatz in der Abfolge einer Dialektik von Aufhebungen schließlich für sich selbst transparent, in Hegels Terminologie also >Geist< wird. 1

Schwer vorzustellen also, worin der Gewinn einer Zusammenführung von Hegel und Luhmann liegen mag, wenn die grundlegende Differenz (zumindest von der einen Seite) so illusionslos markiert wird. Ebenfalls schwer vorzustellen, in welcher Sprache die Reformulierung zweier anscheinend inkompatibler Ansätze fruchtbar gelingen kann. Mit der metasprachlichen Option des Verfassers entscheidet sich die Ergiebigkeit einer solchen Fragestellung. Hinter diesem "und" zwischen Hegel und Luhmann, das dem Rezensenten im genaueren Verlauf ihrer Komparation immer mehr als ein "oder" erscheint, verbirgt sich der Reformulierungsfundus, der metasprachliche Hintergrund, vor dem die Differenz vermessen wird.

Zunächst ist der Aufbau des Buches kurz zu umreißen. Die Arbeit gliedert sich in vier großräumige Kapitel, von denen nur zwei in einen näheren direkten sachlichen Zusammenhang zu bringen sind und hier berücksichtigt werden sollen. Die Kapitel sind:

  1. Einleitung, S. 1–36
  2. Systemtheoretische Kommunikation (Luhmann) und Kommunikation als erscheinendes Bewußtsein in Hegels Phänomenologie, S. 37–112
  3. Auf dem Weg zu einer Unendlichkeit im praktischen Verständnis, S. 113–166
  4. Praktische Unendlichkeit: Zur Struktur der Unendlichkeit bei Luhmann und Hegel, S. 167–221.

Die sympathische Knappheit und Klarheit der Gliederung täuscht allerdings ein wenig über die tatsächlich krummen Wege und Umwege des philosophischen Denkens hinweg.

Da die vorliegende Arbeit eine philosophische Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München ist, steht – wie zu erwarten war – der Schüler auf den Schultern seiner Lehrer und teilt deren Blicke, folglich auch deren blinde Flecke. Nach Luhmann und Hegel, den beiden Differenzparadigmen, denen die Untersuchung gilt, sind die beiden Hauptmatadoren in der Bibliographie und in der Ausführung folglich der akademische Lehrer des Verfassers, Peter Reisinger, und ein weiterer Philosoph, Wolfgang Cramer, deren Unterscheidungen Andreas Bergler benutzt, um seinen Theorievergleich durchzuführen. Dieser eigentliche Theorievergleich nimmt ebenso folglich nur einen geringen Raum der Arbeit ein, da der Weg zu Luhmann nicht nur einfach über Hegel führt, sondern über Reisinger zu Cramer und über Cramer (oder auch umgekehrt) zu Hegel. Der Stationen sind viele, der Vorhöfe auch, und quantitativ reduzieren sich die Partien der direkten Konfrontation auf ein knappes Viertel (ca. 60 S.) der 220 Textseiten. Der Rest sind Referate und Exkursionen, sich verselbständigende Umwege, deren Beitrag zur Titelantithese nicht immer ersichtlich ist.

Dem Rezensenten sind die abgehandelten philosophischen Probleme, der Unendlichkeitsbegriff in seinen Variationen von Kant bis Cantor fremd, er versteht sie auch in ihrer notwendigen Funktion für den Gang der Argumentation nicht, wird sie bei seiner Rekonstruktion dieses Ganges auch beiseite lassen und seinen Faden durch das unendliche Labyrinth ziehen: dort wo er hinausgelangt, ist dann auch der Ausgang. Andere mögen ihm dann seinen blinden Fleck und dessen Ausmaß nachweisen.

Programmatisches Mäandern
oder: vom "und" zum "gegen"

Das Programm dieser Arbeit liest sich am Anfang ausgleichend und vielversprechend mit der angestrebten mutuellen Beleuchtung der beiden Gegenstandsbereiche. Hegel und Luhmann an- und gegeneinander zu perspektivieren, bringt potentiell trotz der erwartbar hohen Negativität für beide Seiten Verständnis- und Erkenntnisgewinn, Ausgewogenheit und gegenseitige Befruchtung liegen in der Luft:

Zwei so grundsätzlich verschieden scheinende Denkansätze, wie sie von Hegel und Luhmann vertreten werden, miteinander zu konfrontieren, verspricht, sich nicht nur als fruchtbar für ein eingehenderes modernes Hegel-Verständnis zu erweisen, sondern läßt auch erwarten, daß die von Hegel zur bislang unerreichten Blüte gebrachte dialektische Methode zu einem tieferen Verständnis der Luhmannschen Systemtheorie, ihrer Fragestellungen und Problematiken beizutragen vermag. (S. 1–2)

Adornos Wort, man solle sich nicht (nur) fragen, was Hegel vor der Gegenwart, sondern was die Gegenwart vor Hegel bedeute, scheint hier einen Einlösungsversuch zu erfahren. 2

Locker verteilt finden sich auch weiter programmatische Bemerkungen des Verfassers über die wechselseitige Beleuchtung seiner beiden Objekttheorien, wenn er etwa anstrebt, "zu einem besseren Verständnis von Dialektik und Systemtheorie zu gelangen" (S. 34).

Am Ende seiner Arbeit hat der Verfasser seine Intentionen freilich recht einseitig respezifiziert, aus der gegenseitigen Beleuchtung und Befruchtung ist eine Beobachtung, besser Beurteilung des Luhmannschen Konzeptes der Kommunikation und der sie fundierenden Begriffe von >Autopoiesies< (und >Unendlichkeit<?) mittels reformulierter und auch reformalisierter (vgl. S. 100–102 und S. 184—192) Hegelscher Unterscheidungen geworden.

Dem Verfasser war daran gelegen, das für die moderne systemtheoretische Soziologie zentrale Problem der Kommunikation unter Zuhilfenahme der Hegelschen Gedanken ein wenig transparenter zu machen. (S. 222)

Ein wenig Selbstreferenz und -transparenz der Arbeit – von der vorletzten Textseite 222 zurück auf S. 1 und 2 – hätte dem Leser schon zu Beginn des Unternehmens die spätere Irritation durch solche Interessenverschiebungen erspart. Daß man mit dem Absoluten als generellem Stichwort im Hintergrund rechnen müsse (S. 222), hätte man gerne schon frühzeitiger erfahren mögen, auch daß aus der Differenz des Vergleichs ein systematisches Defizit bei Luhmann erwächst.

Freilich gibt es unterwegs zunehmend Hinweise auf die Richtung der Untersuchung, die der Verfasser einschlagen möchte. Nach einigem Anlauf spezifiziert sich sein Programm, Luhmann von Hegel aus zu beobachten, statt es – wenn auch nacheinander – zu einer mutuellen Beobachtbarkeit zu bringen. So ist die Gliederung der Arbeit nach den aufwendigen und dennoch eher kursorischen Präliminarien ab S. 37 "eher von Hegels systematischer denn von Luhmanns polykontexturaler Schreibweise inspiriert" (S. 35).

Es geht um die Entwicklung "eines kritischen Instrumentariums" (S. 35), um ein "an der Unendlichkeit der Kommunikation defizitäres Moment in Luhmanns Systemtheorie" (S. 36) nachzuweisen, das im dialektischen Kommunikationsmodell Hegels aufhebbar wäre. Luhmannsche >Kommunikation< wird durch Hegelsche >Anerkennung< ergänzt; im Fortgang des Argumentierens bekommt der Vergleich dann einen normativen Maßstab, der aus der (hochselektiv und zugleich kontingent präsentierten) Philosophiegeschichte selber gewonnen ist: Luhmann wird nicht mehr verglichen, sondern gemessen, geprüft, die philosophische Objekttheorie verwandelt sich in eine kritische, fremdreferentielle Metatheorie, die nur noch rhetorisch ein wenig relativiert wird, wie das folgende Beispiel zeigt: "Davor ist allerdings zu sehen, ob nicht eine rein systemtheoretische Betrachtungsweise, wie sie der Luhmannschen Theorie eignet, für eine adäquate Beschreibung der Struktur der Kommunikation ausreichen könnte. Damit ist im Folgenden zu sehen, inwieweit über die Immanenz der Beobachtung vernunftfreier Systeme hinausgegangen werden muß, bzw. ob überhaupt."

Weil es den Leser auch am Ende der Arbeit überrascht und nicht überzeugt, sei ihr zusammenfassendes Fazit schon hier zitiert: Luhmanns hochabstrakte Theorie ist nicht abstrakt genug,

da es zu keiner begrifflichen Selbstreferenz in der Kommunikation kommt. Es fehlt das begriffslogische Moment der Besonderheit, das die Allgemeinheit (das Soziale) mit der Einzelheit (dem Bewußtseinssystem) zusammenzuhalten vermag. Denn eine methodische Generierung der Gegenstände im Modus der >Beobachtung< führt zwar zu einer Theorie, die sich selbst als ihr eigenes sich gegenüberstellen kann, diese Gegenüberstellung selbst sich dann aber nicht mehr zu reflektieren vermag, zumindest nicht in dem Sinn, daß ihre Begriffe sich selbst von sich selbst unterscheiden würden, sich selbst also zu ihrer Realität hätten. Eine >Idee<, wie Hegel sie versteht, ist so natürlich ausgeschlossen – womit auch die Möglichkeit ausgeschlossen wäre, das in den einzelnen Subjekten (Bewußtseinssystemen) liegende Prinzip der Selbstreferentialität auch als objektiv wirksames Verbindungsprinzip zwischen ihnen und ihrer (kommunikativ bestimmten) sozialen Realität darzustellen. Hegel hat dies in den Besonderungen der Idee des Rechts als Freiheit geleistet. (S. 223)

Ähnlichkeiten sind zufällig
und nicht beabsichtigt

Der Weg dieses programmatischen Mäanderns zwischen Anfang und Ende kann hier nicht nachvollzogen werden, einige Beispiele müssen genügen. Da die unbedingte Notwendigkeit einer Komparation Hegel – Luhmann nicht von vornherein einleuchtet, von Luhmann selber wiederholt negiert wird, beginnt der Verfasser sein Unternehmen mit Ähnlichkeiten, Affinitäten, Isomorphien zwischen beiden Konzepten zu rechtfertigen. Eingestreut werden auf den ersten 100 Seiten enigmatisch-skizzenhafte Bemerkungen über die Vergleichbarkeit der beiden Systeme (ohne Rücksicht auf deren jeweilige Binnenevolution), variiert vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Selbstreferentialität.

Eine Ähnlichkeit, "ein möglicher Anknüpfungspunkt" (S. 27) unter Neutralisierung der grundlegenden Differenzen, liegt z.B. darin, "daß die Theorie als einer ihrer Gegenstände in ihr selbst wieder erscheint" (S. 27). Die selbstreferentielle Theoriegeschlossenheit bei Luhmann ist mit der Selbstbezüglichkeit des Geistes im absoluten Wissen, in dem die Bewegungslogik von Hegels "Phänomenologie des Geistes" ihren Abschluß findet, parallelisierbar (S. 28). >Argumentative und strukturelle Isomorphien< (S. 31–32) lassen sich feststellen zwischen der polykontexturalen Theoriebildung bei Luhmann und der exzentrischen Motorik der Wahrheitsbewegung bei Hegel wie auch zwischen der zirkulären und selbstreferentiellen Konzeption des Differenzbegriffs bei Luhmann und Hegels Selbstrückkehr der Wissenschaft in sich selbst. Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Aufgabe ontologischer Grundannahmen über die Relation von Erkennen und Welt zugunsten der paradoxen Immanenz und Rekurrenz der System-Umwelt-Differenz (S. 45). So wird "rein vergleichsweise" (S. 60) Luhmanns Begriff von Gesellschaft mit Hegels Begriff des Absoluten auf eine Ebene gesetzt und es ergibt sich – weiter resultatlos und folgenlos – eine "Isomorphie der Verhältnisse Gesamtsystem / Subsystem und Absolutes / Teile (des Absoluten)". Die Funktion von Sinn als Dezentrierungsoperator der Welt bei Luhmann hat eine Nähe zur Funktion des objektiven Geistes bei Hegel (S. 63–64).

Die Ähnlichkeit und die Vergleichbarkeit zeigen aber im Verlauf der argumentativen Operationen schnell ihre Grenzen auf, wie ein Resümee der Zusammenstellung des Luhmannschen und Hegelschen Kommunikationsbegriffs verdeutlicht: "Die durch die unterschiedlichen Herangehensweisen vollkommen divergierenden Beschreibungen sozialer Sachverhalte von Hegel und Luhmann kappen hier die Möglichkeiten eines sinnvollen weiteren Vergleichs." (S. 112) Erst über ein eigens eingeführtes Drittes, "die jeder Kommunikation zugrundeliegende Unendlichkeit" (S. 112), wird die Vergleichbarkeit und vor allem auch die Kritisierbarkeit (die des Luhmannschen Ansatzes nämlich) wiederhergestellt, wahrlich fremdreferentiell aber. Es folgt die Negation eines durch Beharren auf dem finiten Standpunkt in der Interpretation von "Selbstreferenz" enggeführten Kommunikationsmodells mittels des philosophischen Unendlichkeitsbegriffes.

Wahre praktische vs. falsche iterative Unendlichkeit

Für die Rezension sind das lavierende, kursorisch-exkursorische erste Kapitel so wenig wichtig wie die Umwege des dritten, im folgenden werden diese beiden eingeklammert und Kapitel zwei und vier insoweit rekonstruiert, wie es für das Verständnis und die Kritik Luhmanns fruchtbar erscheint, es wird hier also mit der erst latenten, dann immer sichtbareren Asymmetrie zwischen Hegel und Luhmann in dieser Arbeit ernst gemacht. Diese Reduktion erfolgt auch deshalb, weil der Rezensent einen notwendigen Bezug der innerfamilialen philosophischen Auseinandersetzungen zur Entwicklung des Arguments nicht erkennen kann.

Des weiteren ist ein Referat der Referate, die nicht wenig Raum in der vorliegenden Arbeit einnehmen, eine Reduktion der Reduktion nicht geplant. Markiert werden sollen vor allem die festgestellte Differenz und der Versuch, deren verkündetes Defizit mit Hegel auszugleichen.

Eine Schwierigkeit der Rekonstruktion liegt auch darin begründet, daß die vorliegende Arbeit merkwürdig >resultatlos< anmutet, diese Resultatlosigkeit auch selber zugibt (S. 222) und streng hegelisch den Weg und das Resultat für untrennbar erklärt. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, daß der Weg keineswegs in stringenten Schritten erfolgt, sondern in Sprüngen (und nicht nur vorwärts) zurückgelegt wird, Referat und Argument abwechseln und stellenweise auch konfundieren, so daß der Nachvollzug nur punktuell geschehen kann. Darum im folgenden der Versuch, durch Zitat und Gegenzitat und Kommentar eine Choreographie dieses Tanzes zu entwerfen.

Hauptmotiv für die philosophische Gegenargumentation scheint die "Luhmannsche Kränkung" 3 sein, Kommunikation und soziales System zu definieren, ohne auf philosophisch fundamentale Festlegungen von >Subjekt<, >Konsens<, >Freiheit<, >Bildung< u.ä. zu rekurrieren. Die ebenso unwahrscheinliche wie notwendige Emergenz des sozialen Systems, dessen Operationsform die Kommunikation bildet, aus der Situation der doppelten Kontingenz (vgl. S. 80–82) gesteht zwar die Existenz und Notwendigkeit von Subjekten bzw. psychischen Systemen zu, geht auch von der Ko-Evolution sozialer und psychischer Systeme und ihrer strukturellen Kopplung und Interpenetration aus, bestimmt aber Kontingenz prinzipiell bewußtseinsunabhängig:

Ihre Verdopplung resultiert zwar aus dem Gegenübertreten von Alter und Ego, dies aber nur in ihrer Funktion als Konstituentien, Indizes des sozialen Systems. Allein das durch Kommunikation gegebene Prinzip der Gegenseitigkeit verdoppelt die Kontingenz. (S. 85)

Aus der gegenseitigen Opakheit der an der Kommunikation beteiligten psychischen Systeme folgt dann – eben wegen ihrer mangelnden Begründung – die zu rügende und korrigierende Intransparenz des Begriffs von Autopoiesis, der das >Auto< abgesprochen wird.

Wo von Autopoiese die Rede sein soll, wird von Intransparenz gesprochen. Infolgedessen werden Anschlußmöglichkeiten lediglich als kontingent klassifiziert, wo doch die Selbstherstellung der Kommunikation sich selbst auch begründen können müßte. Kontingent ist ein kommunikativer Akt nur für ein an ihm teilhabenden System, das ja gerade nicht den Aufbau des daraus entstehenden Kommunikationssystems bestimmen soll, sondern dieses höchstens zu >perturbieren< vermag. Die Grundsituation der >doppelten Kontingenz< erweist sich so nur als ein ad hoc hinzukonstruiertes Strategem zur Erläuterung einer vom Begriff der Kommunikation eingeforderten Selbstbestimmung, nicht aber zu deren Durchführung selbst. Der vermittels doppelter Kontingenz sich darstellende Kommunikationsbegriff muß auch hier noch als fremdkonstruiert angesehen werden. (S. 86)

Dieser Mangel an >Selbst< in der Selbstbestimmung und -reproduktion der Kommunikation, ihre fremdreferentielle Selbstreferenz statuiert den grundlegend nichtphilosophischen Charakter des Luhmannschen Theoriesystems. "Luhmann bleibt eben Empiriker." (S. 213, Fußnote 766). Seine sich (selbst?) fortbestimmende kommunikative Unendlichkeit bleibt aus philosophischer Perspektive eine technisch-iterative, empirische, schlechte Unendlichkeit, die unbegründet weiterprozessiert:

Die Unendlichkeit in Luhmanns Kommunikation ist nur vermittels der Grundsituation und der darin enthaltenen doppelten Kontingenz konstruierbar (S. 180).
Aus dem theoretischen Fremdbestimmtheitsstatus der durch Autopoiesis ausgedrückten Selbstreferenz kommt Luhmann jedenfalls nicht hinaus. Die >Zauberformel< Autopoiesis kann keine Erklärung für die Praxis leisten, da sie in Fragen nach der Möglichkeit von Kommunikation stets wieder auf eben diese Praxis selbst verweist
(S. 213–214).
Die selbstbezügliche Unendlichkeit der sich selbst >beobachtenden< Kommunikation stellt sich als Iteration dar, weil der Beobachter als der >ausgeschlossene Dritte seiner Beobachtung< in der Luhmannschen Invisibilisierungstheorie nicht selbst >Subjekt< (oder >System<) sondern lediglich >Parasit< seines Beobachtens sein kann. Die Operativität der Selbstbezüglichkeit der Luhmannschen Autopoiesis ist somit ihre Darstellung als schlecht-unendlicher, iterativer Prozeß.
(S. 217)

An dieser vermeintlichen Lücke des nicht selbstbestimmten Luhmannschen Begriffs der Kommunikation setzt nun die philosophische Reparatur des Defizits an. Die Fremdbestimmung von Alter und Ego und damit auch die Fremdbestimmung des aus ihrer Begegnung resultierenden sozialen Systems der Kommunikation wird aufgelöst mittels des Hegelschen Konzepts der gegenseitigen Anerkennung von Selbstbewußtseinen in ihrer Evolution von Fremd- zur Selbstreferenz. Der Kampf um Anerkennung resultiert im Modus der gegenseitigen Anerkennung in Freiheit, vermittelt auf diesem Weg eine objektive Hervorbringung der Identität von Subjekt und Objekt, von psychischem und sozialem System und bildet damit die Brücke über die Kluft der Konstitution des Selbst und des Sozialen.

Die Realisierung des Selbstbewußtseins als in seinem Begriff durch anderes bedingt kann nun in die Formel >Selbstbewußtsein = anderes Selbstbewußtsein< oder auch: >Ego = Alter Ego< gebracht werden.
(S. 96)
Die Selbstreferenzialität des sozialen Systems konstituiert sich in der Bewegung der Anerkennung, die als Bewegung des Verhältnisses lebendiger Selbstbewußtseine zueinander ihren Begriff manifestiert.
(S. 98)
Diese Freiheit kann nur in einer Gesellschaft entwickelt werden, deren Struktur in ihren sozialen Systemen auf einem vollständig entwickelten Kommunikationsbegriff basiert, d.h. wo die allgemeine Freiheit zum objektiven Faktum geworden ist. (S. 111)
Die >wahre< praktische Unendlichkeit als Einheit von selbst- und fremdreferentieller Unendlichkeit kann nur entstehen unter der Bedingung der Reflexion innerer Unendlichkeit (im einzelnen Selbstbewußtsein) an der äußeren (an der sozialen Beziehung).
(S. 193)
Hegels Rechtsphilosophie bildet so eine Formbestimmung sozialer Institutionen und Subsysteme als objektiv gewordene wahre kommunikative Unendlichkeit. Deswegen könnte man mit den Hegelschen Mitteln nicht nur in kritisch-formaler, sondern auch in positiv-konstruierender Hinsicht >ein bißchen überlegter sehen, was man tun kann<. (S. 194) 4

Aus dieser Zitatenreihe und weiteren Variationen dieser aus Hegel gewonnenen Kritik geht eines nicht hervor: die theoretische Notwendigkeit und die praktische Fruchtbarkeit, das empirisch-empiristische Prozessieren der Kommunikation bei Niklas Luhmann derart philosophisch einzubetten. Es scheint sich hier nicht um die Reparatur eines Defizits zu handeln, sondern um eine philosophische Selbstrehabilitation.

Merkwürdig resultatlos und unschlüssig ist denn auch am Ende des Buches
(vgl. S. 222–223) das Fazit: Aus der philosophischen Normierung des Begriffs der Kommunikation, und sei sie auch aus deren Elementen gewonnen, folgt für das Operieren der Kommunikation in schlechter oder guter Unendlichkeit (sofern hier nicht sowieso nur eine Äquivokation vorliegt) nichts. Die theoretischen Diskurse berühren sich nicht, immanent wird die Luhmannsche Systemtheorie nicht genötigt, die Idee der >praktischen kommunikativen Unendlichkeit< in ihr Gebäude einzupassen. Wenn >Anerkennung< und >Freiheit< nicht selber als Momente der Grundsituation der doppelten Kontingenz emergieren, was sie nicht notwendig tun, dann können sie auch nicht als kommunikationsexterne Regulatoren >unbedingt< eingreifen. 5 Die Kommunikation verweigert den philosophischen Anschluß und funktioniert einfach weiter.

Als Fazit bleibt also nur (bei allem Respekt vor den aufgebotenen philosophischen Instrumenten): Ein sehr langer Anlauf für einen sehr kurzen Hopser – rückwärts.




Dr. Hermann Knebel
Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien
der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Leibnizstrasse 8
D - 24118 Kiel

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Anmerkungen

1 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S.52.   zurück

2 Vgl. Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: T.W.A.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1971, S. 247–381, hier S. 251.   zurück

3 So qualifiziert Peter Fuchs unter Einreihung Luhmanns in die sehr anspruchsvolle Gruppe Kopernikus-Darwin-Freud die Zurücksetzung des Subjekts bei der systemtheoretischen Definition der zwar nicht bewußtseinsunabhängigen, aber bewußtseinsfreien, eigenselektiv sich fortspinnenden Kommunikation. Vgl. Peter Fuchs: Moderne Kommunikation. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S. 12.   zurück

4 Die Passage in einfachen Anführungszeichen ist ein Zitat aus dem Klappentext von Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1997.   zurück

5 Vgl. Luhmanns >empirische< Abfertigung der normativ-emanzipatorischen Aufladung des Subjektbegriffs und in der Folge des Diskurs- und Kommunikationsbegriffs bei Habermas: Niklas Luhmann: Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas. In: Jürgen Habermas / N.L.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt / M.: Suhrkamp 1971, S. 291–404, hier S. 316–341.   zurück