Knittel über Daiber et al. (Hg.): Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft

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Anton Philipp Knittel

Zwischen Faust-Puppenspielen
und Eichendorff-Rezeption in der DDR.
Aurora – Das Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft nach dem Verlags- und Herausgeberwechsel

  • Jürgen Daiber, Eckhard Grunewald, Gunnar Och, Ursula Regener (Hg.): Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft. Band 62, 2002. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2003. 229 S. Kart. EUR 34,-.
    ISBN 3-484-33062-7.


Drei von vier Herausgebern sind neu – Jürgen Daiber, Eckhard Grunewald und Gunnar Och statt Helmut Koopmann, Peter Horst Neumann und Lothar Pikulik – , der Verlag ist neu – statt Jan Thorbecke nun Max Niemeyer – und auch der Untertitel kommt ohne den angestammten Zusatz "für die klassisch-romantische Zeit" aus. Und doch hat sich beim 62. Band der Aurora nicht allzu viel geändert. Das Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 2002 ist gediegen, informativ wie eh und je.

Band 62 versammelt – wie frühere Jahrgänge auch – ein breites Themenspektrum: Von den "Faust-Puppenspiele[n] der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar" von Konrad Kratzsch (vgl. S. 1–63), über die kunsthistorische Untersuchung von Reinhard Zimmermann unter dem Titel ">Kommet und sehet.< Caspar David Friedrichs Bildverständnis und die Frage des >offenen Kunstwerks<"
(vgl. S. 65–93) zu Lothar Pikuliks Beitrag "Schopenhauer und die Romantik"
(vgl. S. 95–111); Franziska Schössler widmet sich unter dem Titel "Zwischen romantischer Verlockung und dämonischer Rationalität" Stifters Erzählung Der Waldsteig (vgl. S. 113–125); Walter Schmitz und Jochen Strobel geben ihren Überlegungen zu "ein[em] ungedruckte[n] Brief Ludwig Tiecks an Wilhelm Heinrich Wackenroder" die Überschrift "Teleskop und Briefverkehr" (vgl. S. 127–142) und Heinz-Peter Niewerth überprüft akribisch anhand der vom Freien Deutschen Hochstift im Frühjahr 2002 angekauften "Neisser Manuskripte[n]" die Edition von "Eichendorffs >Zauberei im Herbste<" (vgl. S. 143–157), während Volkmar Stein seine Lektüreeindrücke einer gut zwei Jahrzehnte währenden Beschäftigung von Dichter und ihre Gesellen wiedergibt (vgl. S. 159–170); Ralf Klausnitzer zeichnet in einem lesenwerten Beitrag unter der Überschrift ">Taugenichts< im real existierenden Sozialismus" "Aspekte der Eichendorff-Rezeption in der DDR" nach (vgl. S. 171–195), bevor schließlich Irmela Holtmeier die "Eichendorff-Bibliographie" fortschreibt (vgl. S. 197–201) und Buchbesprechungen den Band wie gewohnt abrunden.

Neue Herausgeber
– aber (noch) keine
inhaltliche Neukonzeption

Inhaltlich-konzeptionelle Neuerungen bietet die erste Aurora im neuen Verlag und mit einem fast komplett neuen Herausgeberteam also nicht. Ab kommendem Jahrgang sollen jedoch thematische Schwerpunkte auch für inhaltliche Neuerungen sorgen. Die Bände 63 und 64 werden, so die Herausgeber im Editorial, unter den Themen "Dämonen, Geister, Wiedergänger" und "Romantik und Naturwissenschaft" stehen. Vor allem von Letzterem darf man sich interessante neuere Aspekte im Eichendorff-Jahrbuch erhoffen, wie auch Holger Helbigs Besprechung der Habilitationsschrift Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment des Jahrbuch-Mitherausgebers Jürgen Daiber verdeutlicht: "Neu sind das Verfahren, die Textanalysen auf der Grundlage eines spezifischen Experimentbegriffs durchzuführen und seine konsequente Herleitung aus der Naturwissenschaft" (S. 204). 1

Buchbesprechungen

Josef Schreier lobt Sophia Vietors 2 Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Werk als "Parforce-Jagd durch die geistige Welt des Novalis wie auch durch die einschlägige Forschung" (S. 208), hebt den "innovatorischen Anspruch" bei Verena Anna Lukas' Der Dialog im Dialog: Das Inzitament bei Friedrich von Hardenberg positiv hervor (S. 211) und weist vor allem auf die "in dieser Intensität wohl bisher noch nicht wahrgenommen[e] [...] Parallelität zwischen Hardenbergs Werk und Herders Humanitätsbriefen" hin (S. 210). Carsten Lange lobt die "hervorragende[] Arbeit beider Herausgeber der Bände V/1, V/2 und V/4 der Historisch-Kritischen Eichendorff-Ausgabe (S. 213). Harald Neumeyer hingegen kritisiert Detlef Kremers Romantik-Monographie "als eine kühle, am Reißbrett abgezirkelte Konstruktion, in der alles, inklusive Vor- und Nachläufer, Hintergründe und Einflüsse, Misch- und Untergattungen, unhinterfragt seinen Platz findet" (S. 215).

Harsch und leider nicht ohne Polemik ist die Kritik von Klaus Manger an Nicola Kaminskis Studie Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Die Untersuchung verstricke sich in einem "Spielraum, der insofern gefährlich ist, als in ihm nicht nur die Grenzen zwischen den einzelnen Werken aufgeweicht zu werden, sondern generell die Konturen von historischer und fiktiver Welt zu verschwimmen drohen" (S. 220). Marco Puschner hingegen bezeichnet den von Walter Pape herausgegebenen Sammelband: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik nicht zuletzt deshalb "als gelungen", weil er die Misstöne und Dissonanzen der Berliner Romantik nicht ausblende (S. 219).

Rita Morriens Untersuchung Sinn und Sinnlichkeit. Der weibliche Körper in der deutschen Literatur der Bürgerzeit biete – so das Fazit von Thomas Schmidt – "eine hervorragende Basis dafür, die eigene Qualität literarisierter Körperbilder im Konzert der ästhetischen, anthropologischen, medizinischen und pädagogischen Stimmen um 1800 vergleichend herauszuarbeiten – inklusive der Frage, wie sich die literarische Konstruktion des weiblichen Körpers zum antiken, d.h. männlichen Schönheitsideal Winckelmannscher Prägung verhält." (S. 223)

Während Carsten Lange in einer weiteren Besprechung die Monographie von Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano als "ständigen Bezugspunkt" künftiger Brentano-Forschung herausstellt (S. 229), verbietet sich mir ein näheres Eingehen auf meine positive Kritik der Habilitationsschrift von Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (vgl. S. 223–226)

Faust-Puppenspielsammlung in Weimar

Den Reigen der Beiträge eröffnet Konrad Kratzsch mit einer detaillierten Abhandlung zu den Faust-Puppenspielen. Die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek besitzt 32 Aufzeichnungen von Faust-Puppenspielen aus dem Besitz des Leipziger Arztes Gerhard Stumme. "Sie sind Bestandteil der >Faust-Sammlung<, die mit ihren 13 000 Sammlungsstücken eine einmalige Kollektion von höchstem kulturgeschichtlichem Wert ist" (S. 1), zumal die Gattung Puppenspiel schriftlich oder gedruckt selten überliefert ist. Nach der knappen Rekonstruktion der Geschichte dieser Sammlung paraphrasiert Kratzsch mehrere verschiedene Puppenspiele, zunächst ausführlich den Inhalt "eines originalen Stückes von Friedrich Hentschel" (S. 7) oder das 1893 von Johannes Wüstemann aufgezeichnete Stück Dr. Johann Faust. Drama in 6 Akten (vgl. S. 20–28), den 150 Seiten umfassenden Text von Dr. Faustus oder die verhängnisvolle Osternacht. Tragödie in 4 Akten mit einem Vorspiel (vgl. S. 28–30), einem Stück, das sich auf die 1859 in Paris uraufgeführte Oper Margarete von Charles Gounod bezieht, oder etwa die Wiedergabe des Schauspiels Faust und Margarate von C. Th. Grimmer (vgl. S. 31–33). Näher vorgestellt wird u. a. auch "ein ganz kurioses Stück" (S. 33), nämlich Doctor Faust. Zauber-Drama in 3 Acten des Münchner Generals Karl W. von Haydeck. Zuvor allerdings skizziert Kratzsch das "Handlungsschema des größten Teils der Faust-Puppenspiele" (S. 7). Es wird demnach

von zwei Handlungsträgern bestimmt, der Faust-Handlung und der Kasper-Handlung, wobei der Kasper verschiedene Namen trägt, Kasper, Kaspar, Hans Wurst u. a. Beide Handlungen berühren sich im Stück immer wieder, sie sind unterschiedlich ausgeprägt und machen somit die Zwiegesichtigkeit des Stückes aus. Als Verbindung dieser beiden Handlungsstränge wirken Fausts Famulus, zumeist Wagner geheißen, und der teuflische Verführer Mephistopheles, dessen Name unterschiedlich geschrieben wird und oft nur als Abkürzung steht. Je nach Gewichtung der Handlung auf eine der beiden Gestalten erwächst der tragische oder komische Charakter des Stückes. (S. 7)

Bevor Kratzsch im Anhang ein detailliertes "Verzeichnis der Faust-Puppenspieltexte aus der Sammlung Stumme" gibt, zieht er das nüchterne Fazit:

So ist das Faust-Puppenspiel, wie es sich uns in den 32 Texten darbietet, keineswegs ein Menschheitsdrama von höchstem philosophisch-religiösem Inhalt und artifiziellem Anspruch, es ist ein Lehrstück, das die Erkenntnis vermitteln will, dass der Mensch, der in übersteigerter Selbsteinschätzung den Respekt vor der Gottheit verloren hat, seine gottgegebene Existenz verliert. (S. 49)

Warum diese informative, in weiten Teilen Inhalt paraphrasierende, gleichwohl lesenswerte Abhandlung jedoch im Eichendorff-Jahrbuch und nicht etwa im Goethe-Jahrbuch oder im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts zu finden ist, will nicht ganz einleuchten. Hingegen stellt sich die Frage des thematischen Bezugs zum Publikationsort bei den anderen Beiträgen nicht.

Caspar David Friedrich
und das >offene Kunstwerk<

Der Trierer Kunsthistoriker Reinhard Zimmermann untersucht "Caspar David Friedrichs Bildverständnis und die Frage des >offenen Kunstwerks<". Demnach berührt die "Frage einer möglichen Bedeutungsoffenheit" den Kern des Friedrichschen Kunstverständnisses (S. 67). Zentral für dessen Bildverständnis sei die Begriffstrias von Kopf, Herz und Hand, also das ausgewogene Verhältnis der handwerklich-technischen Fertigkeit, des geistigen Gehalts und der "Ansprache an das Gefühl" (ebd.). Den "Zeugnisse[n], die für die Existenz eines Konzepts der Bedeutungsoffenheit bei Friedrich sprechen" (vgl. S. 73 ff.) – nämlich einer Tagebuchnotiz von Turgenjew von 1825 und einer Passage aus den Friedrichschen Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden um 1830 – stellt Zimmermann "Zeugnisse" entgegen, "die gegen das Vorhandensein eines Konzepts der Bedeutungsoffenheit bei Friedrich sprechen" (vgl. S. 75–81), um seine "differenzierte Sicht" (S. 81) in Auseinandersetzung mit einzelnen Forschungspositionen zu entwickeln. Um 1820 habe Friedrich sich

den Gedanken der Bedeutungsoffenheit zueigen gemacht, und zwar in einer nicht ganz konsequenten Form. Einerseits gesteht er dem Betrachter zu, eine eigene Deutung mit seinem Werk aus seiner, Friedrichs, Hand zu verbinden. Auf der anderen Seite hat er aber offenbar nicht darauf verzichtet, diesem Werk den authentischen, von ihm zugrundegelegten Gedanken zuzuordnen. (S. 81)

Zimmermann erkennt letztlich keine Notwendigkeit "für eine grundsätzliche Revision" der C. D. Friedrich-Deutungen Helmut Börsch-Supans und sieht die Forschungsdifferenzen 3 meist weniger in einer "bestimmte[n] Deutung" begründet als vielmehr in einem "jeweils zugrunde liegenden Romantikverständnis" (S. 89). Deshalb plädiert er abschließend dafür, auf den "Begriff der Subjektivität" als Ausdruck der Modernität des Künstlers Friedrich, der forschungsgeschichtlich analog der Bedeutungsoffenheit seiner Kunst verwendet werde, zu verzichten, "und so eine unbefangenere und angemessenere Sicht auf Caspar David Friedrich zu ermöglichen" (S. 93). Trotz dieser differenzierten, kunsthistorischen Sicht auf das Bildverständnis des großen Dresdner Künstlers Friedrich, bleibt eine eingehendere Beschäftigung gerade mit dem religiösen Hintergrund Friedrichs, wie sie Werner Busch jüngst vorgelegt hat, ergiebig.

Schopenhauers Nähe
und Distanz zur Romantik

Die vermeintliche und tatsächliche Gegnerschaft Arthur Schopenhauers zur Romantik untersucht Lothar Pikulik. Beide hätten, obwohl Zeitgenossen, "keine oder nur wenig Notiz von einander genommen" (S. 95). Dabei gebe es in mindestens drei Punkten Berührungen. Zum einen im jeweiligen Transzendenz-Verständnis als einer transzendenten Immanenz. Zum zweiten in der für beide charakteristischen "Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos" (S. 99) und zum dritten schließlich "berühren sich Schopenhauer und die romantische Metaphysik darin, dass sie von einem Dualismus der Sphären ausgehen" (ebd.). Bei "allem Trennenden" ließe sich doch "von einer tieferen Geistesverwandtschaft zwischen beiden Seiten" sprechen (S. 111), wie etwa auch Schopenhauers Verhältnis zu Magie, Magnetismus und Traumpsychologie deutlich mache. Schopenhauers Distanz zur Romantik beruhe letztlich auf deren religiöser Tendenz. Zwar entstammten Schopenhauers Pessimismus und der romantische Utopismus

demselben weltschmerzlichen Lebensgefühl, sie divergieren aber im Versuch der Überwindung. Die romantische Kunst erstrebt die Ganzheit der Welt und des Menschen als ästhetischen Vorschein einer Welterlösung [...]. Schopenhauer dagegen plädiert für die Emanzipation von dem metaphysischen Urgrund, den er den Willen nennt. Die letzte therapeutische Konsequenz liegt für ihn in einem den Willen radikal verneinenden asketischen Quietismus. Dafür gibt es keinerlei Pendant in der Romantik. (S. 111)

Pikulik skizziert souverän die großen Linien zwischen Schopenhauer und der Romantik, im Detail wäre natürlich noch einiges zu verifizieren.

Modernitätserfahrung in
Stifters Waldsteig

Franziska Schössler macht in ihrem Beitrag "Zwischen romantischer Verlockung und dämonischer Rationalität" plausibel, wie in Stifters Erzählung Der Waldsteig romantische Konfigurationen – ähnlich denen etwa in Novalis Heinrich von Ofterdingen und Tiecks Runenberg – aufgerufen, zugleich aber auch aufgehoben werden, um eine "andere, neuartige Erfahrung artikulierbar" zu machen: "die Konfrontation mit der Vermassung, mit dem Untergang des einzelnen in der Menge" (S. 115). Stifter nehme das "romantische Paradigma, das Frau, Wald und Poesie verschränkt", auf (S. 125). Sein "iteratives Erzählverfahren" rücke jedoch gerade "Waldbegebenheit und Liebeserfahrung auseinander" (ebd.). Im Wald werde nur noch "der traumatische Prozeß radikaler Desymbolisierung erfahren", der Autor formuliere "also als Naturerfahrung, was innerhalb des Genres der Stadtliteratur zunehmend Raum greift –: den Untergang des einzelnen in der Masse" (ebd.). So erscheine der Wald letztlich "ähnlich wie in der Forstindustrie des 19. Jahrhunderts [...] als quantifizierbares Volumen seines Baumbestandes" (ebd.). Schösslers Erkenntnisse lesen sich durchaus plausibel, verdienten im Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft allerdings eine stärkere Rückbindung zur Romantik.

Anhand eines ungedruckten Briefes von Ludwig Tieck vom 16. Januar 1793 an seinen Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder in Berlin, in dem Tieck u. a. seiner Hoffnung Ausdruck gibt, dass "Herrschel doch einen Tubus erfände, womit man nach Berlin sehn könnte" (S. 129) und das Briefeschreiben selbst mit einem "Tubus" vergleicht, nehmen Walter Schmitz und Jochen Strobel das "Krisenszenario der >Erkenntnis<" (S. 140) an der >romantischen Epochenschwelle< in den Blick. Das >Romantische< werde – untermauert mit dem Verweis auf das zur Briefzeit von Tieck verfasste Versepos Roßtrapp – "gleichsam als Kulturtechnik der Erkenntnistechnologie der Naturwissenschaften analog gesetzt" (ebd.).

Nicht leicht nachzuvollziehen ist die Nachzeichnung der Manuskript- und Handschriftenlage zu Eichendorffs Zauberei im Herbste, die Heinz-Peter Niewerth nach dem Auffinden der so genannten Neisser Manuskripte gibt. Mit ihnen läßt sich, verkürzt gesagt, nun überprüfen, wie zuverlässig das "Märchen" bislang ediert wurde.

Eichendorff-Rezeption
im real existierenden Sozialismus

Als ein in der Tat "brisantes und aufschlußreiches Kapitel innerhalb der widersprüchlichen Romantikrezeption" (S. 173) im real existierenden Sozialismus präsentiert Ralf Klausnitzer seine "Aspekte der Eichendorff-Rezeption in der DDR". Weder literaturwissenschaftlich noch im Bereich der "kulturellen Öffentlichkeit", noch "auf der Ebene der Vermittlung durch Schule und Verlagswesen" wird Eichendorff einheitlich rezipiert (ebd.). Zwischen 1949 und 1962 wurde Eichendorff vielfach als jener romantische Antikapitalist gesehen, als den ihn Georg Lukács in einem Sammelband Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts verstanden wissen wollte.

Eichendorff war vor allem in den 50er Jahren in der DDR-Forschung durchaus präsent. "Den Höhepunkt dieser ersten Phase der Eichendorff-Rezeption bildete die 1962 im Berliner Aufbau-Verlag erschienene dreibändige Werk-Ausgabe"
(S. 178). Parallel zeigen die Forschungen Hermann August Korffs und Gerhard Schneiders, dass in dieser Phase eine ">unpolitische<" und >nicht-instrumentalisierende< Beschäftigung mit der Romantik und dem Werk Eichendorffs in der DDR durchaus möglich war" (S. 181). Auch im Schulunterricht fanden Eichendorffs Texte "bis 1965 Beachtung" (S. 184). Als in diesem Jahr die sozialistische Persönlichkeit als Bildungsziel in den Lehrplänen festgeschrieben wurde, kam es zur ">Austreibung< Eichendorffs und der Romantik aus dem Lektüre-Kanon" der DDR (S. 185). Alsbald jedoch erhielt Eichendorff eine Sonderrolle bei der Akzeptanz der Romantik als Teil der Nationalliteratur. Dabei prägte die Integration Eichendorffs in den >romantischen Antikapitalismus< bei gleichzeitiger Kritik an seinen >klassenbedingten< Beschränkungen die weitere Beschäftigung bis in die 1970er Jahre" (S. 187).

Ironisch gebrochen wurden schließlich, so Klausnitzer, die kulturpolitischen Kontroversen der 1960er Jahre in der DEFA-Verfilmung des Taugenichts von 1973, während das letzte Jahrzehnt der DDR vor allem "eine[n] versachlichten literarhistorischen Zugang zu Eichendorff" sowie "Stellungnahmen von Schriftstellern" zu Tage förderten, die Eichendorffs Texte auf gegenwärtige "Probleme der DDR-Gesellschaft bezogen" (S. 195). Bleibt zu hoffen, dass diesem spannenden Beitrag weitere Forschungen folgen, die sich gerade dieser literarischen Stellungnahmen von DDR-Autoren im einzelnen annehmen.

Somit war Eichendorff "wieder bei aufmerksamen, kritisch-sensiblen Lesern angekommen" (ebd.), während der thematisch etwas (zu) weit gespannte Band 62 des Jahrbuches ebenfalls wieder beim modernen Romantiker gelandet ist. Insgesamt also ein gelungener Start für das neue Herausgeberteam und den Verlag. Bleibt zu hoffen, dass die angekündigte thematische Verklammerung bei den künftigen Bänden gelingt, zumal dann, wenn wie bisher die Interessen zwischen Eichendorff-Fans im allgemeinen und der Forschung der Eichendorff- und Romantik-Spezialisten im besonderen wie in jedem Dichter-Jahrbuch für den jeweiligen Gegenstand abzuwägen sind.


Dr. Anton Philipp Knittel
Finkenweg 2
D-4223 Flein

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Ins Netz gestellt am 27.10.2003
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Anmerkungen

1 Siehe auch: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/regener.html   zurück

2 Siehe auch: http://iasl.uni-muenchen.de/ rezensio/liste/newman.html   zurück

3 Gegen Werner Buschs Argumentation etwa, wonach die Bedeutungsoffenheit des Kunstwerkes bei Friedrich sich dem Rückgriff auf Schelling verdanke, bemerkt Zimmermann: "Bei dieser Argumentation ist nicht ersichtlich, warum gerade Schelling den Schlüssel für den richtigen Umgang mit der Kunst Friedrichs formuliert haben soll" (S. 85). Interessant wäre hier eine detaillierte Auseinandersetzung in dieser Frage auch mit Werner Buschs neuestem Werk: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München: C. H. Beck 2003. Vgl. hierzu auch die Besprechung von Claudia Schmölders in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, 6 / 2003, S. 50–52.   zurück