Knittel über Unzeitgemäße Blicke auf einen rätselhaften Dichter und sein Werk?
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Unzeitgemäße Blicke auf einen rätselhaften Dichter und sein Werk?

  • Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam 2002. 359 S. Paperback. EUR (D) 8,60.
    ISBN: 3-15-017635-2.
  • Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 312 S. Kartoniert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-534-15712-5.
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Kleist und sein Å’uvre haben seit Jahrzehnten sowohl in Forschung und Lehre als auch auf der Bühne anhaltend ›Konjunktur‹. Besonders seit 1977, als sich der Geburtstag des Dichters zum 200. Mal jährte, lockt die »glasklare Rätselhaftigkeit und dunkle Eindeutigkeit« 1 der Texte Kleists immer wieder zu aktualisierender Lektüre innerhalb der Literaturwissenschaft. Kaum ein Jahr vergeht ohne inspirierenden Sammelband, ohne Kleist-Tagung, ohne voluminöse Monografie, ohne gewichtige Dissertation oder gar Habilitation. Damit steht seit Jahren die lebenslange Erfolglosigkeit Kleists im reziproken Verhältnis zu seiner Gegenwärtigkeit:

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Eben das, was den Zeitgenossen unheimlich war: die radikale Erkenntniskritik und die ebenso radikale Sprachkritik, gepaart freilich mit einer unvergleichlichen Fähigkeit zum plastischen Ausdruck und mit einem erstaunlichen psychologischen Blick für die menschlichen Abgründe, ist es dann gewesen, was Kleists Werken im 20. Jahrhundert den späten und großen Erfolg verschafft hat.
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Gegen enthistorisierende Begriffsakrobatik

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So formuliert Klaus Müller-Salget in seiner überzeugenden und gründlichen Reclam-Einführung (S. 8). Dabei rekurriert ein nicht unbedeutender Teil der Forschungsbeiträge vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten auf literaturtheoretische Debatten und Methoden, die ihren Ursprung vorwiegend in Frankreich und den USA haben. 2 Jochen Schmidt, seit gut drei Jahrzehnten in der Kleistforschung präsent, konstatiert in seiner 2003 bei der WBG erschienenen Monografie Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche: »Kein anderer deutscher Dichter hat den dekonstruktivistischen Impetus so sehr befeuert wie Kleist« (S. 43 f.), um zugleich scharfe und polemische Attacken gegen solcherart »antihermeneutische[ ] Text-Lektüren« zu reiten, die – innerhalb der Kleistforschung – zudem meist in »apodiktischer Peroration« (S. 45) und »enthistorisierender Dekonstruktion« (S. 42) vonstatten gingen. 3 Vor allem gegen die Vernachlässigung der »historischen Matrix« (S. 43) wendet sich Schmidt, wenn er – wie der Untertitel präzisiert – Kleists »Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche« liest.

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Weniger dezidiert antidekonstruktivistisch, jedoch nicht weniger dezidiert ›unzeitgemäß‹ (vgl. S. 16), will Klaus Müller-Salget seine Reclam-Einführung Heinrich von Kleist verstanden wissen. Auch Müller-Salget – ebenfalls seit gut drei Jahrzehnten als namhafter Kleistforscher wie als Mitherausgeber zweier DKV-Bände und seit einigen Jahren auch als Mitherausgeber des Kleist-Jahrbuchs tätig – ist der »Nebel der Subjektivismen und/oder augurenseliger Begriffsakrobatik« »postmodernistischer Spekulationen« ein Dorn im Auge (S. 15). Daher intendiert er eine »möglichst nüchtern[e]« Lektüre der Kleistschen Werke (ebd.).

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Und in der Tat, Müller-Salget geht schnörkellos und unprätentiös ans Werk. Nach einer knappen Einleitung (vgl. S. 7–16) mit noch knapperen Hinweisen zur Rezeption, Forschung und zu Textausgaben, widmet er sich in zwei Teilen, die insgesamt in 20 Kapitel gegliedert sind, Leben und Werk Heinrich von Kleists. Chronologisch verfährt er in Teil I, wobei jedes der acht Kapitel in der Regel mit Aufenthaltsort(en) des lebenslang unbehausten Dichters und entsprechenden Jahreszahlen überschrieben ist:

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Frankfurt (Oder), Berlin 1777–1792 (S. 18–24); Die Militärzeit 1792–1799 (S. 25–33), Frankfurt (Oder), ›Würzburger Reise‹, Berlin 1799–1801 (S. 33–58), Dresden, Paris, Thun 1801/1802 (S. 58–68), Weimar, Leipzig. Schweiz. Paris, St. Omer, Mainz, Paris 1802–1804 (S. 68–76), Berlin, Königsberg. Fort de Joux, Châlons-sur-Marne 1804–1807 (S. 76–87), Dresden. Österreich 1807–1809 (S. 88–103), Berlin 1810/1811 (S. 104–122).
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Steht am Anfang der Biografie die Unsicherheit über das genaue Geburtsdatum Kleists – Müller-Salget folgt hier den Überlegungen Horst Häkers und plädiert für den von Kleist immer angegebenen 10. Oktober 1777 – so steht nach präziser Darlegung auf rund 100 Seiten der Aufsehen erregende »Doppelselbstmord in Berlin« (S. 121). Bernd Hamacher ist in seinem Urteil über Müller-Salgets Einführung im Kleist-Jahrbuch (2004) zuzustimmen, wenn er schreibt:

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Die gesicherten Fakten werden mit prägnanter Ausleuchtung der Kontexte zu einer spannenden Darstellung verknüpft, die vor allem durch ihren analytischen Scharfsinn im Umgang mit biographischen Legenden und Spekulationen – besonders prominent im Umfeld der Würzburger Reise [...] – besticht. 4
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Tatsächlich ist bei der Darstellung der Würzburger Reise, wo sich »erstmals Ansätze zu einer poetischen Adaption und Überformung von ›Wirklichkeit‹ finden«, Müller-Salgets Vermögen offensichtlich, auf knappstem Raum das Wesentliche zu sagen, Für und Wider der verschiedenen Thesen zu erörtern und eigene Überlegungen plausibel zu machen. Doch nicht nur bei der Darstellung dieser Reise enthält sich Müller-Salget nicht der Werturteile. So etwa wenn er das Kleist »kennzeichnende Schwanken zwischen Euphorie und tiefster Depression« als »manisch-depressive Persönlichkeitsstruktur deutet« (S. 24), oder aber, wenn er die »übereilte Verlobung« mit Wilhelmine von Zenge als Kleists Versuch versteht,

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[...] Ordnung in sein Leben und in seine Emotionalität zu bringen, sich bürgerlichen Forderungen anzupassen, als ein Versuch – wie der ähnlich veranlagte Thomas Mann 5 nach seiner Eheschließung an den Bruder Heinrich schrieb –, sich ›eine Verfassung‹ zu geben. (S. 40).
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Bernd Hamachers Urteil über Müller-Salgets Studie ist überdies zuzustimmen, wenn er am biografischen Teil die konzise Darstellung der publizistischen Unternehmungen Kleists hervorhebt und zugleich bemängelt, dass Müller-Salget die Berliner Abendblätter nur ansatzweise und in »gewollter Absetzung vom aktuellen Forschungstrend« – 6 vor allem in jüngster Zeit durch Sibylle Peters – 7 dem eigentlichen Werk zuordnet.

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Ist Teil I –»Leben« überschrieben – chronologisch und lokal gegliedert, so ordnet Müller-Salget im zweiten Teil in insgesamt zwölf Kapiteln seine Analysen des Kleistschen Å’uvres thematisch mit Ausnahme der Lyrik sowie der Berliner Abendblätter, die eigene Kapitel erhalten.

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Nach einführenden Bemerkungen (vgl. S. 124–142), verhandelt er Werke wie Die Familie Schroffenstein, Die Verlobung in St. Domingo oder das Erdbeben unter Aspekten wie »Vieldeutigkeit der Welt und das Problem des Vertrauens« (S. 142‑169), während etwa Amphitryon und die Marquise unter dem Blickwinkel »Männliche Gewalt und weibliche Identität« vorgestellt werden (S.169–186). Auf »Recht und Gerechtigkeit« fokussiert Müller-Salget den Krug und Michael Kohlhaas (S. 186–210), während etwa das Bettelweib und die Heilige Cäcilie unter der Frage »Eingriffe von ›oben‹?« (S. 284–291) oder Der Findling und Der Zweikampf unter dem Thema »Bündelungen« abgehandelt werden (S. 292–307). Immer jedoch ist Müller-Salgets Buch, wie Hamacher zu Recht betont, »als verlässlicher Wegweiser durch das Kleistsche Textlabyrinth mit Nachdruck zu empfehlen« 8.

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Dennoch sind, wie Hamacher ebenfalls treffend feststellt, kleinere Schwächen unvermeidlich, etwa Ausführungen zu der Namensgebung »Gustav-August« in der Verlobung oder aber Aussagen zur nicht-justitiablen Intrige Natalies im Prinz Friedrich von Homburg. Und noch ein letztes Mal möchte ich Hamacher zustimmen, wenn er das Fazit zieht: »Wenn nur das Bessere ein Feind des Guten ist, kann Müller-Salget sich mit seiner für jede Einführung in Kleists Leben und Werk künftig unverzichtbaren Darstellung auf absehbare Zeit hinaus im Kreise von lauter Freundinnen und Freunden fühlen.« 9

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Kleists aufklärerisches Engagement

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In einem solchen Kreise weniger Zuhause dürfte sich Jochen Schmidt mit seiner gleichwohl ebenfalls gelungenen Kleist-Monografie fühlen, polemisiert er doch zu sehr und vielfach auch zu sehr vereinfachend, wie eingangs geschildert, gegen ›dekonstruktivistische‹ Ansätze in der Kleistforschung. 10 Im Gegensatz zu Müller-Salget geht Schmidt nicht nach thematischen Bündelungen vor. Vielmehr legt er, wie ebenfalls bereits betont, starkes Gewicht auf eine historische Verortung Kleists.

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Infolgedessen untergliedert Schmidt seine Monografie in drei Teile. Zunächst skizziert er den »historischen Horizont« (S. 7–48), wobei eben nicht nur Kleists Lebensweg umrisshaft und allzu knapp wiedergegeben wird, sondern auch ein kursorischer Blick auf die jüngere Rezeptionsgeschichte (samt Polemik gegen dekonstruktivistische Forschungsansätze) erfolgt, ehe sich Schmidt im zweiten Teil den »Dramen« (S. 49–179) und abschließend den »Erzählungen« widmet (S. 180–295):

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Kleist schrieb in einer historischen Situation, die geprägt ist von der Erschütterung der alteuropäischen Gesellschafts- und Staatenordnung. Das Jahrhundert der Aufklärung und der krisenhafte Umbruch, der seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Europa erfasste, bestimmt seine Fragestellungen. (S. 17)
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So skizziert Schmidt einleitend die »geistige und politische Situation um 1800«. Diese »historische Matrix« ist immer wieder die Folie (S. 43), die zum Prüfstein der Schmidtschen Dramenlektüre wie auch der Erzählanalysen wird. Schmidt sieht Kleist im dialektischen Verhältnis romantischer und aufklärerischer Geistesverfassung (vgl. S. 21), seine Gesellschaftskritik ist demnach rousseauistisch grundiert. 11 Dagegen begreift Schmidt Kleists Auseinandersetzung mit der Justiz im Kontext der preußischen Aufklärung und sieht Kleists Religions- und Kirchenkritik in erster Linie über Voltaire und Helvétius vermittelt. Immer wieder geht es Schmidt in seinen Lektürevorschlägen um die Situierung des jeweiligen Textes in seiner Zeit, um so der These von Kleists Abkehr von der Aufklärung zu widersprechen, wie Klaus Müller-Salget in seiner Besprechung betont. 12

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Müller-Salget, ob seiner genauen Kleist-Lektüre von Bernd Hamacher gelobt, ist in seinem Fazit nur zuzustimmen: Von Schmidts Buch, so Müller-Salget, dürfte ein »bleibende[r] Einfluss auf die Kleist-Forschung« ausgehen, vor allem deshalb, weil es »das Verdienst hat, mit einer Neusituierung Kleists in seiner Zeit, mit dem Beharren darauf, dass Kleist entgegen mancher neueren Darstellung durchaus einem aufklärerischen Engagement treu geblieben ist, eine ebenso dezidierte wie historisch fundierte Position zu beziehen, die zu widerlegen sehr schwer fallen dürfte« 13.

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Fazit

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Insofern mögen beide Kleist-Monografien in mancherlei Beziehung vielleicht bewusst »unzeitgemäß« sein. Ob jedoch eine Kleist-Lektüre, die die – tatsächlichen und/oder vermeintlichen – ›Zeitgemäßheiten‹ eines Gros der aktuellen Forschung zu vermeiden sucht, per se ihrem Gegenstand ›zeitgemäßer‹ ist, muss hier offen bleiben. Gleichwohl ›befeuern‹ Müller-Salgets und Schmidts ›Zeitreisen‹ als stringente und fundierte Lektüren jedenfalls die anhaltende Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem Werk.



Anmerkungen

Paul Michael Lützeler / David Pan (Hg.): Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, hier S. 7. Vgl. hierzu auch meine Besprechung in: Wolfgang Barthel / Rolf-Peter Janz (Hg.): Beiträge zur Kleist-Forschung. Frankfurt/O.: Kleist-Museum 2002, S. 323–328, und meine Besprechung Frankfurter Bilanzen der Frankfurter Tagungsbände sowie der neuen Dauerausstellung im Frankfurter Kleist-Museum. In: Kleist-Jahrbuch 2005, S. 300‑309.   zurück
Vgl. auch Marianne Schuller / Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Kleist lesen. Bielefeld: transcript 2003. Vgl. hierzu auch meine Besprechung unter www.kleistonline.de.   zurück
»In den Achtziger Jahren hatte die Dekonstruktion durch ihren Bruch mit traditionellen Interpretationsmustern noch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet. Inzwischen aber konstituieren die meisten Dekonstruktivisten selbst eine orthodoxe Gemeinde [...]. Methodisch bedient sich der literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus eines bereits stereotypisierten Repertoires, wie sich auch in der Kleist-Forschung zeigt. Erstens gibt er Komplexitäten als Inkonsistenzen aus. Zweitens dekontextualisiert er einzelne Elemente, um sie entweder werksprengend absolutzusetzen oder sie mittels assoziativ mobilisierter ›Diskurse‹ dekonstruktivistisch umzukodieren. [...] Eine dritte Methode lässt sich als hermeneutischer Kurzschluß charakterisieren. [...] Zum manipulativen Repertoire des Dekonstruktivismus gehört viertens die Auflösung von Korrelationsgefügen mit der Absicht, relative Differenzen und operationelle Widersprüche zu absoluten Differenzen und prinzipiellen Gegensätzen zu radikalisieren, um davon ausgehend die – in diesem Fall nicht strukturelle, sondern konzeptionelle – Inkohärenz eines Werkes zu behaupten« (S. 46 f.).   zurück
Bernd Hamacher: Einübung in genaues Lesen. In Kleist-Jahrbuch 2004, S. 155–159, hier S. 157.   zurück
Müller-Salgets Hinweis auf die ›ähnliche Veranlagung‹ Kleists und Thomas Manns ist überflüssig und führt im Zusammenhang mit seinen Bemerkungen zu »Kleists Identität als Mann« (S. 39) nicht weiter, betont er – gerade mit Blick auf die Briefe Kleists an Friedrich Lose und Ernst von Pfuel – doch zu Recht die Tatsache, dass »die vorliegenden Zeugnisse kaum zur Konstatierung eindeutiger Homosexualität« ausreichen (S. 40).   zurück
Vgl. Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.    zurück
Bernd Hamacher: Einübung in genaues Lesen. In Kleist-Jahrbuch 2004, S. 155–159, hier S. 158.   zurück
Ebd., S. 159.   zurück
10 
Eingehender mit Jochen Schmidt setzt sich jüngst Helga Gallas in ihrer lesenswerten Monografie auseinander: H. G.: Kleist. Gesetz – Begehren – Sexualität. Frankfurt/M. / Basel: Stroemfeld / Nexus 2005. Zu Gallas vgl. auch meine in Nr. 2, Februar 2006, unter www.literaturkritik.de erschienene Besprechung.    zurück
11 
Beispielsweise liest Schmidt Penthesilea vor dem Hintergrund der Kleistschen Rousseau-Rezeption (vgl. S. 35). »Der gemeinsame Nenner ist eine grundsätzlich negative Wertung des gesellschaftlichen Lebens« (S. 37). Den Einfluss Rousseaus betonte zuvor auch Urs Strässle, der eine ›materialistische‹ Lektüre versucht. Vgl. hierzu meine Besprechung unter www.kleistonline.de. Rousseauistisch liest Jochen Schmidt etwa auch Die Familie Schroffenstein (v.a. S. 55 ff.).   zurück
12 
Klaus Müller-Salget: Kleist zwischen Aufklärung und Romantik. In: Kleist-Jahrbuch 2004, S. 151‑154, hier S. 152.   zurück
13 
Ebd., S. 154.   zurück