Mit Christopher New auf analytisch-philosophischen
Wegen zur Literatur
- Christopher New: Philosophy of Literature. An Introduction.
London, New York: Routledge 1999. 151 S. Kart. EUR (D) 27,26.
ISBN 0-415-14486-8.
Übersicht
Christopher New hat mit Philosophy of Literature eine
rundum empfehlenswerte analytische Einführung in die philosophische
Auseinandersetzung mit Literatur vorgelegt. In neun Kapiteln werden
Explikationen des Begriffs >Literatur< und des
Fiktionalitätsbegriffs, das Problem psychischer Einstellungen
gegenüber fiktionalen Gegenständen, die Begriffe der Imagination
und der Metapher, der Zusammenhang von Interpretation und Autorintention, der
Zusammenhang von Literatur und Wahrheit sowie Formen literarischer
Beurteilung behandelt.
Jedes der Kapitel wird durch eine kurze, die jeweilige
Fragestellung darlegende Einleitung eröffnet und durch eine
zusammenfassende Überleitung zum Folgekapitel beschlossen. Den ersten
Kapiteln kommt darüber hinaus der Status einer allgemeinen
Einführung in Vorgehensweise und Methode zu: der Anfänger wird hier
mit Grundzügen des in analytischer Tradition stehenden Denkens und
Argumentierens vertraut gemacht – zu nennen ist insbesondere eine
Einführung in die >Meta-Disziplin< der Begriffsanalyse. Weitere
Kennzeichen des – mustergültig verfolgten – analytischen Vorgehens sind
der weitgehende Ausschluss historisch-exegetischer Fragestellungen, die
Orientierung an >vortheoretischen< Intuitionen sowie das Bemühen
um begriffliche und argumentative Klarheit.
Werden philosophische Meinungen diskutiert, steht ein
dezidiertes Interesse an der Wahrheitsfrage im Vordergrund – ein Verfahren,
dessen Ziel John Hospers pointiert als Beantwortung der Fragen "What do
you mean? and How do you know?" charakterisiert hat.
1 New verfolgt – das wird schnell klar
– kein historisches Interesse; ihm geht es nicht primär um eine
Darstellung verschiedener, in der Tradition der philosophischen
Beschäftigung mit Literatur gegebener Theorien und Thesen zu seinen
Themen, sondern die Probleme selbst stehen zu Debatte; herangezogen wird nur,
woraus sich – sei es durch Affirmation oder Abgrenzung – ein klärender
Beitrag zur Problemlösung gewinnen lässt.
Schon die Wahl der Kapitelthemen kann den
Argumentationszusammenhang der analytischen Ästhetik (als einer
Teildisziplin der analytischen Philosophie) 2
kaum verleugnen. Jedem der Themen ist in den vergangenen Jahren ein
beträchtliches Interesse zuteil geworden, und so nimmt es nicht Wunder,
dass New das Forum der "Einführung" nicht nur zur Vorstellung
der Probleme selbst nutzt, sondern stets seine eigene Position argumentativ
zu Gehör bringt. Es sind insbesondere diese Passagen, in denen
Philosophy of Literature einen substanziellen Beitrag zur
gegenwärtigen Diskussion leistet, und die das Buch auch für den
fortgeschrittenen Leser zur empfehlenswerten Lektüre werden lassen.
(Über Einzelnes wird weiter unten noch zu reden sein.) Manches Thema,
etwa der Komplex der Narratologie, bleibt unterbelichtet, aber ein
tadelnswertes Defizit ist das – gegeben die Notwendigkeit der Selektion und
den Charakter der Einführung – sicher nicht.
Sparsame Literaturverweise, Aus- und Seitenblicke (etwa zur
nicht-fiktionalen Literatur) sowie ein den Leser in vorbildlicher Weise bei
der Hand nehmender Duktus runden das Bild ab. Wer eine klar geschriebene,
sorgfältig argumentierende analytische Einführung in die
Philosophie der Literatur sucht, ist bei New an der richtigen Adresse. – Nun,
da dies gesagt ist, ist es Zeit, die Kapitel etwas genauer anzusehen und ein
paar Details unter die Lupe zu nehmen.
Was ist Literatur? (Kapitel 1 und 2)
Sechs bisherige Versuche, eine essentielle Definition des
Literaturbegriffs zu finden, hält New für gescheitert. Weder
formalistische, noch strukturalistische, noch rezeptionsästhetische,
noch sprechaktbasierte, noch institutionelle Ansätze oder Stein H.
Olsens "social practice"-Theorie können demnach einlösen,
was sie zu versprechen scheinen: die Angabe notwendiger und (zusammen)
hinreichender Bedingungen für das Vorliegen der Eigenschaft der
"Literarizität".
Die Ursache des Scheiterns lokalisiert New gleichsam an der
Wurzel: Die Annahme, es müsse eine essentielle Definition des
Literaturbegriffs geben, ist unbegründet; dem so vielgestaltigen
Phänomen der Literatur kann nur gerecht werden, wer einem geeigneteren
Explikationsmodell folgt. Für New stellt das auf Wittgenstein
zurückgehende Konzept der "Familienähnlichkeit" ein
solches Modell dar. Demnach gibt es gewisse Eigenschaften (etwa verschiedene
Formen gebundener Rede oder sonstige Stilistika, vgl. S. 36), auf die wir zur
Rechtfertigung von Urteilen der Form "X ist ein literarisches Werk"
verweisen können. Keiner dieser Eigenschaften kommt jedoch der Status
einer notwendigen Bedingung zu; manch ein literarisches Werk besitzt
viele dieser Eigenschaften, manch eines vielleicht nur eine einzige, zudem
gibt es Grenzfälle, d.h. Fälle, in denen nicht klar ist, ob ein
Fall von Literatur vorliegt.
Wie steht es um die Brauchbarkeit dieses Ansatzes? Gewiss ist
New darin zuzustimmen, dass das "Familienähnlichkeitskonzept"
gegen eine Reihe der an den zitierten Ansätzen aufgezeigten
Schwächen immun ist. So kann man etwa keine Gegenbeispiele – den
>Todesstoß< vieler mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen
operierender Ansätze – anführen, und auch das "marginal cases
problem" lässt sich in den Griff bekommen. New unterlässt es
jedoch, das Familienähnlichkeitskonzept selbst oder seine Anwendung auf
den Literaturbegriff einer Kritik zu unterziehen.
Hier sei nur auf eine mögliche Schwachstelle verwiesen:
Damit Gegenstände, die unter den Begriff "Literatur" fallen,
von Gegenständen, für die dies nicht gilt, unterschieden werden
können, müsste zumindest die Klasse von Eigenschaften, deren
Vorliegen eine Subsumption unter den Literaturbegriff rechtfertigen
können, hinreichend genau umrissen sein, d.h. über die Mitglieder
der Klasse müsste Klarheit herrschen; andernfalls dürfte der
Literaturbegriff schlicht zu weit werden und seine distinktive Kraft –
und damit seinen Nutzen – einbüßen: gewisse Eigenschaften
teilen literarische Werke nämlich auch mit Kochrezepten, Rezensionen
oder Fußbällen (der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt). Das bloße Vorliegen von Ähnlichkeiten eines
Objekts mit einem zweifelsfreien Fall von Literatur (im Sinne der
Gemeinsamkeit eines Eigenschaftsbündels) reicht offenbar nicht aus zur
Rechtfertigung einer Prädikationsaussage. 3
Fiktionalität (Kap. 3)
Seine Theorie der Fiktionalität konzipiert New auf
sprechakttheoretischer Grundlage. "Fiktionale
Äußerungen" sind demnach "para-illokutionäre Akte",
für die gilt, dass (1) ein Autor durch die Äußerung eines
Satzes (p) seine Leser oder Hörer dazu einlädt, sich p
als wahr vorzustellen; (2) der Autor nicht glaubt, dass p wahr
ist; (3) der Inhalt von p nicht auf "unbewusster Erinnerung"
des Autors beruht. Jeder dieser Qualifikationen kommt der Status einer
notwendigen Bedingung zu, und zusammen grenzen sie fiktionale von anderen
Äußerungsformen (wie >faktualer< oder ironischer Rede) ab.
Ein fiktionales literarisches Werk besteht in der Regel nicht nur,
jedoch zum größten Teil aus fiktionalen Sätzen, die in einem
narrativen Zusammenhang stehen.
Dieses Konzept News beruht im Wesentlichen auf einer
Weiterentwicklung der Fiktionalitätstheorien von John R. Searle und
Gregory Currie; beide Ansätze werden einer sorgfältigen Diskussion
und Kritik unterworfen. Von besonderem Interesse ist News Forderung nach
einer Qualifikation der oben genannten ersten Bedingung für fiktionale
Äußerungen: Demnach gilt diese Bedingung nur für fiktionale
literarische Werke, die über eine Erzählinstanz in der dritten
Person verfügen. Im Falle von Ich-Erzählungen (d.h.
Erzählungen aus der Perspektive der ersten Person) wird der Leser nicht
automatisch dazu aufgefordert, sich vorzustellen, ein vom Icherzähler
geäußerter Satz identifiziere einen (wahren) Sachverhalt in der
fiktionalen Welt des Werkes.
Ein angemessenes Verständnis erfordert vielmehr zuweilen
die Vorstellung, es sei wahr, dass eine Person (nämlich der
Icherzähler) einen falschen Satz äußere. – Aber stimmt
das? Richtig und wichtig ist der Hinweis News, dass Bedingung (1) in
Abhängigkeit von der >Erzählsituation< eines bestimmten
Werkes der näheren Bestimmung bedarf. Nicht immer wird der Leser dazu
aufgefordert, sich einen Satz p als wahr vorzustellen. Aber kann man
hier sauber zwischen Erzählungen in der ersten und solchen in der
dritten Person unterscheiden? Das simple grammatische Kriterium dürfte
versagen in Fällen interner Fokalisierung, die zwar in der dritten
Person erzählt werden, jedoch eine beschränkte (und
möglicherweise irrtumsbelastete) Figurenperspektive präsentieren.
Das >Paradox der Fiktion< (Kap. 4)
Um sich auf rationale Weise einem Gegenstand gegenüber
emotional zu engagieren, muss man in der Regel davon überzeugt sein,
dass es diesen Gegenstand auch gibt. (Man vergleiche: zu sagen "Ich
fürchte mich vor X und X gibt es nicht", scheint irrational zu
sein.) Von den Charakteren, die die fiktionalen Welten literarischer Werke
bevölkern, glauben wir nicht, dass es sie gibt. Gleichwohl zeigen wir
eine breites Spektrum emotionaler Reaktionen gegenüber fiktionalen
Charakteren. Wie kann das sein? Diesem (als "Paradox
of Fiction" bekannt gewordenen) Problem ist in jüngerer
Vergangenheit eine kaum überschaubare Anzahl philosophischer
Untersuchungen gewidmet worden. 4
News eigener Lösungsansatz nimmt sich aus wie folgt:
Zunächst ist die Annahme, man müsse von der Existenz eines
Gegenstandes überzeugt sein, um ihm gegenüber emotional zu
reagieren, schlicht falsch. Anhand einer Reihe von Beispielen zeigt New, dass
Emotionen unabhängig von Existenzannahmen verursacht werden können.
Ferner sind die solchermaßen evozierten Emotionen (genauer: Personen
als >Träger< der Emotionen) rational, da wir uns erstens in
aller Regel aus freien Stücken dafür entscheiden, uns das
literarische Werk (oder Theaterstück), in dessen Verlauf wir uns
emotional engagieren, zu Gemüte zu führen, und da zweitens die
emotional besetzte Imaginationsaktivität, in die wir lesend (oder als
Zuschauer) eintreten, bestimmte Wünsche und Bedürfnisse befriedigt.
Aber überzeugt dieser Ansatz? Es scheint, als könne
New lediglich plausibel machen, weshalb das Lesen fiktionaler literarischer
Werke und der Theaterbesuch rationale Angelegenheiten sind: Wir können
diese Aktivitäten etwa mit der Befriedigung von Wünschen und
Bedürfnissen begründen. Das >Paradox der Fiktion< verlangt
aber keine Antwort auf die Frage nach den Gründen für das Lesen
eines Buches oder den Theaterbesuch, sondern zu klären ist, worauf
die Emotionen des Lesers oder Zuschauers gerichtet sind, wenn es
denn richtig ist, dass (1) die psychischen Zustände von Lesern und
Zuschauern zutreffend als – per definitionem auf ein Objekt
>gerichtete< – Emotionen beschrieben sind und (2) Leser wissen, dass
fiktionale Gegenstände nicht existieren. (Man beachte: Die Frage ist
nicht, ob fiktionale Ereignisse für das Entstehen von Emotionen
kausal verantwortlich sein können, sondern ob sich ein Leser oder
Zuschauer, der sich den Satz "Ich fürchte X und X existiert nicht"
zuschreibt, rational verhält. Auf die letztere Frage hat New, so scheint
es, keine plausible Antwort.)
Unplausibel ist auch News Lösungsvorschlag, der als
>Paradox der Tragödie< bekannten Frage, weshalb Leser bzw.
Zuschauer die (fiktionale) Darstellung von Ereignissen, die für
gewöhnlich geeignet sind, negative Emotionen hervorzurufen,
genießen. New argumentiert, man >trainiere< im Medium der Fiktion
für das Eintreten der dargestellten Ereignisse in der Realität, und
das sei wünschenswert. Aber wer, so fragt man sich, glaubt schon daran,
das Schicksal etwa des Ödipus in der näheren oder ferneren Zukunft
erfahren zu müssen, und hält einen Trainingseffekt für
erforderlich?
Imagination (Kap. 5)
Im fünften Kapitel stellt New sich der Aufgabe, die
für seine Konzeption der Fiktionalität zentrale Kategorie der
"Imagination" zu erklären. Wichtige Kennzeichen des für die
Auseinandersetzung mit Literatur relevanten Begriffs der Imagination sind ein
"contrast with reality" (S. 72) – was immer man imaginiert, steht
einem nicht zugleich realiter vor Augen – und die Beteiligungen verschiedener
mentaler Vermögen: "The sentences we read or hear do not just
impart propositions to us; they also cause us to >picture<, to
>hear< and >feel< in our own way much of what they
describe."S. 77)
New betont, dass seine Ausführungen zum Begriff der
Imagination keine (vollständige) Theorie darstellen, sondern lediglich
Facetten des für sich genommen dunklen Begriffs erhellen können,
und tatsächlich wirken seine Ausführungen – im Vergleich etwa zur
Fiktionalitätstheorie – eher blass in dem Sinne, dass eine Reihe von
Fragen offen bleiben; gleichwohl stellen sie (als Bestandteil der
Explikation des Fiktionsbegriffs) einen erforderlichen und willkommenen
Ausflug in ein schwieriges (im Kern der Philosophie des Geistes
zugehöriges) Gebiet dar.
Metapher (Kap. 6)
Die Ausführungen zur Metapherntheorie können hier
nur kurz angerissen werden. (Nebenbei: Versteht es sich von selbst, im Rahmen
einer Einführung in die Philosophie der Literatur ein ganzes Kapitel der
Metapherntheorie zu widmen?) New favorisiert eine — wiederum
sprechakttheoretisch ausbuchstabierte — Modifikation der Ansätze
von John Searle bzw. Donald Davidson. Wie schon im Falle fiktionaler
Äußerungen werden metaphorische Äußerungen
verständlich als der Klasse der "para-illokutionären"
Akte zugehörig. News Fazit:
The act the utterer does perform is the
para-illocutionary one of nondeceptively pretending to perform an
illocutionary act in which a is represented as, or as not, b
[...], with the perlocutionary aim of getting the audience to recognise
similarities or dissimilarities between them. (S. 94)
Interpretation und Intention (Kap. 7)
Das 7. Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der
Relevanz der Autorintention für die Interpretation eines literarischen
Werkes. Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, welche
Sätze und Wörter den Text eines literarischen Werkes
ausmachen. Hier ist der Rekurs auf die Autorintention unverzichtbar: Um
tatsächlich das Werk Shakespeares (und nicht jemandes Modifikation) zu
interpretieren, müssen wir uns an das halten, was Shakespeare als
Bestandteil seines Werkes hat haben wollen. Die Intention des Autors bestimmt
die Identität des Werkes und berechtigt den Interpreten daher in
Fällen, in denen die vorliegende Textgestalt von der — in aller
Regel erschlossenen – Autorintention (etwa im Falle orthographische
Fehler) abweicht, der Intention des Autors nachträglich korrigierend zu
ihrem Recht zu verhelfen.
Ist der Text als solcher etabliert, kann die eigentliche
Interpretation, das Geschäft der Bedeutungszuweisung, beginnen. New
schlägt eine Unterscheidung dreier Bedeutungsebenen eines literarischen
Werkes vor:
- Die "lokutionäre" Ebene betrifft die
Bedeutung (mehrdeutiger) Einzelausdrücke,
- die "illokutionäre" Ebene betrifft
die illokutionäre Rolle einzelner Äußerungen (New diskutiert
das Vorliegen von Anspielungen, metaphorischer und ironischer Rede), und
schließlich gibt es noch
- die Ebene der >Gesamtbedeutung< eines Werkes
oder einzelner seiner Teile ("suprasentential level").
Ob der Autorintention bei der Bedeutungszuweisung ein
Stellenwert eingeräumt wird, hängt nun vom Interesse des
Interpreten ab: Sollen die Sätze des Werkes – im Sinne der
Sprechakttheorie – als Äußerungen aufgefasst werden,
so ist die Intention des Autors natürlich von Belang: Eine ironische
Äußerung etwa verstehe ich nur dann, wenn ich die Intention des
Sprechers kenne. Wird das Werk dagegen nicht als Äußerung eines
Sprechers aufgefasst, so verliert die Intention des Autors ihre Relevanz; wir
können uns dann für die (ästhetisch oder anderweitig)
"interessanteste" Lesart eines Wortes, einer Passage oder des
ganzen Werkes entscheiden, und diese Lesart kann von der vom Autor
intendierten abweichen. Insbesondere auf der Ebene der
>Gesamtbedeutung< des Werkes ist das keine Seltenheit: Während man
im gleichsam >basalen< Bereich einzelner Wortbedeutungen mit einer
intendierten Bedeutung rechnen kann, ist mit einer klaren Intention in Bezug
auf die Gesamtbedeutung eines Werkes nicht immer zu rechnen.
Mit seinem Plädoyer für die
Interessenabhängigkeit der Interpretation hebt sich New auf wohltuende
Weise von den >klassischen<, stark einseitigen Positionen der
Intentionalisten (E.D. Hirsch) bzw. Anti-Intentionalisten (W.K. Wimsatt /
M.C. Beardsley) ab, ohne die Suche nach Adäquatheitsbedingungen für
Interpretationen aufzugeben.
Nicht völlig klar wird allerdings, wie im Falle des
nicht-intentionalistischen Interpretationstyps dem Relativismus Einhalt
geboten werden soll. Denn wo liegen die Grenzen der
"interessantesten" Lesart, die wir einem (dann nicht als
Äußerung verstandenen) Text zuweisen können? Ein bestimmtes
Interesse ist stets >beobachterrelativ<, und man kann niemandem verbieten,
einem Text gegenüber irgendein Interesse zu entwickeln. Führt
dieser Interpretationstyp also in den Relativismus? New scheint diese
Konsequenz vermeiden zu wollen. Für die "lokutionäre"
Ebene führt er aus:
[O]nce we have the text, we can legitimately
interpret a word in a sense the author did not intend, provided it is a sense
the word could bear in the linguistic community which constituted the work's
primary audience. (S. 102)
New scheint hier das Bedürfnis einer, von der
Autorintention unabhängigen zusätzlichen Interpretationsnorm zu
verspüren, um beliebigen Bedeutungszuweisungen Einhalt zu
gebieten. Weshalb jedoch gerade der >historischen Angemessenheit< einer
Lesart der Status einer zusätzlichen Interpretationsnorm zukommt, wird
nicht eigens begründet (und schon für die "illokutionäre
Ebene" lässt sie sich wohl kaum verständlich machen) – und
dies ist ein Manko, bedenkt man, dass der Relativismusvorwurf eines der
stärksten Argumente der Verfechter einer strikt intentionalistischen
Bedeutungskonzeption – gegen die New zu Felde zu ziehen sucht –
darstellt.
Literatur, Wahrheit und Moral (Kap. 8)
Der Zusammenhang von Literatur und Wahrheit steht im achten
Kapitel zur Diskussion. New unterscheidet hier drei Fragen:
- Welche Aussagen über die >fiktionale
Welt< eines literarischen Werkes sind wahr?
- Spielt die Wahrheit von in fiktionalen Werken
enthaltenen Aussagen über die Wirklichkeit eine Rolle für die
literarische Wertschätzung?
- Spielt die Moralität (im Sinne der moralische
Zustimmungsfähigkeit) von Aussagen, die ein literarisches Werk
enthält, eine Rolle für die literarische Wertschätzung?
Die Frage, welche Sätze >fiktional wahr<
sind, ist nicht immer leicht zu beantworten. Ein Teil der fiktionalen
Wahrheiten wird durch die Sätze, aus denen der Text besteht, festgelegt,
weitere fiktionale Tatsachen werden logisch oder pragmatisch impliziert und
lassen sich erschließen. New diskutiert vier Prinzipien, nach denen der
Interpret bei der Bestimmung der nicht explizit vorgegebenen Wahrheiten
vorgehen kann. Da indessen keinem dieser Prinzipien der uneingeschränkte
Vorrang eingeräumt werden kann, muss man sich damit bescheiden, einen
beträchtlichen Teil der Beschreibungen einer fiktionalen Welt als
undeterminiert anzuerkennen, und das heißt: in vielen Fällen
können wir uns auf den Wahrheitswert eines Satzes über die
fiktionale Welt nicht festlegen.
Dass literarische Werke wahre Propositionen über die
Welt (implizit oder explizit) enthalten können und ihre Leser zuweilen
zu einer erkenntnisträchtigen, neuen >Sicht< auf die Welt
anzuregen vermögen, wird von New uneingeschränkt bejaht. Auch
für die Beurteilung eines literarischen Werkes können diese
Eigenschaften eine Rolle spielen – sie müssen es jedoch nicht.
Entscheidend sind hier vor allem Gattungskonventionen: Vom historischen Roman
wird ein gewisses Maß an historischer Faktentreue verlangt, andernfalls
ist das Werk in einem wichtigen Aspekt (und vielleicht im Ganzen) von
minderer Qualität; verfehlt eine Satire die Darstellung ihres
>Zielobjekts<, handelt es sich um eine schlechte Satire. Oftmals freilich
sind wir in der Beurteilung eines literarischen Werkes nicht an der
Wahrheit einer Proposition interessiert, sondern beurteilt wird die
Wahrscheinlichkeit einer Handlung oder Situation.
Zur Frage des Zusammenhangs von Literatur und Moral ist New
vor allem darum bemüht, zwei Missverständnisse auszuräumen.
Fiktionale Werke können zwar moralische und andere >Wahrheiten<
enthalten, sie können diese jedoch nicht verbürgen. Kein
Satz ist wahr (über die Welt), weil er Bestandteil eines
fiktionalen literarischen Werkes ist, sondern es sind die Verhältnisse
in der Welt, von denen die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes
abhängig ist. New folgert: "In this sense, claims that fiction has
some kind of special route to moral (or any other) truth must be rejected as
fanciful." (S. 120 f.) Das ist in gewissem Sinne richtig. Es bleibt jedoch
die Frage, ob nicht fiktionaler Literatur eine besondere Rolle, nicht in
Bezug auf die Wahrheit bzw. Geltung, sondern in Bezug auf die Vermittlung
moralischer (oder anderer) >Wahrheiten< zukommt. Über diesen
Punkt schweigt New.
Die These, es gäbe moralische oder unmoralische
Literatur, wird von New als eine Art Kategorienfehler zurückgewiesen.
Nicht die Literatur selbst, sondern (beispielsweise) Produktion oder
Publikation sind demnach in moralischer Hinsicht zu beurteilen. Sätze
oder Propositionen, das ist die Quintessenz, können überhaupt nicht
moralisch oder unmoralisch sein, derartige Qualitäten sind (moralischen)
Agenten vorbehalten. Dieser Zug News dient vornehmlich der Klärung der
Praxis der moralischen Kunstbeurteilung; die Fragen, ob oder wann Produktion
oder Publikation eines literarischen Werkes als unmoralisch gekennzeichnet
(und verboten) werden sollten, kann er denn auch aus dem Kernbereich der
Philosophie der Literatur ausschließen und anderen Disziplinen
zuweisen.
Die Struktur literarischer Beurteilung (Kap. 9)
Sein letztes Kapitel widmet New der Struktur von Urteilen
über literarische Werke. Sind Urteile über die
>ästhetischen Eigenschaften< eines literarischen Werkes
wahrheitswertfähig? Sind alle ästhetischen Urteile, wie der Laie
vielleicht wird sagen wollen, bloß >subjektiv<? Was sind
überhaupt ästhetische Eigenschaften? – Das sind nur einige der
Fragen, die New aufwirft und zu klären unternimmt. Die Stärke des
Kapitels ist darin zu sehen, dass New ein Gefühl für die
Komplexität der verschiedenen ontologischen, epistemologischen und
anthropologischen Dimensionen des Problemzusammenhangs zu vermitteln
versteht, zugleich aber zielsicher auf eine Beantwortung der Frage nach
>Subjektivität< oder >Objektivität< von literarischen
Urteilen zusteuert.
Ein Urteil über ein literarisches Werk ist – in
News Darstellung –, vereinfacht gesagt, "subjektiv", wenn es keine
deskriptive Komponente besitzt und lediglich die Einstellung eines Sprechers
zum Ausdruck bringt; solche Urteile können dementsprechend nicht korrekt
oder falsch sein. "Objektiv" ist ein literarisches Urteil dagegen
dann, wenn es, unabhängig von der Einstellung des Sprechers, entweder
korrekt oder falsch ist. Die Wahrheit liegt, folgt man New,
gewissermaßen in der Mitte und stellt eine "qualified subjective
position" (S. 133) dar: Viele ästhetische Urteile über
literarische Werke besitzen sowohl eine >objektive< Komponente, d.h.
sie haben eine direkter Beobachtung zugängliche Eigenschaft des Werkes
zum Gegenstand, als auch eine >subjektive< Komponente, d.h. sie bringen
die Art und Weise, wie ein Leser das literarische Werk (oder eine seiner
Eigenschaften) erlebt, zum Ausdruck. Über die erste Komponente
kann sinnvoller Weise Dissens entstehen, über die zweite nicht.
Schluss
Muss nun – nach mancher Kritik im Detail – die eingangs
ausgesprochene Empfehlung zurückgenommen werden? Die Antwort ist: Nein.
New hat ein Buch geschrieben, mit dessen Ergebnissen man nicht in allen
Punkten übereinzustimmen braucht, um das durchgängig hohe
Argumentationsniveau und die Eignung als Einführung anzuerkennen. – Und
nicht nur für Einführungen, sondern für ernsthafte
philosophische Bemühungen überhaupt ist von entscheidender
Wichtigkeit, dass ein Text die Kriterien ausweist, mithilfe derer sich
seine Thesen begründen oder kritisieren lassen – dass er also seine
Leser einlädt, selbst einzutreten in ein an der Wahrheitsfrage
orientiertes Philosophieren. In dieser Hinsicht lässt Philosophy of
Literature nichts zu wünschen übrig.
Tilmann Köppe
Kreuzbergring 56 d, 001
D-37075 Göttingen
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Anmerkungen
1 John Hospers: Introduction to: J.H. (Hg.):
Introductory Readings in Aesthetics. New York, London: The Free Press 1969,
S. 1–13, hier S. 2. zurück
2 Die zeitgenössische analytische
Philosophie ist keine >Methode< im eigentlichen Sinne, auch keine
>Schule<, und schon gar kein System von Lehrmeinungen; einen
nützlichen Ansatz zur Charakterisierung liefert Dagfinn Føllesdal: Was
ist analytische Philosophie? In: Georg Meggle (Hg.): Analyomen 2. Proceedings
of the 2nd Conference "Perspectives in Analytical Philosophy". Vol. 1:
Logic, Epistemology, Philosophy of Science (Perspektiven der Analytischen
Philosophie; 16) Berlin, New York: Walter de Gruyter 1997, S. 15–28. Zur
analytischen Ästhetik vgl. Richard M. Shusterman (Hg.): Analytic
Aesthetics. Oxford, New York: Basil Blackwell 1989, insbesondere Shustermans
Einleitung, S. 1–19. zurück
3 Grundlegendes zur Kritik am Konzept der
"Familienähnlichkeit" findet sich bei Peter Baumann:
Erkenntnistheorie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 100–103. Zur Kritik
der Anwendung des Konzepts auf die Definition des Begriffs "Kunst"
– ein der Definition von Literatur analoges Projekt – vgl. Noël Carroll:
Philosophy of Art. A Contemporary Introduction. 2. Aufl. London, New York:
Routledge 2000, S. 218–224. zurück
4 Vgl. den exzellenten Überblicksessay:
Jerrold Levinson: Emotion in Response to Art. A Survey of the Terrain. In:
Mett Hjort u. Sue Laver (Hgg.): Emotion and the Arts. New York, Oxford:
Oxford University Press 1997, S. 20–34. zurück
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