Esther-Beate Körber
- Peter Uwe Hohendahl (Hg.) unter Mitarbeit von Russell A. Berman, Karen Kenkel und
Arthur Strum: Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs.
Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2000. 179 S. Kart. DM 48.- ISBN 3-476-01661-7.
Der Begriff "Öffentlichkeit"
Obwohl die Aufsätze dieses Buches von mehreren
Autoren verfaßt sind, sollen sie doch zusammenfassend die
"Geschichte eines kritischen Begriffs" darstellen. Der
"Begriff" wird im einleitenden Kapitel von Peter Uwe
Hohendahl erläutert als eine Vorstellung, die in mehreren
Sprachgemeinschaften existiert und mit Wörtern bezeichnet wird,
die Ähnliches, aber nicht unbedingt Gleiches bedeuten. Die
Darstellung der Geschichte des Begriffs "Öffentlichkeit"
beruht darauf, daß literarische und journalistische Zeugnisse aus
den Begriffsfeldern Kritik - Ästhetik - Politik -
Öffentlichkeit zusammengestellt werden und jeweils für
einzelne Autoren herausgearbeitet wird, in welchem Verhältnis die
Vorstellung des Autors von "Öffentlichkeit" zu anderen
Begriffen und zu den gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Zeit
steht.
Utopisches Potential im 17. und 18. Jahrhundert
Daß der Begriff "Öffentlichkeit"
bei seinem Auftauchen im 17. und 18. Jahrhundert ein utopisches
Potential hatte, ist bekannt; Hohendahl stellt in seinem
Beitrag "nationale" Unterschiede heraus: die stärker
ästhetische Akzentuierung des Begriffs in Frankreich, die
politische in England, die moralische im deutschen Sprachgebiet.
Politische und literarische Öffentlichkeit werden bei Hohendahl
begrifflich getrennt, was aber nach seinen Darlegungen nicht
ausschloß, daß Literaten sich in politische Diskussionen
mischten oder etwa enttäuschte politische Hoffnungen durch
Träume von einer idealen ästhetischen Öffentlichkeit zu
kompensieren versuchten. Unter der Zwischenüberschrift "Die
Radikalisierung der Öffentlichkeit" wird der Versuch der
französischen Revolutionäre geschildert, eine einheitliche
(maskulin konnotierte) Öffentlichkeit zu schaffen und in ihr das
"Publikum" zu Bespitzelung, Zerstörung und Mord zu
bewegen was allerdings etwas euphemistisch umschrieben wird.
Hohendahl berücksichtigt Quellen aus dem englischen,
französischen und deutschen Sprachraum. Zeitlich endet der
Überblick bei Hegel, läßt aber eine Grundproblematik
des Begriffsfeldes "Öffentlichkeit" erkennen, der in den
folgenden Aufsätzen immer wieder auftaucht:
"Öffentlichkeit" konnte als kritisches Korrektiv für das Handeln staatlicher Gewalt(en) angesehen werden, wenn und sofern die Schreiber, die das Wort verwendeten, dem "Publikum" Rationalität, Vernunft und Klarheit der Gedanken unterstellten.
Aber schon im 18. Jahrhundert erschütterte
das Aufkommen eines unkritischen Literaturkonsums das Vertrauen der
Schreiber in die Urteilskraft des "Publikums". Schon bei
diesem Zeitpunkt könnte man wie es Reinhart Koselleck getan hat
den Beginn der Krise des aufklärerischen
Öffentlichkeitsverständnisses ansetzen. Die folgenden
Aufsätze lassen sich denn auch als jeweils für einen
Zeitabschnitt spezifische Untersuchungen dieses Grundwiderspruchs des
aufklärerischen Öffentlichkeitsverständnisses lesen.
Der
Eigenart einer Begriffsgeschichte entspricht es, daß
"Öffentlichkeit" von den Verfassern gewissermaßen
aus der Perspektive der schreibenden Zunft gesehen wird, nämlich
einmal als Gemeinschaft, der sich die Schreiber selbst zurechneten, zum
andern als das ihnen gegenüberstehende "Publikum".
Rückgang des kritischen Potentials im 19. Jahrhundert
Strukturen und Verhaltensweisen, die in den
aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten immer wieder in gleicher oder
ähnlicher Weise auftauchten, hat der Rezensent nicht im einzelnen
nachzuzeichnen, sondern möglichst zusammenzufassen.
Karen Kenkel
behandelt Auffassungen von "Öffentlichkeit" im 19.
Jahrhundert von Marx bis Nietzsche und macht dabei deutlich, weshalb
der Begriff "Öffentlichkeit" in dieser Zeit sein
kritisches Potential immer weniger entfalten konnte. Marx' Kritik
entlarvte die aufklärerische Gleichsetzung von
Bildungsbürgertum und Öffentlichkeit als Ideologie, wenn er
auch selbst noch an die Kraft materialistischer Kritik an der
bürgerlichen Gesellschaft glaubte. Die Ausweitung des Wahlrechts
bis zum allgemeinen Wahlrecht der Männer beförderte
Strukturen der politischen Argumentation, die mehr auf Empfindung und
Gefühl des "Publikums" als auf kritische
Rationalität zielten, so daß die politische
Öffentlichkeit des späteren 19. Jahrhunderts nach Begriff und
Erscheinungsformen kaum mehr etwas mit der der Aufklärungszeit
gemein hatte.
Die Kapitalisierung des Buchmarkts erfaßte nicht
mehr nur wie im 18. Jahrhundert die Unterhaltungsliteratur, sondern
auch die gelehrte Produktion und demontierte damit die Strukturen, auf
denen sich ein literarisches Räsonnement hätte aufbauen
lassen können. Den Schreibern, die sich diesen den Markt
bestimmenden und vereinheitlichenden Tendenzen entziehen wollten, blieb
nur der Rückzug in ein Schreiben für Gleichgesinnte, wie man
es im l'art pour l'art und in einigen Äußerungen Nietzsches
findet.
Reaktionen auf den Zusammenbruch der aufklärerischen Öffentlichkeitsvorstellung
Mit Nietzsche setzt der Beitrag von Russell Berman ein;
er schildert den völligen Zusammenbruch der aufklärerischen
Öffentlichkeitsvorstellung im 20. Jahrhundert. Die
Öffentlichkeit wurde in dieser Zeit immer stärker erlebt und
verstanden als Wähler- und Konsumentenschaft, deren
hervorstechendes Kennzeichen eben nicht kritische Rationalität
sei, sondern Irrationalität und Manipulierbarkeit. Die Reaktionen
auf diese scheinbare Tatsache unterschieden sich aber offenbar
stärker voneinander als im 19. Jahrhundert.
Walt Whitman steht
für den Versuch, das Populäre zum Thema und "the
people" zu einem Publikum zu machen, wobei die "Funktion des
prophetischen Dichters" (S. 78) allerdings eher staunendes
Zuhören als Kritik verlangt. Baudelaire steht für den Weg des
Dichters in die Vereinzelung, Alfred Kerr für die Anpassung des
Kritikers an die Bedingungen des Marktes und die Bedürfnisse des
kulturkonsumierenden "gebildeten" Publikums. John Dewey will
durch neue symbolische Formen öffentlicher Kommunikation die
kritische Dimension von "Öffentlichkeit"
zurückgewinnen, die verlorengegangen scheint; Carl Schmitt
erklärt mit der räsonnierenden Öffentlichkeit auch die
parlamentarischen Strukturen der Entscheidungsfindung für
überholt und rechtfertigt die "akklamatorische
Öffentlichkeit einer Diktatur" und sogar die "Praxis der
Gewaltanwendung" (S. 87); Walter Benjamin glaubt, daß
technisierte Kunstformen wie der Film das Publikum zur Kritik erziehen
könnten.
Berman stellt diese Haltungen nacheinander dar, fast ohne
Überleitung und ohne Kommentar, wodurch der Eindruck entsteht, es
handle sich um gleichwertige Lösungsversuche politischer oder
psychosozialer Konflikte. Daß jedenfalls die praktischen
Konsequenzen dieser Lösungsversuche jeweils unterschiedlich viel
Unheil anrichten, muß der kritische Leser sich denken es sei
ihm zugetraut. Daß aber auf die Inszenierung von
"Öffentlichkeit" durch totalitäre Diktaturen gar
nicht eingegangen wird, ist in diesem Zusammenhang schwer
verständlich.
Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Mit der Begriffsgeschichte von
"Öffentlichkeit" von der unmittelbaren Nachkriegszeit
bis in die Gegenwart beschäftigt sich zuletzt Arthur Strum. Er
interpretiert die Öffentlichkeitstheorien von Habermas, Koselleck,
Negt / Kluge und anderen als Reaktionen auf die politische Lage der
jeweiligen Gegenwart. Habermas' Versuche, eine diskursive
Öffentlichkeit theoretisch neu zu begründen, deutet Strum als
regressiv, da sich "die" bürgerliche Öffentlichkeit
nicht wieder herstellen lasse. Wirklich Neues entdeckt Strum in den
Bürgerrechts- und Minderheitenbewegungen, denen es zum Teil
gelungen sei, durch die Thematisierung von bisher als privat
Verstandenem das Gespräch in "der Öffentlichkeit"
zu verändern. Merkwürdigerweise bezieht sich Strum dabei ex
negativo auf das angeblich schon überlebte
"bürgerliche" Öffentlichkeitskonzept, in dem
"Öffentlichkeit" als normsetzender Diskurszusammenhang
begriffen wird.
Der Erklärung bedürfte die Tatsache,
daß in dem Beitrag Strums in diesem Band zum ersten Mal
"Öffentlichkeiten" im Plural auftauchen, und zwar mit
vielen verschiedenen Attributen: als
- "Nischenöffentlichkeiten"
(S. 106)
- "Folk-Musik-Öffentlichkeit"
- "Universitätsöffentlichkeit" (S. 108)
- "Produktionsöffentlichkeiten" (S. 110).
Daß in
diesen Öffentlichkeiten zum Teil ästhetische und politische
Ziele sich verbinden, entspricht ganz der aufklärerischen
Tradition, nur die Pluralisierung negativ ausgedrückt:
Zersplitterung, Fragmentierung unterscheidet den Zustand der
gegenwärtigen Öffentlichkeit von dem der
Aufklärungszeit.
Demnach wäre das aufklärerische
Öffentlichkeitskonzept nach fast völliger Demontage
überraschend wieder auferstanden, und das Neue in der Gegenwart
bestünde nur in der Ansammlung von Einzel-Öffentlichkeiten;
auch der neuere Begriff der "Zivilgesellschaft" umfaßt
die gesellschaftlichen Vereinigungen, die nach aufklärerischem und
bürgerlichem Konzept zur "Öffentlichkeit" gerechnet
werden mußten.
Nach der Wende: Vielzahl von Mikroöffentlichkeiten
Das Schlußkapitel "Öffentlichkeit nach
der Wende" erörtert vor allem die politischen Konsequenzen
der gegenwärtigen Vorstellung von einer "Vielzahl von
Mikroöffentlichkeiten" (S. 122). Dabei ergibt sich ein
Widerspruch, der allerdings nicht ausdrücklich zum Thema der
Erörterung gemacht wird: Einerseits versuchen die
"Mikroöffentlichkeiten", die Formen des Gesprächs
in "der" Öffentlichkeit zu verändern, beziehen sich
also auf das aufklärerische Verständnis eines einheitlichen
Diskurszusammenhangs. Andererseits haben sie die Tendenz, sich
voneinander zu isolieren und Vereinheitlichung als Bedrohung ihrer
Identität zu empfinden.
Die Geschichte des "kritischen
Begriffs" endet also offen, wie es ihrem Gegenstand angemessen
ist, ohne allerdings auf die spezielle Problematik des
gegenwärtigen Verständnisses näher einzugehen.
Eine umfangreiche, Fächergrenzen
übergreifende Bibliographie beschließt das Werk.
PD Dr. Esther-Beate Körber
Denkstr. 12
D-12167 Berlin
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Ins Netz gestellt am 08.01.2001 / Update 16.01.2001.
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