Körber über Pegatzky: Das poröse Ich

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Thomas Körber

Das Fleisch besiegt den Geist:
Leiblichkeit und Ästhetik
bei Thomas Mann und anderen

  • Stefan Pegatzky: Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann (Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 16) Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 547 S. Kart. EUR (D) 69,-.
    ISBN 3-8260-2297-1.


Die Frankfurter Dissertation nimmt sich nichts Geringeres vor, als den Wandel von einer >Geistes<-Kultur zu einer >Kultur der Körperlichkeit< analytisch aufzuzeigen. Diesen Paradigmenwechsel datiert Pegatzky auf den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die gewandelte Einstellung zur Körperlichkeit und zur Vitalität insgesamt wird an einem sehr umfangreichen Materialkorpus aus Literatur, Philosophie, Musik und Malerei ebenso ausführlich wie akribisch aufgezeigt. Die umfangreiche, grundgelehrte Arbeit beeindruckt nicht nur durch die Formulierungskunst des Autors – nicht genug zu bewundern ist außerdem die konzise Bändigung der Materialfülle durch das konzentrierte Verfolgen einer präzisen Fragestellung.

Pegatzky kann sich in thematischer Hinsicht auf Vorarbeiten von Georg Braungart, Wolfgang Riedel und Monika Fick stützen, 1 setzt aber deutlich selbstständige Schwerpunkte. So ermittelt er Thomas Manns "Dreigestirn" , also Arthur Schopenhauer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche als die Protagonisten der anthropologischen Wende des 19. Jahrhunderts. Den gewichtigen Beitrag Heinrich Heines (vgl. seine Unterscheidung >Hellenen< und >Nazarener< , also Sensualisten und Asketen in Ludwig Börne. Eine Denkschrift von 1840) erwähnt Pegatzky nur am Rande.

Schopenhauer und Feuerbach
als Metaphysiker des Leibes

Pegatzky betont, durchaus im Einklang mit den neueren Erträgen der Schopenhauer-Forschung, die "realistisch-naturwissenschaftliche" Seite des Frankfurter Denkers: "Mit Schopenhauer wird erstmals der Unterschied von Körper und Leib philosophisch durchsichtig: Meinen Leib erfahre ich von innen und außen, den Körper des Anderen nur von außen." (S. 51) Obwohl Schopenhauer selbst diese Nachbarschaft nicht gern gesehen hätte, schließt der Autor den fundamentalen Einfluss von Feuerbachs Veröffentlichungen der 40er Jahre (denen Pegatzky auch den Titel seiner Schrift entleiht) an. Die vom Jungen Deutschland so emphatisch geforderte "Philosophie des Leibes" (S. 83) habe Feuerbach am entschiedensten auf den Begriff gebracht.

Im Venusberg: Wagner

Wagner wird von Pegatzky nicht als Musikwissenschaftler untersucht – er betrachtet dessen Gesamtkunstwerk als Thema der Germanistik und nimmt sich im Rahmen seiner Fragestellung neben dem einschlägigen Tannhäuser vor allem eines wenig beachteten Juveniliums, Das Liebesverbot, an (auch im Thomas-Mann-Teil der Arbeit zeigt sich die Fähigkeit des Autors, substantielle Erkenntnisse gerade aus vermeintlichen >Nebenwerken< zu entwickeln): "Gerade durch diese >überzeugenden Körperlichkeiten< wird das Werk Richard Wagners zum Paradigma der nach-idealistischen Kunst des 19. Jahrhunderts. In seinen ästhetischen Schriften reflektiert Wagner diese Tendenz; der menschliche Leib ist in ihnen buchstäblich oder auch metaphorisch die normative Instanz ästhetischen Gelingens." (S. 88 f.)

Pegatzky betreibt im Rahmen des Wagner-Kapitels denn auch nichts weniger als eine Entromantisierung des Komponisten – er wird ihm zum Ästhetiker der Wollust. Wagners vordergründig christliche Wendung, die zum Bruch mit Nietzsche führte, zeichnet Pegatzky im Anschluss sehr sensibel nach und berücksichtigt auch die komplizierte Vermengung von Wagners Feuerbach- und Schopenhauer-Rezeption: "Der Gedanke an die Erlösung von der Welt und ihrem Wollen, das am je eigenen Leib am spürbarsten erfahren wird, wird nach 1854 immer stärker in das Zentrum von Wagners Werk rücken." (S. 209)

Was asketische Ideale bedeuten:
Nietzsche

Schlüsselfigur von Themenstellung und Arbeit Pegatzkys ist – wenig überraschend – Nietzsche. Für die Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende war das Plädoyer Zarathustras für die Bejahung der Erde von kaum zu überschätzender Bedeutung: "Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht." (Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4. München 1988, S. 15). Hier kann der Autor ansetzen: Das Schwergewicht legt er damit – ohne jemals den Perspektivismus des Nietzsche'schen Denkens zu vernachlässigen – auf die vitalistischen Impulse des frühen und späten Nietzsche, der die "Verachtung des geschlechtlichen Lebens" als "die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens" (Ecce Homo. Kritische Studienausgabe. Bd. 6. A.a.O., S. 263) geißelte. Pegatzky kommt zum Schluss: "Dennoch endet auch mit Nietzsche die >Geistesgeschichte< nicht, aber sie wird in den Dienst der Geschichte des Leibes gestellt." (S. 263)

Der Autor arbeitet konsequent werkzentriert – die biographische Komponente wird m. E. hier etwas vernachlässigt. Nietzsche wertet das Leben nicht zugunsten des Geistes ab, und er sucht auch weder Hilfe noch Trost bei Religion und Metaphysik; er will der Verteidiger, der Anwalt des Lebens trotz Schmerz und Krankheit sein – eine paradoxe Situation, die er unablässig reflektiert. Seine Krankheit ist daher für Nietzsche nicht nur eine persönliche Katastrophe, ein schweres Handicap, sondern auch eine Chance, ja eine Auszeichnung: "Das, woran die zarteren Menschen zu Grunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit." (Nachlaß Herbst 1885 – Herbst 1886 2 [97]; Kritische Studienausgabe 12 A.a.O. S. 108). Dieses Phänomen, das auch für Thomas Manns Nietzsche-Rezeption so wichtig ist, wird von Pegatzky vielleicht allzu sehr ausgeblendet.

"Dem Leben die Flügel brechen":
Thomas Manns Frühwerk

Fast die Hälfte der Untersuchung nimmt die Analyse des Mann'schen Frühwerks (der Einschnitt wird hier 1912 beim Tod in Venedig gesetzt) ein. Der Autor exemplifiziert seine Thesen anhand der frühen Erzählungen Luischen, Gladius Dei und dem einzigen Drama, Thomas Manns >Schmerzenskind< Fiorenza. Er kann zu diesem Zweck auf die sehr umfangreiche Forschung zur Geist-Leben-Antithese zurückgreifen: "Manns Werk, von der Vision bis zum Felix Krull macht diese Kluft zwischen Körper und Geist unablässig zum Thema: Die Würde und Vergeblichkeit der Askese wie die zugleich sehnsüchtig und angsterfüllt beschworene Erfahrung des Körperlichen bilden seine zentralen Themen." (S. 275)

Es gelingt Pegatzky zu belegen, "daß sich sein literarisches Werk bis etwa zum Ersten Weltkrieg begreifen läßt als ein Versuch, das eigene anthropologische Selbstverständnis zu verteidigen gegen die Zumutungen des anthropologischen Paradigmenwechsels, der sich von Schopenhauer bis Nietzsche vollzogen und seit 1890 auch die Literatur erreicht hat." (S. 277) Das Fernziel – die Versöhnung von Geist und Körper im Werk nach dem 1. Weltkrieg – kann Pegatzky dann nur noch skizzieren. Anders als bei Nietzsche geht er aber intensiv auf den narzisstisch-hypochondrischen Körperkult Thomas Manns, den die Tagebücher akribisch belegen, ein.

Der hoch komplexen Vermischung von Schopenhauer- und Nietzsche-Rezeption wird die Untersuchung ganz und gar gerecht. Thomas Mann denkt Schopenhauer und Nietzsche zusammen und relativiert so beide: Schopenhauers Lebensfeindlichkeit wird um ihre Spitze gebracht – durch Nietzsches Analyse, der die menschlich-allzumenschlichen Beweggründe der Willensmetaphysik und Mitleidsmoral aufdeckt, und Nietzsches Lebensverherrlichung wird das Wasser abgegraben, indem Thomas Mann sich den bösen Blick, den unnachgiebigen Protest gegen die Grausamkeit und Härte des Lebens bewahrt.

Es gelingt Pegatzky in den Thomas-Mann-Kapiteln auch in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht Neuland zu betreten: So werden etwa seine ausführlichen Analysen zur Rolle Flauberts, Tolstois und Mereschkowskis für den anthropologischen Paradigmenwechsel der Jahrhundertwende sicherlich nicht nur von der Thomas-Mann-Forschung dankbar aufgegriffen werden.

Fazit

Trotz der Länge der Arbeit und der wahrhaft erschöpfenden Materialfülle wünschte man sich hier eine Fortsetzung: Wie ist vor allem Thomas Manns deutlich geänderte Einstellung zur Körperlichkeit in der Josephs-Tetralogie, aber auch im Erwählten oder Felix Krull vor diesem Horizont zu bewerten? 2 Der Rezensent möchte das nicht als Kritik, sondern als Kompliment für Pegatzkys Buch verstanden wissen, das ohnehin einer habilitationsadäquaten Leistung gleichkommt.

Es ist das Verdienst Pegatzkys, den frühen Thomas Mann vor dem Hintergrund der ästhetischen Diskurse der Jahrhundertwende zu diskutieren und ein zuverlässiges philologisches Fundament für weiterführende Untersuchungen bereitzustellen. Die Arbeit liefert akribisch und detailbesessen ein weit über Thomas Mann hinausgehendes, beeindruckendes Panorama der frühen Moderne.


Dr. Thomas Körber
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Ins Netz gestellt am 12.08.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. – Wolfgang Riedel: "Homo Natura". Literarische Anthropologie um 1900. Berlin und New York 1996. – Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993.   zurück

2 Vgl. hierzu z.B. Wolfgang Schneider: Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Thomas Manns Figurendarstellung (Thomas-Mann-Studien 19) Frankfurt / M. 1999.    zurück