Kössinger über Lucas: Franciscus Junius

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Norbert Kössinger

Frühe Wissenschaftsgeschichte
in Quellen: Der Cædmon
von Franciscus Junius als Faksimile

  • Peter J. Lucas (Hg.): FRANCISCUS JUNIUS. Cædmonis Monachi Paraphrasis Poetica Genesios ac praecipuarum Sacrae paginae Historiarum, abhinc annos M.LXX. Anglo-Saxonicè conscripta, & nunc primum edita (Early Studies in Germanic Philology 3) Amsterdam u.a.: Rodopi 2000. xlix + 141 S. Kart. EUR 37,00.
    ISBN 90-420-0343-X.


Die Handschrift
und ihr erster Herausgeber

Der in Heidelberg geborene, in den Niederlanden aufgewachsene, die meiste Zeit seines Lebens in England lebende Gelehrte Franciscus Junius (1591–1677) gilt, so schreibt Peter J. Lucas im Vorwort, als "the founding father of early Germanic studies" (S. v). Seine Bedeutung für die mediävistischen Philologien beruht in erster Linie auf seinen Observationes (1655) zum Hoheliedkommentar Willirams von Ebersberg und dem Erstdruck des Codex argenteus mit dem Glossarium gothicum (1664 / 5). Dazu kommt Junius' >Pioniertat< (vgl. S. v), 1655 als erster eine Ausgabe der sogenannten Cædmon-Handschrift (Oxford, Bodleian Library, MS Junius 11) vorgelegt zu haben. 1

Der illiterate, im Kloster Streanæshalch (Whitby) als Viehhirte dienende Laienbruder Cædmon wurde – nach Bedas Bericht in seiner Historia ecclesiastica (iv, 24) – durch erleuchtenden Traum zum Dichter biblischer Erzählungen in der Volkssprache begabt. Der nach seinem Verfasser (und dafür hielt ihn Junius) benannte Codex ist neben dem Exeter-Buch, dem Vercelli-Buch und dem Nowell-Codex eine der vier Hauptzeugen altenglischer Dichtung. Die mit 48 Illustrationen geschmückte, um das Jahr 1000 entstandene Handschrift enthält einen Großteil der altenglischen Bibelepik (Genesis A / B, Exodus, Daniel, Christ and Satan). 2

Junius erhielt die Handschrift wohl Anfang der fünfziger Jahre aus den Händen des Erzbischofs von Armagh, James Ussher (1581–1656) (vgl. S. xiii f.). Er realisierte den Druck, dem er am Ende den Prayer (aus London, British Library, Cotton MS Julius A ii) beifügte (S. 110–111), in relativer kurzer Zeit und verwendete – ein Leckerbissen für Liebhaber – eigens für die Observationes und den Cædmon hergestellte Drucktypen zur Nachbildung der angelsächsischen Minuskel, die höchstwahrscheinlich aus der Stanzwerkstatt des Niederländers Christoffel van Dijck (1601–1669) stammen (vgl. S. v).

Text, Sekundärliteratur
und Materialien

Die von Rolf H. Bremmer Jr. herausgegebene Amsterdamer Reihe Early Studies in Germanic Philology setzt sich zum Ziel

[...] promoting and facilitating the historiography of Old Germanic Studies and is especially directed towards the period from 1550 to 1800, from the beginnings of Germanic Philology to the new era of scholarship by Rasmus Rask and Jacob Grimm. (S. iii)

Diesem Anspruch wird der von Peter J. Lucas betreute dritte Band der Reihe erst auf den zweiten Blick gerecht, da der Cædmon – von einem kurzen Register
(S. 107–109) und einer kleinen Anmerkung (S. 91) abgesehen – eine reine Edition ohne weitere Kommentierungen oder ausführlichere >Studien< zum Text ist. 3 Sicher: ein Nachdruck der heute seltenen editio princeps wäre schon allein deshalb ausreichend gerechtfertigt gewesen, weil sie "the first edition ever of a volume of Old English poetry" (S. v und xxxv) ist.

Peter J. Lucas präsentiert aber außerdem ein Faksimile (Appendix 1) der bisher so gut wie unbekannten Observationes in Cædmonis Paraphrasin (Oxford, Bodleian Library, MS Junius 73*). Dieser handschriftlich überlieferte, im Rohzustand gebliebene kurze Kommentar – er zählt 12 Seiten – enthält eine Vielzahl von Emendationen zum Cædmon-Text, die der heutigen Mittelalteranglistik teilweise als allgemein anerkannt gelten (vgl. S. xxiv). Lucas macht damit also nicht nur eine für die frühe Wissenschaftsgeschichte wichtige Quelle wieder bequem zugänglich, sondern er liefert sozusagen die >Sekundärliteratur< aus der Feder von Junius gleich mit.

Doch damit nicht genug: Lucas bietet dem Leser als Beigaben zusätzlich noch eine Abbildung der Errata-Seite (S. xxxvi) aus dem Handexemplar von Junius (Oxford, Bodleian Library, MS Junius 73), das mit einer Reihe von handschriftlichen Korrekturen des ersten Herausgebers versehen ist. Und obendrein: 1752 und 1754 brachte Edward Rowe Mores (1730–1778) Neuauflagen des Cædmon heraus unter Verwendung der bereits für Junius gedruckten, losen Blätter, die er seinerzeit nicht benutzt hatte. Mores gab der Wiederveröffentlichung lediglich ein neu gestaltetes Titelblatt, die leicht veränderte Vorrede und Errata-Seite und einige von ihm aus MS Junius 73 zusammengestellte Anmerkungen bei. Auch diese Materialien sind bei Lucas in einem eigenen Anhang (Appendix 2) dokumentiert.

Die Einleitung:
"high standard of accuracy"

Die auffallend lange Anlaufzeit von sieben Jahren vom Abschluss der Arbeit bis zu ihrem Erscheinen 4 merkt man der 25seitigen, konzentrierten Einleitung von Peter J. Lucas weder vom Stand der Bibliographie noch inhaltlich an. 5 Lucas gliedert sie in sechs Abschnitte, die ich kurz stichwortartig benenne:

  • Kurzbiographie von Junius (S. ix–xii)
  • Das Opus von Junius und die Stellung des Cædmon darin (S. xiii–xvi)
  • Der Cædmon (S. xvi–xxv)
  • Die Rezeption des Cædmon (S. xxv–xxix)
  • Der Cædmon im 18. Jahrhundert (S. xxix–xxxii)
  • Die erste moderne Edition (1832) (S. xxxii–xxxv)

Biographie und Werk von Junius werden von Lucas auf Grundlage der neuesten Forschung resümierend zusammengefasst. Der eigentliche Schwerpunkt der Einleitung besteht in einer ausführlichen Analyse des Druckes. Das Kapitel "The Book" (S. xvi–xxv) ist in insgesamt 16 Unterpunkte gegliedert: Zunächst beschreibt er die äußere Einrichtung des Druckes (Lagen, Papier, Format und Wasserzeichen) (S. xvi), geht ein auf die Gestaltung der schon in den Exemplaren des Erstdrucks unterschiedlichen Titelblätter (S. xvii f.) und informiert über den Drucker / Verleger und die bereits erwähnten Junius-Drucktypen (S. xviii f.).

Nach instruktiven Erläuterungen zum Vorwort >Ad lectorem< (S. xix) richtet Lucas den Fokus auf die eigentliche philologisch-editorische Leistung von Junius. Das Verhältnis Druck – Handschrift wird en detail beschrieben von der Wiedergabe der metrischen Punkte, der nummerierten Abschnittsgliederung und Akzente bis zu Fragen der Worttrennung, Orthographie und Auflösung von Abkürzungen (S. xix–xxiii). Den "high standard of accuracy" (S. xxi) des Editors Junius illustriert Lucas anhand einer Kollation des Prayer gegenüber dem Druck (S. xxi f.) und einigen Emendationen von Junius (S. xxii f.) zum Cædmon-Text, wobei auch eine Reihe von Junius' Unzulänglichkeiten und Fehlern beim Namen genannt werden. Schließlich erläutert Lucas den Inhalt des Fragment gebliebenen Kommentars MS Junius 73* und eines weiteren für den Cædmon relevanten Manuskripts (Oxford, Bodleian Library, MS Junius 113).

Die zwei folgenden Abschnitte erschließen die unmittelbare Wirkungsgeschichte des Cædmon und seine Rezeption im 18. Jahrhundert bis zu den Wiederveröffentlichungen durch Edward Rowe Mores (1752 und 1754). Den Abschluss macht ein Blick auf die Entstehungsgeschichte und Anlage der ersten modernen Edition des Cædmon durch Benjamin Thorpe (1832), die den Übergang markiert "from antiquarianism to philological professionalism" (S. xxxv).

Abgerundet wird der Band durch eine umfangreiche Bibliographie der in der Einleitung verwendeten Quellen und Sekundärliteratur (S. xxxvii–xlv), eine Auflistung der heute noch greifbaren Exemplare des Cædmon in seinen unterschiedlichen Versionen (S. xlvi–xlix) und eine genealogische Tafel mit dem Stammbaum der Junius-Familie im 16. und 17. Jahrhundert (Appendix 3).

Kritisch anzumerken ist an der Konzeption und dem Aufbau des Bandes allenfalls, dass der gerade knapp skizzierte Inhalt nicht in seiner ganzen Fülle aus einem etwas detaillierten Inhaltsverzeichnis hervorgeht. Man hätte etwa die im fortlaufenden Text vorhandene abschnittsweise Gliederung (1.1, 1.2, ...) mit einer kurzen Überschrift in das Inhaltsverzeichnis integrieren können. Der Stammbaum gehört wohl eher ans Ende der Einleitung, die Abbildung mit der Errata-Seite aus Junius' Handexemplar dagegen eher in den Anhang. Dies sind aber, gemessen an dem von Peter J. Lucas gebotenen, nur Kleinigkeiten, die die Benutzer-
freundlichkeit des Bandes etwas erhöht hätten. Man kann Lucas aufs Ganze gesehen, wie er es Junius gegenüber tut, ebenso einen "high standard of accuracy" (S. xxi) bescheinigen.

Druck und Nachdruck

Wie nützlich die beeindruckende Materialfülle und die präzise Einleitung für den Benutzer sein kann, mag ein kurzer, vergleichender Blick auf das Münchener Exemplar des Cædmon (Bayerische Staatsbibliothek, 4° P.o. rel. 718) veranschaulichen: Der Münchener Druck ist sauber, ohne Anstreichungen, Einträge oder Hinweise auf Vorbesitzer und -geschichte. Er gehört zu der von Lucas beschriebenen Gruppe von Exemplaren, die nicht mit Titelblatt, Vorrede und Errata-Seite versehen sind (vgl. S. xvii und S. xlviii). Legt man Druck und Nachdruck nebeneinander, bestätigen sich noch einmal die bereits angesprochenen Vorzüge des Nachdrucks, das vollständige Material auf einen Blick parat zu haben mit einer überzeugenden Aufarbeitung in der Einleitung.

Die "künftige Wissenschaft"

Norbert Voorwinden stimmte im ersten, den Observationes zu Willirams Hoheliedkommentar gewidmeten Band der "Early Studies" das Klagelied an, dass Franciscus Junius

[...] zu einem für die heutige Forschung kaum noch relevanten Gelehrten einer sozusagen vorwissenschaftlichen Zeit geworden [ist], einem Gelehrten, dessen Belesenheit und Scharfsinn zwar bewundert werden, dessen Forschungsresultate uns aber, wie von Raumer (1870: 127) es formuliert, höchstens ein Lächeln abnötigen. In seiner Zeit war Junius jedoch der >größte [...] Kenner der germanischen Sprachen< (von Raumer 1870: 107) [...].(vgl. Anm 3, S. xxvi)

In der Tat: Die Beiträge des 16., 17. und 18. Jahrhunderts zur deutschen oder, weiter gefasst, zur germanischen Philologie werden im Kontext der Fachgeschichte oft marginalisiert und wahrgenommen als Zeugnisse einer "vorwissenschaftlichen Phase", 6 als "Ahnungen" ohne die Basis einer "sicheren Grundlage" oder – immerhin – als "Vorbereitung für die künftige Wissenschaft". 7 Dies gilt im übrigen auch für die frühen Quellen, die im engeren Sinne in den Bereich der germanistischen Mediävistik fallen, wie zum Beispiel die Otfridausgabe (1571) von Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), die Annolied-Edition (1639) von Martin Opitz (1597–1639) oder Johann Schilters (1632–1705) monumentaler Thesaurus antiquitatum teutonicarum (1726–28), für die sicher auch eine wissenschaftsgeschichtliche Neuverortung, Würdigung und Wiederveröffentlichung ihrer Texte und Studien wünschenswert wäre.

Peter J. Lucas ist es jedenfalls in allen Belangen gelungen, den Junius'schen Cædmon für die >künftige Wissenschaft vorzubereiten<, dessen philologische Leistung angemessen zu würdigen und die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung von Franciscus Junius vom 17. Jahrhundert bis zur ersten modernen Cædmon-Edition im 19. Jahrhundert zu dokumentieren. Man kann abschließend nur bedauern, dass das Erscheinen der verdienstvollen Reihe mit dem vorliegenden Band, wie auf der Verlagshomepage zu lesen ist, 8 eingestellt wird und sie offenbar keine anderweitige Fortsetzung finden wird. 9


Norbert Kössinger M.A.
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

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Anmerkungen

1 Zu Aspekten von Franciscus Junius' Leben und Werk vgl. die vielseitigen Beiträge in Rolf. H. Bremmer Jr. (Hg.): Franciscus Junius F. F. and his circle (Dutch quarterly review of Anglo-American letters, Studies in literature 21) Amsterdam-Atlanta: Rodopi 1988.   zurück

2 Zu dem heute auch als >Junius-Handschrift< bezeichneten Codex vgl. zuletzt Gunhild Zimmermann: The Four Old English Poetic Manuscripts. Texts, Contexts, and Historical Background (Anglistische Forschungen 230) Heidelberg: Winter 1995, S. 26–90.   zurück

3 Dies ist festzuhalten im Unterschied zu den ersten beiden, bereits erschienenen Bänden der Reihe: Norbert Voorwinden (Hg.): FRANCISCUS JUNIUS. Observationes in Willerami Abbatis Francicam Paraphrasin Cantici Canticorum (Early Studies in Germanic Philology 1) Amsterdam-Atlanta: Rodopi 1992 [Kommentar]. Peter Ganz (Hg.): JOH. PHIL. PALTHEN. Tatiani Alexandrini Harmoniae Evangelicae antiquissima Versio Theotisca (Early Studies in Germaic Philology 2) Amsterdam-Atlanta: Rodopi 1993 [Edition und Kommentar].   zurück

4 Der 2000 erschienene Band war schon 1993 fertig und wurde 1998 bibliographisch auf den neuesten Stand gebracht (vgl. S. vi).   zurück

5 Nachzutragen ist nun die 2002 erschienene Dissertation von Sophie van Romburgh mit einer kompletten Edition der Junius-Korrespondenz: Sophia Georgina van Romburgh (Hg. / Bearb.): "For my worthy friend Mr. Franciscus Junius". An edition of the complete correspondence of Francis Junius F. F.
(1591–1677) Bd. 1: Introduction, text and commentary. Bd. 2: Translation, critical apparatus and index. Leiden: Univ. Diss. 2002.   zurück

6 Vgl. den Titel von Bernd Neumanns Aufsatz: Die verhinderte Wissenschaft. Zur Erforschung Altdeutscher Sprache und Literatur in der >vorwissenschaftlichen Phase<. In: Peter Wapnewski (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien Berichtsbände vi). Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1986, S. 105–118. Neumann wendet sich in seinem Beitrag freilich gerade gegen solch eine terminologische Vorverurteilung der germanistischen Frühgeschichte (vgl. S. 105–107).   zurück

7 Alle Zitate nach Rudolf von Raumer: Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit 9) München: Oldenbourg 1870, S. 8.   zurück

8 Vgl. Rodopi-Verlag (Copyright 2002):
URL: http://www.rodopi.nl/senj.asp?SerieId=ESGP 6.10.2003)   zurück

9 Als Anhang gebe ich einen Auszug (ohne die Fußnoten) aus der lange Zeit das Junius-Bild prägenden, anekdotenhaften Darstellung Rudolf von Raumers in seiner Geschichte der Germanischen Philologie (s. Anm. 8). Junius bildet in von Raumers Darstellung die erste große Ausnahme innerhalb der Gruppe der >Ahnungslosen<, vor allem aus dem Grund, weil ihm schon Jakob Grimm in seiner Ausgabe der Murbacher Hymnen und dem ersten Band der Deutschen Grammatik Anerkennung zollte (vgl. S. 124).

"So lebte Junius eine lange Reihe von Jahren in den Niederlanden der Erforschung der germanischen Sprachen hingegeben. Seine äußere Lage hatte sich günstiger gestaltet, nachdem er einen langwierigen und verdrießlichen Proceß gegen den Viscount Stafford, den Sohn des Grafen Thomas Arundel, gewonnen hatte. Aber das Erworbene diente ihm nur, um ungestört und ununterbrochen an den großen Sammlungen fortarbeiten zu können, die er für die Erforschung der germanischen Sprachen angelegt hatte. Obwohl jetzt in hohem Greisenalter, genoß er einer wunderbar festen und ungetrübten Gesundheit. Jeden Morgen, Winter und Sommer, erhob er sich um vier Uhr von seinem Lager und stand dann bis zur Essenszeit, um Ein Uhr, vor seinen Arbeitspulten. Auf diesen Pulten lagen fünf Wörterbücher, die er sich für die altgermanischen Sprachen angelegt hatte, und seine Commentare zu altgermanischen Schriftwerken. In diese trug er Alles ein, was ihm beim Lesen der Aufzeichnung werth dünkte. Um Ein Uhr aß er zu Mittag. Dann machte er sich zwei Stunden lang Bewegung mit Spazierengehen, Springen und Laufen im Freien, wenn es die Jahreszeit duldete; war das Wetter gar zu schlecht, so stieg er seiner Gesundheit zu Liebe die Treppen im Hause auf und ab. Um drei Uhr zog er sich wieder in sein Zimmer zurück und arbeitete ununterbrochen fort bis Abends acht Uhr. In dieser Abgeschiedenheit und Arbeitsamkeit aber war der rüstige Greis nichts weniger als mürrisch oder menschenfeindlich. Obwohl er sich ungern von seiner Arbeit abziehen ließ, war er doch äußerst freundlich und liebenswürdig, wenn er Besuch erhielt. Er konnte dann Stunden lang durch sein lehrreiches und unterhaltendes Gespräch fesseln. Sein Charakter war von einer seltenen Reinheit und über sein ganzes Wesen war die Scheu vor jedem Unedlen und Unreinen
(S. 119) | ausgebreitet. Von Allen, die ihn kannten, geliebt und verehrt, erschien er wie ein Ueberrest aus einer bessern Zeit. Weder Hoffnung auf Gewinn, noch Durst nach Ruhm trieb ihn zu seiner Arbeit, sondern allein die reine Liebe zur Wissenschaft, zum Vaterland und zu den Mitmenschen. So schildert ihn ein jüngerer Zeitgenosse, und sowohl durch die Berichte Anderer, die ihn gekannt, als durch die Schriften des Junius selbst wird uns die Treue dieser Schilderung bestätigt. Erst nachdem er das achtzigste Lebensjahr längst überschritten hatte, begannen die Beschwerden des Alters sich bei ihm einzustellen. Im Anfang des Jahres 1674 wurde er von einer schweren Krankheit befallen, aber trotz seines hohen Alters überstand er sie glücklich. Doch begannen nun bald seine Körperkräfte abzunehmen, sein früher sehr sicheres Gedächtniß schwächer zu werden. In seinem siebenundachzigsten Lebensjahr faßte er den Entschluß, noch einmal seinen Wohnsitz zu verändern. Im Herbst des Jahres 1675 verließ er den Haag, wo er bis dahin gelebt hatte, und schiffte nach England hinüber. Schon im Jahr 1670 war ihm sein Neffe Isaak Vossius vorausgegangen, der von König Karl II. im Jahr 1673 ein Canonicat zu Windsor erhielt. In der Nähe dieser Stadt lebte er auf einem Landgut im Besitz eines bedeutenden Vermögens. Franciscus Junius brachte den größten Theil seiner Zeit in Oxford zu. Im August 1677 besuchte er seinen Neffen Isaak Vossius auf dessen Landgut bei Windsor. Hier, im Hause seines Neffen, ist er am 19. November des Jahres 1677 nach einer Krankheit von nur wenigen Tagen gestorben. Sein Leichnam wurde in der St. (S. 120) | Georgskirche zu Windsor beigesetzt. Seinen reichen literarischen Nachlaß vermachte er der Universität Oxford." (S. 121)   zurück