Korte über Neuhaus: Revision des literarischen Kanons

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Hermann Korte

Aporien des Revisors
Oder:
Der Versuch, dem literarischen Kanon ein paar neue Autornamen, Werktitel, Popsongs und Videoclips zuzuführen

  • Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons.
    Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 188 S. Kart. Euro (D) 19,90.
    ISBN 3-525-20819-7.


In der öffentlichen Debatte über literarische Kanonbildung lassen sich zur Zeit drei Basispositionen unterscheiden. Am meisten verschaffen sich diejenigen Gehör, die auf die rhetorisch gestellte Frage "Brauchen wir einen Kanon?" nicht nur mit einem enthusiastisch-unduldsamen Ja antworten, sondern gleich ein mehrere Kilo schweres Kanonpaket mitliefern. Was im Frühjahr 1997 in der Zeit als Notrufaktion zur Rettung wertvoller Bücher begann, ist inzwischen längst zu einem ökonomisch interessanten Geschäft mit >dem< Kanon geworden. Kaum noch vernehmbar ist die zweite Position, die trotzig die Maxime "Kein Kanon ist der beste Kanon" mit etwas angestaubten Plädoyers für wildes Lesen und strikt individuelles Hit-ranking verbindet. Nach wie vor ohne erkennbare Resonanz in der allenthalben über Kanonlisten und Kanonvorschläge räsonierenden Feuilleton- und Fernsehöffentlichkeit blieb bisher jener dritte Weg der deskriptiven Kanonforschung, welche literarische Kanonbildungen und Kanonisierungsprozesse als ein noch weithin unbekanntes Terrain zu entdecken begann.

Wer vor solchem Hintergrund die von Neuhaus vorgeschlagene Revision des literarischen Kanons einordnet, kann eine weitere – vierte – Variante des Kanondiskurses ableiten, die wissenschaftlich begründete Kanonrevision. Der Bamberger Literaturwissenschaftler Neuhaus unternimmt in seiner Studie den Versuch, aus der weitgehend auf von Heydebrand und Winko rekurrierenden Theorie literarischer Wertung Beispiele für Gattungen, Autoren und Werke zu erschließen, die seiner Ansicht nach zu Unrecht vernachlässigt wurden. Auf diese Weise will er zu einem literaturwissenschaftlich durchmusterten und geprüften Kanon gelangen, einem Kanon, der das bisher Abgedrängte und Vergessene reflektiert und sich neuen Kanonfeldern öffnet – bis hin zur Einbeziehung von Popsong und Videoclip.

Die Literaturgeschichtsschreibung
– eine maßgebliche Kanoninstanz?

Der appellative Charakter des Buches ist offenkundig. Es geht um Plädoyers und praktische Vorschläge, um die Rolle von Re-Lektüren einerseits, um Konsequenzen aus aktuellen Konstellationen der Mediengesellschaft andererseits. Dem Anspruch, seinen revidierten Kanon in wissenschaftlichen Prozeduren zu entfalten, kommt Neuhaus allerdings nur in Ansätzen nach. Schon das Kapitel Zur Theorie der literarischen Wertung (S. 11–19) zeigt einen gegenüber rezenter Forschung stark eingeschränkten Horizont. Thesen wie "Was bleibt, darüber entscheidet letztlich die literarhistorische Einordnung" (S. 16) inthronisieren die Literaturgeschichte als maßgebliche Kanoninstanz, ohne nach deren Kanonisierungspraktiken, -stilen, -motiven und -formen und vor allem nach deren Relevanz im Ensemble anderer Kanoninstitutionen zu fragen.

Die von Neuhaus als Revisionsweg vorgeschlagene "literarhistorische Einordnung" ist – darüber herrscht in der Kanonforschung Konsens – eine höchst veränderbare, kulturellem Wandel unterworfene Selektionspraxis. Von ihr kann nicht gesprochen werden, ohne dass ihre Akteure mit ihren historisch je spezifischen Strategien gesellschaftlicher Sinnproduktion und kultureller Repräsentation konkret benannt werden. Neuhaus beruft sich zwar gelegentlich auf die von Aleida und Jan Assmann herausgegebene Grundlagenstudie zu Kanon und Zensur (1987). Im dürren Theorieteil seines Buches aktiviert er aber kaum das Problem- und Forschungsniveau dieser "Archäologie der literarischen Kommunikation" mit ihrem Blick auf kultursoziologische und erinnerungstheoretische Kategorienbildungen, auf den Konnex von Kanon und Klassik und die bei Neuhaus fast völlig ignorierte Frage nach dem Spannungsverhältnis von Kanon und Moderne.

Auch die facettenreiche, in ihren Methodenrepertoires und Kanontheorien widersprüchliche und gerade deshalb so produktive Forschungsvielfalt des Symposion-Berichts Kanon Macht Kultur hat Neuhaus nicht dazu genutzt, die konzeptuellen Grundlagen von Kanonrevision – der leitenden Idee seiner Studie – im Dialog mit der Kanonforschung zu erschließen. Der Bericht ist voller Paradigmen dafür, dass es eine Vielzahl von Akteuren und Institutionen gibt, die Kanonmacht beanspruchen; Literaturgeschichten spielen dabei keineswegs eine herausragende Rolle. Neuhaus' Behauptung, "Exklusionen", also Negativselektionen der Literarhistorie, schienen "weitgehend irreversibel zu sein" (S. 16), erweist sich angesichts prominenter Beispiele als unhaltbar. Dichter wie Hölderlin, E.T.A. Hoffmann und Büchner gehörten in weit verbreiteten Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts zum Negativkanon und stiegen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den literarischen Kernkanon auf.

Kanonrevision als Appell?

Um nicht missverstanden zu werden: Wer sich am Spiel aktueller Kanonpräsentationen beteiligen möchte, kann dies tun, ohne sich mit Kanonforschung auseinanderzusetzen. Neuhaus freilich insistiert gerade auf die Stärke eines literaturwissenschaftlichen (also von Professionalität bestimmten) Revisionsbegehrens. Dann aber reicht es nicht aus, das für literarische Kanonbildung so konstitutive Auflösen von Kanon-Statik mit folgender Behauptung zu erklären:

Das ständige Wiederlesen von Texten, die ständige vorurteilslose Überprüfung bestehender Werturteile könnte ein Weg sein, Statik zu verhindern. (S. 16)

Das Gegenteil ist wahr: Kanon-Dynamik, jenes für den Literaturkanon im Unterschied zum Kanon der Buchreligionen so charakteristische fortwährende Auflösen und Verändern des Kanonbestands im Kern wie vor allem an den Rändern, war und ist nie das Resultat einer "vorurteilslose(n) Überprüfung". Gerade umgekehrt war und ist die im Wandel kultureller und gesellschaftlicher Repräsentations-, Selbstdeutungs- und Identitätsmechanismen inkludierte Kanondynamik ein Ausdruck ständiger Neu- und Umbewertungen aus spezifisch interessegeleiteten Perspektiven und Strategien. Eine "vorurteilslose Überprüfung bestehender Werturteile" war und ist keiner Kanoninstanz möglich, auch wenn mancher Aktant literarischer Kommunikation sich einer solcher Praxis rühmen möchte.

Im übrigen ist niemals ein Kanon deshalb statisch geworden, weil es den mächtigen Wächtern des Kanondiskurses ausgerechnet an vorurteilslosen Philologen gefehlt hat. Die Geschichte der Kanonrevisionen (ein Desiderat der Kanonforschung) belegt auf anschauliche Weise, wie im Kampf um Dekanonisierungen auf der einen und Neukanonisierungen auf der anderen Seite ein hochbrisanter Streit um den Geltungsanspruch und die Verbindlichkeit von Werten tobte – erinnert sei an die Dekanonisierung von Traditionalisten wie Werner Bergengruen und Reinhold Schneider zu Beginn der 1960er Jahre und an die Wiederentdeckung des Vormärz in den 1970er Jahren. Programmatisch wurden Autoren der Moderne, aber auch bisher unbeachtete, an den Rand gedrängte demokratische und sozialkritische Traditionen der Literatur als kanonfähig entdeckt.

Kanonrevision
– Zum Beispiel Brackert ...

Ein Beispiel dafür mag genügen. So macht Helmut Brackerts Essay Literarischer Kanon und Kanon-Revision aus dem Jahre 1974 (er fehlt bei Neuhaus) die damals aktuelle, veränderte Wertungsperspektive als dezidierte politische Umwertung von Kanon und Gegenkanon deutlich. Kanonstatik aufzulösen bedarf es, wie an Brackerts Revisionsplädoyer für Lesebücher im Deutschunterricht zu studieren ist, mehr als gründlicher Lektüre und etwas grundsätzlich Anderem als einem wertfreien Vorschlagssiegel:

Es sind die unangepaßten Texte, also Texte, in denen ein einzelner oder eine Gruppe sich gegen herrschende Verhältnisse und Vorurteile zur Wehr setzen, engagierte Texte, in denen sich einzelne oder eine Gruppe mit Leidenschaft für Veränderung, Reform und Umsturz einsetzen: Die jacobinische Literatur gehört hierher oder Berichte wie die Bräkers über seine Desertion in der Schlacht bei Lobowitz, Bürgers Verhör einer Kindsmörderin, Seumes Soldatenhandel, Texte von Marx und Engels, Heine und Börne, Büchner und Weerth, die antifaschistische Literatur der Emigranten und die zeitgenössische Arbeiterliteratur, um aus dem fast unübersehbaren Fundus nur das eine oder andere wenigstens zu nennen.

Aus heutiger Perspektive ließe sich dieser Revisionsvorschlag in seinen Erfolgen und Misserfolgen bis ins Detail auffächern. Brackerts Plädoyer war nur ein markantes Beispiel für jenen Gegenkanon-Entwurf, der in den folgenden Jahrzehnten Literaturmarkt und Literaturwissenschaft gleichermaßen beschäftigte: Aus dem Gegenkanon der 68er Bewegung wurde ein herrschender Lektürekanon. Die ihn propagierten, setzten eine der entschiedensten Zäsuren der Kanongeschichte des 20. Jahrhunderts.

Wer heute eine literaturwissenschaftliche Revision des Kanons konzipiert, sollte die Zäsuren, Verwerfungen und Brüche der Kanonhistorie vorher genauer studieren, und sei es nur, um zu erfassen, wie sich die aktuelle Situation gegenüber 1974 verändert hat. Der Erfolg von Kanonrevisionen hängt am wenigsten von gründlich gelesenen Lektüren ab, die dann einem (Fach-)Publikum zur Nachlektüre empfohlen werden. Zugespitzt: Je selbstverständlicher und unumstrittener die Kanonisierungspraxis ist, desto weniger spielt philologische Lektüregenauigkeit dabei eine Rolle. So musste auch Brackert nicht eigens das Lesen der von ihm akzentuierten Kanontexte von Bräker bis Marx und Engels propagieren, weil sein Vorschlag im intellektuellen Milieu der 70er Jahre bereits ein gruppenkonstituierendes Potenzial entfaltet hatte und seinen Lektüretiteln schon als Gegenkanon repräsentative, legitimierende und handlungsorientierte Funktionen zukamen.

Neuhaus hat jener Kraft der faktischen, in kulturellen und sozialen Handlungen eingebundenen Kanonrevision nichts als die eigenen Lektüre-Empfehlungen entgegenzusetzen, die wohllöbliche Resultate nichtkanonischen Lesens darstellen und auf die Entdeckerfreude des Revisors schließen lassen.

Vier Kriterien des Revisors

Da sich Neuhaus nicht (wie beispielsweise Brackert) auf die Evidenz einer in kultureller Praxis verankerten Kanonrevision berufen kann, ist er gezwungen, seine Selektionsalternativen diskursiv zu entwickeln. Als "Auswahl von Werten" (S. 16) gibt er vier Kriterien vor, die ("teilweise abgeändert und neu gewichtet", S. 17) sich an von Heydebrand und Winko orientieren: Polyvalenz / Offenheit, Stimmigkeit, Originalität, Selbstreferenz (vgl. S. 17f.). Vor dem Hintergrund dieser vier Gütezeichen entdeckt Neuhaus in der Tat eine Reihe von Gattungen, vor allem aber von Autoren und Werken wieder, die das Etikett >kanonfähig< erhalten. So thematisiert er "die Problematik des >Vergessenwerdens< von Reiseberichten" (S. 41) und fordert die Aufnahme von Ludwig Kalisch in den Kanon, der seiner Ansicht nach die vier Kriterien erfüllt. Das Resümee lautet: "Kalischs Text (es geht um dessen Buch Paris und London von 1851, H.K.) ist – neben vielen anderen (!) – kanonfähig, obwohl die Forschung bisher Reiseberichte aus dem Kanon ausschließt, sofern es nicht um Texte herausragender Autoren geht" (S. 46).

Im internen Verweissystem seiner vier Kriterien kommt Neuhaus bei Kalisch und anderen Autoren zu plausiblen Ergebnissen. Damit ist Kalisch aber, so >kanonfähig< er nach der Viererskala von Neuhaus auch ist, noch keineswegs auf dem Weg zum Kanon. Auf bloßen Zuruf und als Lesetipp nämlich ist noch kein Autor dorthin gelangt. Die Geschichte der Kanonisierung ist wesentlich komplexer, als Neuhaus suggeriert. Erfolgreiche literarische >Wiederentdecker< wie Arno Schmidt haben zwar wie Neuhaus auch die Form des Plädoyers gewählt. Aber nicht Schmidts Wieland-Lektüren haben den (durchaus nicht vergessenen) Klassiker Wieland schließlich sogar mit wohlfeilen Ausgaben publik gemacht, sondern Schmidts erfolgreiches Projekt des Autors als einer sich entsprechend mächtig darstellenden, sich selbst inszenierenden Kanonisierungsgröße. "Ritter des Geistes" hat er die von ihm Wiederentdeckten genannt und auf diese Weise seine eigene Revisorentätigkeit gleich mitnobiliert.

Nach der Revision:
Die (nicht ganz so) neuen Titel und Autoren

Neuhaus dagegen reduziert seine Kanonisierungsmittel auf die Evidenz seiner Autor- und Textporträts. Ins Spiel gebracht werden (der Reihenfolge nach) Wilhelm Hauff und sein Roman Lichtenstein, Julius Rodenbergs Gedichte, Ludwig Kalischs Gebunden und Ungebunden, Fontanes Ellernklipp, Erich Kästners Die Schule der Diktatoren, Heinz Erhardts Gedichte und schließlich Uwe Timms Roman Johannisnacht.

Das 19. Jahrhundert sticht etwas hervor, das 20. Jahrhundert ist mit drei inkonsistenten Vorschlägen einbezogen. Die Liste enthält mit Fontane und Kästner zwei Autoren, die ohnehin zum Kanon gehören. Auch Hauff ist (das Gedenkjahr 2002 hat es gezeigt) keineswegs vergessen. Mit Rodenberg wird ein Lyriker ins Spiel gebracht, der neben vielen anderen, die das 19. Jahrhundert schätzte, aus dem Lyrik-Kanon herausfiel. Diese Selektionspraxis aber wäre eine eigene Studie wert. Nur wenige Zeitgenossen Rodenbergs blieben im Kanon (wie Mörike und Storm). Uhland und Geibel waren noch in den 50er Jahren in vielen Lesebüchern und Anthologien präsent, hielten aber der Kanondynamik der 60er Jahre nicht stand und waren bereits, als Brackerts Gegenkanon-Exempel in den herrschenden Kanon aufstiegen, fast vergessen. Ob Rodenberg je in den Literaturkanon des 21. Jahrhunderts geraten wird, ist eine spekulative Frage. Auf dem Hintergrund aktueller Kanon-Vorschläge ist seine Inthronisation eher nicht zu erwarten. In der rezenten Ratgeber- und Empfehlungsliteratur ist Lyrik ohnehin gegenüber dem Favoriten Roman nicht nur in einem quantifizierenden Sinne deutlich unterlegen, sondern auch im Kanonisierungsstil: Romane sind mit Titeln fixiert, während Lyrik meistens unter dem Label des Autornamens und dem allgemeinen Gattungsnamen >Gedichte< markiert werden.

Fontanes Erzählung Ellernklipp, bei Neuhaus breit nacherzählt (S. 86–97), gehört sicherlich zu den weniger bekannten Texten des Autors. Aber wie steht es zum Beispiel mit Stine und Unwiederbringlich, mit Cécile und den Poggenpuhls? Der Viererskala von Neuhaus hielten sie mühelos stand – wie viele andere Werke und Autoren. Das Phänomen ist komplexer, als es Neuhaus entfaltet. Gerade auch Kernkanonautoren sind in den unterschiedlichsten Kanoninstanzen nie mit dem Gesamtwerk präsent, sondern mit einer spezifischen Auswahl. Goethe, Kernkanonbewohner par excellence, hat nie mit Dramen wie Der Groß-Kophta am Theater-, Lese- und Schulkanon partizipiert. Dabei wäre (der wunder- und sensationssüchtigen Spaßkultur den Spiegel vorhaltend) gerade dieses Stück längst der Revision anempfohlen. Aber der Kanon wäre kein Kanon, wenn seine Selektionsmechanismen in solider philologischer Lektüre gewonnen würden.

Die Aporien des Revisors sind, so mein Resümee, bei Neuhaus unübersehbar. Und doch lässt sich sein Versuch auf andere Weise bewerten. Neuhaus hat, darin besteht der Reiz des trotz allem lesenswerten Buches, eben jene Ochsentour vorgeführt, die eine Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten auszeichnet, welche sich nicht an das Vorgegebene und Breitgetretene halten möchte. Das Stöbern in den Bibliotheken bringt dann Hinweise wie die auf Kalisch hervor - und motiviert denjenigen, der seine Geschichte der Nachkriegslyrik überarbeitet, sich einen Band von Gedichten aus der Feder von Heinz Erhardt zu besorgen und sich selbstkritisch zu fragen, wieso Erhardt in den Lyrikgeschichten der Nachkriegszeit bisher nicht auftauchte (wo doch Gernhardt heute sogar an prominentester Stelle genannt wird).

Das Revisionsspiel als Lesetipp

Neuhaus' Wiederentdeckungen und Re-Lektüren sollten als das gelesen werden, was sie im besten Sinne darstellen: Einladungen zum Lesen, Schmökern, Blättern in weithin unbekannten Texten der Literatur. Mit einer Kanon-Revision aber hat diese Remotivierung des Literaturwissenschaftlers als Entdeckerfigur fast nichts zu tun. Die Stärke der Lesetipps bei Neuhaus liegt paradoxerweise darin, dass endlich nicht wieder professionelle Leser den notorisch verstockten, lesefaulen Nicht- und Weniglesern etwas einbläuen wollen, sondern dass in der Kanondebatte endlich wieder Nicht-Kanonisches, noch nicht mit Kanongoldschnittrand Versehenes in den Blick gerät. Fontanes Ellernklipp kann dem Umgang mit dem Fontane-Kanon neue Impulse geben: als nicht kanonisierte Erzählung. Leider stellt Neuhaus die Frage nicht, ob Ellernklipp, auf den Kanon-Sockel gestellt, eigentlich mehr verlöre als gewänne.

Neuhaus differenziert nicht zwischen literarischen Wiederentdeckung und Kanonisierungspraxis. Hier liegt ein entscheidender Fehler seiner Konzeption. So muss auch das Fazit im Schlusskapitel (S. 151–158) höchst widersprüchlich bleiben, jene gut gemeinte, aber im Kern sehr schlichte Vision vom Zusammenspiel zwischen Literaturwissenschaft, Literaturkritik und Publikum.

In normativer Absicht schlägt Neuhaus vor: "Literaturkritiker sollten in ihren Rezensionen analytische, trennscharfe Bewertungskriterien mitliefern und es so den Lesern ermöglichen, der Bewertung zu folgen oder nicht zu folgen." (S. 155) Dass die Literaturkritik solchen Ratschlägen seit Jahren eben nicht mehr folgt, hat die Popularität der Literaturkritik in der Öffentlichkeit der Massenmedien erst ermöglicht. Als event-Promoter, nicht als philologisch "trennscharfe", auf Begriffsdisziplin eingeschworene Seminaristen haben die populärsten Literaturkritiker ihren Siegeszug angetreten und inzwischen sogar im handfest ökonomischen Sinne das Kanonisierungsgeschäft übernommen – ohne sich um irgendwelche Literaturgeschichten oder gar um gut gemeinte Kanon-Revision literaturwissenschaftlicher Entdeckungsreisender zu kümmern.

Neue Kanonkandidaten:
Popsong und Videoclip

Und auch dass Literaturwissenschaftler inzwischen, wie Neuhaus, den Popsong und den Videoclip für kanonfähig halten (S. 122–150), kümmert die erfolgreichen Kanonisten des Fernsehens und der Magazine gar nicht – ebenso wenig wie die Rezipienten der Popkultur, die zwischen Literatur und Musik vielleicht feiner unterscheiden als Literatur- und Medienwissenschaftler, die über Kanon-Mischungen unter den Bedingungen der Hybridkultur nachdenken. Unter dem Stichwort des erweiterten Literaturbegriffs (vgl. S. 116–122) mag zwar die Literaturwissenschaft ihre eigene Kanonpraxis diskutieren: Neuhaus liefert dazu eine fundierte Argumentation. Eine Revision des literarischen Kanons indes wird mit solchen Vorschlägen nicht eingeleitet. Wohl aber erweitert sich der Kanon literaturwissenschaftlicher Arbeitsfelder, wenn nun auch Popsong und Videoclip zum Forschungs- und Seminarthema gemacht werden.

Ob eine solche Kanon-Archivierung Erfolg verspricht, erscheint mir zweifelhaft. Popsong und Videoclip sind wirkungsmächtig gerade dadurch geworden, dass sie bisher nicht von Kanon-Produzenten in einem Atemzug mit Goethe, Schiller, Kafka, Rodenberg und Heinz Erhardt genannt werden. Die Kanonisierungspraxis der Jugendkultur folgt anderen Regeln und Formatierungsmustern als der literarische Kanon. Oder sollte die Kanonisierung der Pop-Kultur selbst ein Ausdruck jener Marginalisierung von Literatur sein, deren Begleitmusik die zur Zeit lautstark und prominent sich gerierende Kanondebatte der Medien ist?

Der bei Brackert 1974 emphatisch ausgestaltete Kanon hatte (paradigmatisch für jene Zeitphase) noch ein wichtiges Legitimations- und Repräsentationselement: Literatur war ein exzeptionelles kulturelles Leitmedium, dem die Kraft gruppenspezifischer und sogar kollektiver Identitätsbildung zuerkannt wurde. Und 2002? Die Revision des literarischen Kanons müsste zunächst eine Debatte darüber sein, ob kanonische Grundfunktionen heute noch unverändert gelten – jenseits bloßer Beschwörungsrituale der Kanonsortimenter.

Indem Neuhaus dieser Frage konsequent ausweicht, hat er die Chance vertan, die Kanon-Revision aus dem Kontext kultureller Praktiken der Gegenwart zu entwickeln. Ein paar neue Autorennamen und Werktitel, einige neue Musiknummern und polyvalent-stimmig-originell-selbstreferentiell gemachte Videoclips ergeben in der Summe noch keine Revision des literarischen Kanons.


Prof. Dr. Hermann Korte
Universität Siegen
Didaktik der dt. Sprache u. Literatur
FB 3 – Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften
Adolf-Reichwein-Straße
D - 57068 Siegen

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Ins Netz gestellt am 26.01.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Simone Winko. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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