Korte über Kaiser / Matuschek: Begründungen und Funktionen des Kanon

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Hermann Korte

Vielstimmige Kanonreflexion

  • Gerhard R. Kaiser / Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie (Jenaer germanistische Forschungen N.F. 9) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2001. 309 S., 22 Abb. Geb. EUR (D) 50,-.
    ISBN 3-8253-1092-2.


Der literarische Kanon –
Erst erforschen
oder gleich verteidigen?

Der vorliegende Sammelband, Ergebnis einer an der Universität Jena veranstalteten Vortragsreihe, bietet vierzehn Beiträge zu einem Themenkomplex, der sich zur interdisziplinären Reflexion besonders anbietet. Verknüpft werden theologische, philosophische, philologische und kunsthistorische Facetten der wissenschaftlichen Kanondebatte. Der pointiert sachlich gehaltene Titel spricht zwar vom Kanon im Singular, aber schon die am Diskurs beteiligten Fächer lassen darauf schließen, dass es nicht um "Begründungen und Funktionen des Kanons" geht, sondern um Konstitutions- und Legitimationsfragen unterschiedlicher Kanones und divergente Kanonisierungspraktiken.

Gerade die Vielstimmigkeit macht den Reiz des Buches aus, der noch dadurch verstärkt wird, dass unterschiedliche Temperamente und Selbstverständnisse aufeinander treffen. Das Spektrum reicht von seriöser Gelehrsamkeit – Lambert Wiesings Beitrag "Über Platons Mimesis-Begriff und sein verborgener Kanon" (S. 21–42) ist dafür ein herausragendes Beispiel – bis zur aufgeregten, schrillen Polemik bei Gottfried Willems, der seine Kanonapologie "Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanondebatte und zur Lage der Literaturwissenschaft" (S. 217–268) zu einem Rundumschlag gegen literaturwissenschaftliche Positionen, Methoden und Forschungsrichtungen seit den siebziger Jahren nutzt. Damit vereint der Band jene widerstreitenden Perspektiven und Interessen, welche die literaturwissenschaftliche Kanondiskussion bis heute bestimmen.

Paradigmen der Kanongeschichte I:
Antike

Wissenschaftliche Kanonreflexionen sind nach wie vor weit entfernt von konsistenten Kanontheorien. Um so wichtiger sind deshalb neben Fallstudien großflächige Panoramen, in denen Makrostrukturen von Kanonisierungsprozessen erfasst werden. Einen solchen Versuch unternimmt Jürgen Dummer in seiner informativen Überschau über die "Entwicklungen des Kanongedankens in der Antike" (S. 9–20). Ausgehend von der Sprachwurzel und Geschichte des Wortes Kanon im Griechischen hebt Dummer zunächst hervor, "daß das Wort nirgends für die wertende (ein- oder ausgrenzende) Zusammenstellung von Autoren oder einzelner Schriften in der Art eines (modernen) Kanonverständnisses verwendet wird." (S. 11) Trotzdem wurde in der Antike das Geschäft der Kanonisierung in außerordentlich erfolgreichen Projekten praktiziert. Den Weg von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung der Homerischen Epen nennt Dummer einen "Akt ursprünglicher Kanonisierung" (S. 13).

Wie stark von Anfang an explizit außerliterarische Interessen in Kanonisierungsprozesse eingebunden waren, verdeutlicht das Beispiel des Peisistratos aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Der athenische Tyrann verfügte "die öffentliche Deklamation" der Ilias und der Odyssee "an dem neu organisierten Fest der Panathenäen" und dokumentierte damit die Koinzidenz von religiös motiviertem "Textinteresse und staatliche(m) Anspruch" (S. 13). Kanonmacht erscheint als eine von Strategien, Selbstverständnissen und symbolischen Repräsentationsweisen der Mächtigen überformte und kontrollierte kulturelle Praxis. So verwundert es nicht, dass sich zwischen 338 und 326 v. Chr. bestimmte Kanonisierungsmechanismen der Peisistratos-Ära wiederholen, nun allerdings für die Kanonisierung der griechischen Tragödien- und Komödiendichtung. Unter Lykurgos wurden in Athen die Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides in einer verbindlichen "Textsammlung" kodifiziert, die den Rang eines ">Staatsexemplar(s)<" (S. 14) erhielt und damit die Vorlagen für verbindliche Abschriften war. Und weil der Textkanon einen zeitüberdauernden Anspruch haben sollte, war seine öffentliche Nutzung Teil einer kulturpolitischen Kanonstrategie: "Dem Bestreben Lykurgs, die Texte der drei großen Tragiker zu vereinen, entspricht, daß er auch die Aufstellung von Statuen der Dichter veranlaßte." (S. 14) Auch für die Komödiendichter Aristophanes, Eupolis und Kratinos läßt sich eine analoge Kanonisierungspraxis ermitteln.

Dummers kleine Studie – sie wird im Schlussteil des Buches ergänzt durch Michaels Diers' Essay über Polyklets Kanonschrift und dessen zum Bildhauerkanon avanciertes Speerwerfer-Standbild (S. 285–309) – enthält eine Fülle kanongeschichtlicher Details, die einen genauen Einblick in die antikische Kanonarchitektur geben. Diese basierte mit Ausnahme der "auf die vollständige Sammlung alles Erhaltenen" (S. 16) angelegten Bestandssicherung im ptolemäischen Museion von Alexandria auf einer autorzentrierten Selektion. Der "Dreierbund" (ebd.) von Tragödien- und Komödiendichtern wurde durch einen Kanon von neun Lyrikern und zehn Attischen Rednern ergänzt, zu denen auch Lykurg zählte. Drei Merkmale charakterisieren den athenischen Kanonisierungsprozess, dem keine ausformulierte Theorie der Wertung zugrunde lag: Erstens setzte die Kanonisierung wesentlich später als die Entstehung der Werke ein und war insofern ein kulturelles Spätprodukt; zweitens war der Kanongebrauch, beispielsweise die Inszenierung und Rezitation der Texte, fest integriert in einen periodisch wiederkehrenden Festtagskalender; und drittens war, wie unter Lykurg, der Rekurs auf den Kanon eine über Kultur vermittelte politische Manifestation repräsentativer Kultur, indem die kollektive Erinnerung und ihre öffentliche Zelebrierung die Bedeutung und Größe Athens dokumentierte - in deutlicher Abgrenzung nach außen, unter Lykurg vor allem gegenüber dem Expansionismus des mazedonischen Königtums.

Paradigmen der Kanongeschichte II:
Kanones der Weltreligionen

Zwei weiteren Kanones gilt das Interesse Michael Trowitzschs ("Der biblische Kanon", S. 42–54) und Tilman Seidenstickers ("Der religiöse Schriftkanon im klassischen und modernen Islam", S. 55–68). Seidensticker verdeutlicht die für streng geschlossene Kanonformationen symptomatische Tendenz zum Streit um Deutungshoheit, um theologische, politische und kulturelle Interpretations- und Auslegungspraktiken mit entsprechenden Konsequenzen für das Alltagshandeln der Kanonnutzer: Die hohe, Jahrhunderte mühelos überdauernde Dignität religiöser Textkanones steht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zur Historizität und Aktualität konkurrierender Deutungskanones – mit dem Ergebnis, dass die Rezeption und, damit eng verbunden, die Applikation solcher Kanones den festen, verbindlichen Text in einer Kette fortdauernder Deutungsvarianten verflüssigen.

Klopstocks "heilige Poesie" –
Ein Kanonprojekt?

Was für biblische Texte und für den islamischen Schriftkanon gilt, das läßt sich an profanen literarischen Textkanones noch viel stärker demonstrieren, besonders an solchen, deren Halbwertzeit ohnehin sehr gering war. Bernd Auerochs hat dies am Beispiel von Klopstocks Begriff und Theorie der "heiligen Poesie" erläutert ("Die Unsterblichkeit der Dichtung. Ein Problem der >heiligen Poesie< des 18. Jahrhunderts", S. 69–87). Dabei geht Auerochs von einer kanontheoretisch grundlegenden Unterscheidung aus und grenzt den geschlossenen, "aus einer fest umrissenen Anzahl von Texten" (S. 71) gebildeten Kanon vom offenen Kanon ab:

Der offene Kanon unterscheidet sich vom geschlossenen nicht nur dadurch, daß er in die Zukunft hin offen ist, daß also immer neue Texte zu ihm hinzukommen, er ist auch in sich revidierbar: bereits etablierte Texte können aus dem Kanon herausfallen, ältere, ehemals weniger geschätzte Texte können neu in den Kanon aufgenommen werden. (S. 71 f.)

Vor diesem Hintergrund kann die "Unsterblichkeit der Dichtung", die Auerochs am Paradigma Klopstocks behandelt, nur ein Wettstreit um die besten (d. h. dauerhaftesten) Rangplätze im Literaturkanon sein; die "Unsterblichkeit" biblische Texte dagegen liegt nach der Schließung des christlichen Textcorpus dauerhaft fest. Nun verweist gerade der Klopstock'sche Begriff "heilige Poesie" – er stammt aus der Vorrede zum ersten Band des "Messias" (1755) – auf den biblischen Kanon, freilich nicht um dessen Geschlossenheit in Frage zu stellen, sondern um den Anspruch exzeptioneller, miteinander konkurrierender epischer Dichtungen zu fixieren: "Der Rückgriff auf die wahre Religion eröffnet damit auf dem poetischen Feld die Möglichkeit des Wettstreits." (S. 78) Unter produktions- wie unter wirkungsästhetischem Aspekt betrachtet, liest sich Klopstocks Programmformel "heilige Poesie" wie der Leitgedanke eines Selhstkanonisierungsprojekts. Der Dichter stellt seinen "Messias" in einen weit über die zeitgenössische biblische Epik (beispielsweise Bodmers "Noah" aus dem Jahre 1750) hinausgreifenden Kontext, der sich in Konkurrentennamen wie Dante und Milton manifestiert. Solche Erwartungen freilich wurden noch zu Lebzeiten des Dichters immer obsoleter, und zwar in dem Maße, wie sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts allmählich ein eigener Literaturkanon deutschsprachiger Dichtung herausbildete, Klopstock also wirkungsgeschichtlich nicht durch Dante und Milton, sondern durch seine eigenen Zeitgenossen eine Konkurrenz erhielt, vor deren Werken letztlich der Ruhm des "Messias" zu welken begann.

Anthologie als Kanon?

Eine besondere Stärke der kanongeschichtlichen Beiträge des Sammelbandes liegt in ihrem Perspektivenreichtum. Nach einer Reihe historischer Längs- und Querschnitte stehen bei Christoph Bode ("Kanonisierung durch Anthologisierung. Das Beispiel der englischen Romantik", S. 89–105) und Gerhard R. Kaiser ("Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George / Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt", S. 107–138) Kanonisierungsmedien im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Vor allem für die lyrische Gattung hat sich die Anthologie schon seit der Antike, seit der "Anthologia Graeca", als eine der erfolgreichsten, bedeutsamsten Formen kanonischer Selektionspraxis erwiesen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die in der Auswahlprozedur selbst dokumentierten Repräsentation von Autor- und Textbeständen, sondern auch als Ausdruck spezifischer kultureller und kulturpolitischer Strategien, die bisweilen, wie Hugo von Hofmannsthals "Deutsches Lesebuch" (1922) und Rudolf Borchardts "Ewiger Vorrat deutscher Poesie" (1926), sogar nationalpädagogische Implikationen verfolgten.

Christoph Bode hatte bereits 1997 unter dem Titel "Singing the Canon: Warum Mehrstimmigkeit eine gute Sache ist" die signifikante Offenheit literarischer Kanones hervorgehoben. 1 Auch die "Kanonisierung durch Anthologisierung" kann sich nach Bode nicht auf sakrosankte überhistorische Kriterien berufen: "Der Wert eines literarischen Textes ist keine Eigenschaft, die ihm inhärent wäre. Ein Kunstwerk, eine Komposition, ein Gedicht ist wertvoll für einen bestimmten Menschen, für eine bestimmte Gruppe, für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur. (...) >Der< Kanon ist eine Schimäre – wir haben es gesellschaftlich immer mit einer Galaxie von Kanones zu tun (...)." (S. 90)

Anthologiekanonstrukturen können, wie Bode an diversen Anthologie-Beispielen zeigt, unterschiedliche Selektionsprinzipien, Selbstverständnisse und ästhetische Normen repräsentieren. Um so prägnanter erscheinen Auswahlmechanismen, die sich von Sammlung zu Sammlung wiederholen und eine eigene Tradition herausbilden, etwa die Prägung des Romantikerkanons als eines dezidiert männlich bestimmten Selektion, wie sie den älteren Anthologien englischer Poesie der Romantik eigen ist. Dass inzwischen andere – alternative – Anthologie-Modelle einen veränderten, um Dichterinnen erweiterten Literaturkanon dokumentieren, erweist sich als ein der literarischen Kanonbildung immanentes Phänomen: Hinter dem "Anschein von Stabilität und Kontinuität" verbergen sich "bei näherer Betrachtung", so Bode, "ungeheure Dynamik, Antagonismen und Brüche" (S. 104).

Zu den eifrigsten Kanonbildnern des deutschsprachigen Raums gehörten immer wieder die Dichter selbst. Kaiser widmet sich den Kanonstrategien einiger bedeutender Anthologisten des frühen 20. Jahrhunderts. Noch heute stechen deren ambitionierte Konzeptionen hervor. So zielten George und Wolfskehl in ihrem Plan zu einer mehrbändigen Anthologie deutschsprachiger Dichtungen nicht nur auf bloße Dokumentation für bedeutsam gehaltener Werke und Autoren ab, sondern verknüpften ihre Anthologie-Struktur mit einer ebenso programmatischen wie erfolgreichen Durchmusterung des aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Literaturkanons, deren Ergebnis eine veränderte Kanon-Architektur und ein wagemutiger Kanonumbau war. Am bekanntesten wurde die Hölderlin-Kanonisierung des George-Kreises. Mit Recht hebt Kaiser aber auch die Abwertung von Heine und Schiller (als Lyriker), die Akzentuierung von Brentano, Mörike und Meyer und den Ausschluss von Droste-Hülshoff hervor (vgl. S. 100).

Wissenschaftsgeschichte
als Kanongeschichte

Kaisers detailreicher Beitrag zu den Dichter-Anthologisten des frühen 20. Jahrhunderts findet seine Ergänzung in Ulrich Schulz-Buschhaus< grundlegender Studie zu einer weiteren Kanonmacht, der literaturwissenschaftlichen Kanoninstanz. Schulz-Buschhaus befasst sich mit der Kanonisierungspraxis zweier Literaturwissenschaftler, deren Schriften selbst jahrzehntelang kanonischer Rang zukam. In "Curtius und Auerbach als Kanonbildner" (S. 155–172) verbindet er Wissenschafts- und Kanongeschichte miteinander und vermag gerade in der Kontrastierung die innere Motivstruktur des Kanonisierungsgeschäfts offenzulegen, das von individuellen Optionen, eigenen Forschungsschwerpunkten, vom Verhältnis zur Literaturgeschichte und nicht zuletzt vom Grundverständnis der eigenen wissenschaftlichen Praxis geprägt war. Der Blick auf Curtius ist auch für die rezente Kanonforschung von großer Bedeutung, weil Curtius in seinem Standardwerk "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" ein Kapitel dem Thema "Moderne Kanonbildung" widmete und, zusammengefasst unter dem Begriff "Idealklassik" (vgl. S. 162), den innersten Kern eines europäischen Literaturkanons (Homer, Virgil, Dante, Shakespeare, Calderón, Goethe) definierte. Die Souveränität, mit der Schulz-Buschhaus die Praxis zweier Kanonkonstrukteure im Spannungsfeld von Moderne, historischer Tradition und kultureller Überlieferung auslotete, basiert auf einem Verständnis literarischer Kanonbildung als einem geschichtlich bestimmten, mithin veränderbaren und "unter den Bedingungen der Moderne" (S. 155) kaum bis ins Letzte auszuleuchtenden Phänomen.

Im Gegensatz zwischen Curtius, dem leidenschaftlichen Kanon-Architekten, und Auerbach, dessen "Partialisierung und Relativierung der Kanonbildung" (S. 171) aufs engste mit der eigenen Mimesis-Theorie verknüpft war, werden nicht zu harmonisierende, widersprüchliche Konstellationen literarischer Kanonisierungspraktiken deutlich, die Schulz-Buschhaus zu der Schlusserkenntnis veranlassen, "daß der moderne Kanonbildner selbst den klarsten Sachverhalt objektivierbarer Kanonizität nicht mehr formulieren möchte, ohne zugleich einen Begriff von deren unhintergehbarer Kontingenz zu entwickeln." (S. 172)

Schattenboxen
oder den Kanon gegen
(eingebildete) Feinde verteidigen

Nicht alle Beiträge des Sammelbandes sind unter dieses Resümee zu subsumieren. Eine überzeugende Gegenposition indes wird gerade bei denen nicht sichtbar, die sich mit neueren und neuesten Literaturtheorien und Forschungsansätzen auseinandersetzen. So verhindert schon die Zuspitzung der Alternative "Kunst- oder Kulturwissenschaft?" in Jens Hausteins Überlegungen "Zum Kanonproblem der germanistischen Mediävistik" (S. 139–154) eine abgewogene Reflexion jener Plädoyers für eine kulturwissenschaftlich arbeitende Philologie, die der Autor kritisieren möchte.

Es ist offenbar der Beliebigkeitsverdacht, der nicht nur bei Haustein, sondern bei Haustein wie bei Willems zu kritischen Einlassungen mit allerlei aktuellen Literaturtheorien und Forschungsverfahren führte. Der Gestus der Rechthaberei ersetzt zuweilen die Stringenz der eigenen Argumentation. Haustein bleibt den Nachweis schuldig, dass die Option für Kulturwissenschaft literarische Kanones und philologisches Arbeiten am Text in einen den Status von Literatur missachtenden Relativismus und auf diese Weise methodisch ad absurdum führen könnte. Im übrigen ist wissenschaftlichen Literaturtheorien insgesamt ein auf die Theorie hin spezifizierter Kanon eingeschrieben, wie Stefan Matuschek am Beispiel semiotischer Literaturtheorien der sechziger und siebziger Jahre illustriert ("Die majestätische Bequemlichkeit eines Ordnungsmodells. Zur Funktion der Scholastik in der neueren Literaturtheorie", S. 173–190). Für Julia Kristeva und Umberto Eco etwa führt diese Spur, so Matuscheks Recherche, sogar zur mittelalterlichen Scholastik zurück.

Wohl nur, wer – wie Gottfried Willems 2 in seiner Philippika "Der Weg ins Offene als Sackgasse" (S. 217–267) – alle anderen bereits in der "Sackgasse" sieht, kann die seit den siebziger Jahren geführte "Debatte um den Literaturbegriff" als "Negation aller Kriterien der Literarizität" denunzieren, "deren Meisterstück die Negation jener Differenz von fiktionalem und nonfiktionalem Text (...) durch den Panfiktionalismus ist." (S. 236) Willems vermutet hier den Hauptstoß gegen Kanon und Literatur gleichermaßen. Im Visier hat er dabei nicht bloß Hayden White und den New Historicism, sondern eine Vielzahl neuerer Theorien: "Der Panfiktionalismus will bald konstruktivistisch, ja hirnphysiologisch, bald dekonstruktivistisch und bald diskursanalytisch dartun, daß es keinen kategorialen Unterschied zwischen Literatur und Historie, Fiktion und Sachtext gäbe" (S. 237); Ziel dieser Theorien sei die "Einebnung aller Differenz" (ebd.), also die vollständige Auflösung des Kanons.

Für Willems kulminiert der "Panfiktionalismus" in der kulturwissenschaftlichen Forschung Friedrich Kittlers, der "Kittlerei" (238). Nun ließe sich gerade für Kittler eine – in ihren Funktionen noch zu klärende – Orientierung an kanonischen Werken mühelos ermitteln. Aber Willems hat sich auf die Rolle des Polemikers festgelegt: "Ich stehe (...) nicht an zu erklären, daß ein Mensch, der Fiktion nicht von Realität zu unterscheiden vermöchte, (...),– daß ein solcher Mensch nicht in das Pantheon der Originalgenies gehörte, sondern in die Psychiatrie." (S. 238)

... oder doch:
"Offenheit und Freiheit"?

Weil es für Willems keines Belegs mehr bedarf, dass Literaturwissenschaftler ihre "Kanones auf dem Altar der Modernisierung zu verbrennen" (S. 267) beabsichtigten, ist seinem eigenen Beitrag eine selbstgefällige Rhetorik der Rettung und des einzig richtigen Blicks eingeschrieben. Warum dieser Beitrag, der bereits vorher als Einzelpublikation erschien, 3 in den Sammelband aufgenommen wurde, bleibt mir unverständlich. Im vielstimmigen Kanon-Chor des Buches jedenfalls fallen die schrillen Töne unangenehm auf. Das letzte Wort gehört Willems jedoch nicht. Michael Krejcis knapper Essay "Literaturkanon – didaktisch betrachtet" (S. 270–284) liest sich im programmatischen Werben um "Offenheit und Freiheit" (S. 278) wie eine Versachlichung und Richtigstellung der wissenschaftlichen Kanondebatte, welcher der Sammelband der Jenaer Wissenschaftler einige wichtige Impulse gegeben hat.


Prof. Dr. Hermann Korte
Universität Siegen
Literaturdidaktik
Adolf-Reichwein-Straße
57068 Siegen

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Ins Netz gestellt am 03.12.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Simone Winko. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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Anmerkungen

1 Christoph Bode: Singing the Canon. Warum Mehrstimmigkeit eine gute Sache ist. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 65–77.    zurück

2 Zu einer anderen – deutlich positiveren – Beurteilung der Kanonapologie Gottfried Willems' kommt Dücker in seiner IASL-Rezension
[vgl. http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/duecker.html].    zurück

3 Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanondebatte und zur Lage der Literaturwissenschaft. Bonn 2000.    zurück