Landfester über Janssen: Textile und Texturen

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Ulrike Landfester

Textilarbeiten
— feministische Relektionen

  • Carmen Viktoria Janssen: Textile und Texturen. Lesestrategien und Intertextualität bei Goethe und Bettina Brentano-von Arnim (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften; Reihe Literaturwissenschaft; 301). Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 165 S. Kart. DM 48,-. [Zugl.: College Park, Maryland, Univ. Diss. 1997]
    ISBN 3-8260-1740-4.


Leitthese

Die Leitthese der vorliegenden Arbeit weist insbesondere im Licht der Bedeutung, die kulturwissenschaftliche Analysen auch und gerade von Literatur in den vergangenen Jahren gewonnen haben, vielversprechende Konturen auf: Janssen widmet sich auf der Basis eingehender theoretischer und historischer Vorüberlegungen dem Verhältnis von Textilmetaphoriken und Textualität in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821 / 29) und Bettine von Arnims Erinnerungsbuch Clemens Brentano's Frühlingskranz (1844), mit der Absicht, die Interferenzen zwischen beiden Texten und dem historischen Umgang mit Textilarbeiten kritisch nachzuzeichnen:

Das Ziel dieser Untersuchung ist, die Vernetzung textiler Repräsentationen im Kontext von Text, Geschlecht und Klasse aus sozial-historischer und poststrukturalistisch feministischer Perspektive neu zu lesen. (S. 13f.)

Textilarbeiten

Zu diesem Zweck beginnt Janssen mit einem Forschungsbericht, der so gut wie ausschließlich sozialhistorische Arbeiten berücksichtigt, da die germanistische Forschung zu diesem Zusammenhang bestenfalls "dürftig" (S. 18) sei. Dabei gelangt sie zu der vor dem Hintergrund der inzwischen recht extensiven und gründlich betriebenen Forschung zur Salonkultur des späten 18. Jahrhunderts unter anderem zu dem — nicht konkret referenzierten — Ergebnis, der Salon werde zu einer "öffentlichen Sphäre, in dem [sic] Frauen zumeist sticken, stricken, häkeln, nähen, malen und vorlesen, während die Männer lesen, schreiben und diskutieren" (S. 28), ein Ergebnis, das sich für die bekannteren Salonnieren wie Rahel Levin Varnhagen, Henriette Herz oder auch Bettine von Arnim und deren Gesellschaften objektiv nicht bestätigen läßt, Janssen aber die argumentative Basis dafür gibt, den Salon als "öffentliches Forum von Frauensprache und Schreiben, die sich in einem eigenen Zeitrhythmus und Symbolsystem artikuliert" (S. 29), einzusetzen.

Janssen geht es dabei darum, ein sozialhistorisches Raster zu konstatieren, das ihre späteren Textlektüren in klare feministische Frontenbildungen einzuspannen erlaubt — ein Raster, demzufolge Textilarbeiten im literarischen Text durchweg

  1. auf weibliche Körper und deren Zurichtung oder Marginalisierung verweisen und

  2. zugleich auch als ein derartigen patriarchalischen Textproduktionsmechanismen widerstehendes, gleichsam subversives "Aufschreibesystem" (S. 35 in Anlehnung an Friedrich A. Kittler) gelesen werden können:

"Textilarbeiten," so Janssen programmatisch zu Beginn ihres zweiten Kapitels, "gelesen aus feministischer Perspektive als Diskurs von Zeichen, Sprache und geschlechtlichen Differenzen sucht [sic] nach einer Relektüre von Textil und textilen Techniken in der Literatur von Frauen und Männern." (S. 36)

Relektionen

Janssens Versuch einer theoretischen Fundierung dieser Relektüre geht von der Voraussetzung aus, daß "Metapher und Metonymie der Textilarbeit [...] in der Literatur traditionell gelesen [wurde] als Ausdruck weiblicher Domestikation" (S. 37), wobei offen bleibt, auf welche Traditionen sie sich hier genau bezieht, da sie selbst die mythologischen Traditionen der spinnenden und webenden Frauenfiguren wie Arachne, die Parzen, Penelope etc. nachdrücklich für das subversive textile Aufschreibesystem vereinnahmt; denkbar wäre, daß sie demgegenüber theoretische Ansätze wie etwa die Rezeptionsästhetik im Blick hat, die Janssen im Folgenden als zutiefst patriarchalisch erstarrt, machtbewußt und "klinischdistanziert" (S. 51) denunziert, um demgegenüber eine flexible, kreative feministische Lektüre zu postulieren:

Die Diskussion um Macht und Kontrolle zwische Text und Leser und Leser und Text wird ersetzt durch Kommunikation, Austausch und bewußtem Artikulieren des Leseprozesses als politischem Vorgang. (S. 52)

In ihrem dritten Kapitel diskurtiert Janssen "die historiographischen Zusammenhänge zwischen Textil, textilen Techniken, Geschlecht und Klasse im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert." (S. 54) Auch hier konstatiert sie, wie in ihrem ersten Kapitel, "Knoten in der Forschung" (ebd.), die ihre Präsentation aufzulösen anstrebt; die Lektüre der "textilen Graphie" — eine Klärung dieses Begriffs erfolgt nicht — sei durch die Geringschätzung der Textilkunst so erschwert worden, daß "[d]as Textil [...] ebenso wie der Text an vielen Stellen verschlossen [sei], so daß sich diese Stellen nicht im Leseprozeß dekodieren lassen" (S. 55), und sich die feministische Relektüre daher "doppelt darum bemühen müsse, durch eine Linse zu lesen, die [...] die >handgestrickte< Sozialisation entribbelt." (S. 56)

Janssen grundiert diese Forderung mit einer Skizze der Geschichte von Textilarbeiten im Rahmen staatlicher Disziplinarmaßnahmen wie Armen- und Arbeitshäusern, verlegt dabei das in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts aufbrechende und erst zu diesem Zeitpunkt auch entsprechend benannte Problem des Pauperismus in das 17. Jahrhundert zurück und beschreibt die Institution des Armenhauses aus Sicht des Bürgertums als "Beispiel für [...] karikative [sic] Nächstenliebe" (S. 62).

In diesem Kapitel unternimmt sie zudem desweiteren eine Reihe von Textanalysen, die die normative Konstruktion von Weiblichkeit durch Textilarbeiten belegen sollen. Dabei gelingt es ihr, aus einigen Zeilen von Schillers Glocke — "und sammelt im reinlich geglätteten Schrein / Die schimmernde Wolle, den schneeigten Lein, / Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer" (zit. S. 67) — eine "Assoziation mit Weißstickerei" (ebd.) herauszulesen, die vom Text selbst zwar nicht gedeckt wird, Janssen aber erlaubt, die Verbindung zwischen Weißstickerei und Jungfräulichkeit im Dienst einer von Schiller hier angeblich propagierten Produktion "vollständige[r] sexuelle[r] Identität" (ebd.) in ihre Analyse zu projizieren.

Ebenso entschlossen liest sie Achim von Arnims Artikel über die Berliner Kunstausstellung von 1810 als Ausgrenzung der darin angeführten Stickerinnen aus dem Einzugsbereich von Arnims Kunstbegriff, obwohl Arnim selbst in diesem Text faktisch das Gegenteil unternimmt. Von vermutlich unbeabsichtigter Komik, wenngleich charakteristisch für die Eigendynamik, die Janssens Fehllektüren auszeichnet, ist die Zurichtung eines Textabschnittes von Karl Philipp Moritz über Janssens zentrale mythologische Bezugsfigur, die vergewaltigte, ihrer Zunge beraubte und solcherart auf die Mitteilung ihrer Leiden durch ein gewebtes Tuch angewiesene Philomele, von der Moritz Janssen zufolge bemerkt habe, "[d]aß sie dies Tuch würgte" (S.74); die Textstelle lautet richtig: "Daß sie es in dies Tuch würkte".

Die Serie der Textanalysen wird beschlossen durch die des Gedichts Zueignung von Karoline von Günderrode, in der Janssen den Einfluß des zeitgenössisch modischen Orientalismus auf die darin präsentierte Kranzmetaphorik ("Es flechten Mädchen so im Orient / Den bunten Kranz") ignoriert, um stattdessen darin "einen Intertext zum kolonialen Import von Textilien" (S. 80) zu finden. Ergebnis der Analyse ist, Günderrode habe das Flechten gewählt, um den — vermutlichen — Adressaten des Gedichts, ihren Geliebten Creuzer, nicht durch Anspielungen auf Gewebe und Netz zu verschrecken, und also heißt es am Ende: "Die Textualität des Gedichts entspricht einem geflochtenen Blumenkranz." (S. 83)

Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre"

Die Hälfte des Buchumfangs ist längst überschritten, als Janssen in ihrem vierten Kapitel endlich zur Auseinandersetzung mit Goethes Wanderjahren gelangt. Einmal mehr konstatiert sie, wie wenig die Forschung, diesmal im Bereich der Textilmetaphern Goethes, geleistet habe, und was bisher nur unangenehm selbstgerecht gewirkt hat, ist an dieser Stelle schlicht falsch: Gerade zu Goethe gibt es eine Reihe von einschlägigen Untersuchungen zur Textilmetaphorik, die durchaus nicht entlegen publiziert, von der Verfasserin aber, ihrem Literaturverzeichnis nach zu schließen, offenbar übersehen worden sind.

Nicht so sehr daran allerdings scheitert Janssens Versuch, die Struktur der Wanderjahre als die einer "zusammengenähte[n] Komposition" (S, 87) plausibel zu machen, sondern vielmehr an einem Problem, das, in den vorangegangenen Kapiteln bereits immer wieder aufgebrochen, eine präzise Argumentationsführung geradezu a priori sabotiert, eine fast schon programmatisch anmutende Vermischung der Beschreibungsebene mit dem beschriebenen Sujet nämlich: Es mag noch als ironische Geste hingehen, wenn man von den Autoren von Forschungsbeiträgen zur Textilarbeit konstatiert, daß "[a]lle drei [...] sich in einem ähnlich gewebten Kokon" (S. 58) befinden; eine Textanalyse aber, die sich zur Beschreibung textiler Metaphern selbst unablässig solcher Metaphern bedient, ist kaum noch als Analyse lesbar, wenn ihr Instrumentarium so ostentativ mit dem Gegenstand ihres Erkenntnisbegehrens identifiziert wird.

Es ist sicher vertretbar, für Goethes Roman "einen bewußten Umgang mit textilen Metaphern als verbindende Brücke zwischen Textkomposition und intratextuellem Handlungsgeflecht" (S. 87f.) zu postulieren; nicht vertretbar ist es, aus dem — angenommenen — Mangel eines kontinuierlichen Aufbaus zu schlußfolgern, es seien "die LeserInnen, die die Texte rekonstruieren und als eigenen genähten Text lesen", und dies umso weniger, als gleich im nächsten Satz der Herausgeber wieder in die ihm abgesprochene Strukturbildungsmacht eingesetzt wird: "Der Herausgeber hat ihn vorbereitet und aneinandergenäht" (S. 93) — entweder betreibt der Autor der Wanderjahre ein rezeptionsästhetisches Spiel, für dessen Diagnose dann allerdings die Textilmetaphorik nicht unbedingt conditio sine qua non ist, oder aber die Textilmetaphorik dominiert die Textstruktur tatsächlich mit der Eigenmacht, die Janssen ihr zuschreibt, dann aber stehen hier nicht mehr rezeptionsästhetisch inszenierte Spielräume, sondern sehr klar und in den von Janssen selbst zitierten Textstellen sogar explizit vorgegebene Strukturen zur Diskussion.

Diese Strukturen könnten von Janssens Ansatz aus lesbar gemacht werden, sabotierte die Verfasserin den angestrebten Erkenntnisgewinn ihrer Arbeit nicht dadurch, daß sie Goethes bewußten Umgang mit Textilmetaphern gegen deren angenommen eigendynamisches Subversionspotential ausspielt, so daß am Ende nur ein in sich redundanter Befund stehen kann:

In Bezug auf die sozialhistorische Relevanz der Textilarbeit verschlüsseln die weiblichen Geschlechtscharaktere aus Goethes Perspektive zentrale Diskurse und Sprachräume weiblicher Subjektivität." (S. 117)

Bettine von Arnims "Clemens Brentano's Frühlingskranz"

Die Systemfalle, in der Janssen sich mit ihrer Goethe-Analyse fängt, greift im Kapitel zu Bettine von Arnim weniger offensichtlich. Dafür zeigt sich hier eine andere Schwierigkeit: Wenn Janssen das poetische Verfahren Bettines im Frühlingskranz vor dem Hintergrund ihrer, Bettines, eigener Ausbildung zur Textilarbeit liest, dann läßt sie die Tatsache unberücksichtigt, daß Bettine sich schon in ihrer Jugend und später als Erwachsene in steter massiver Abgrenzung gegen derartige Formen weiblicher Beschäftigung befand und die entsprechende Metaphorik im Frühlingskranz von daher von vornherein als eine zutiefst ironisch besetzte zu lesen ist.

Wie im Kapitel zu Goethe, so beschränkt sich auch hier die Applikation des Intertextualitätsbegriffs auf die Beziehung zwischen Schreiben und Textilarbeit, gerade im Frühlingskranz aber steht der Ebene, auf der Bettine letztere poetologisch inszeniert, durchweg eine Ebene immer neu eingespielter Lektüren fremder Texte — unter anderem Goethes — gegenüber, die zu einer Fruchtbarmachung gedachten Verhältnisses hätte herangezogen werden müssen.

Von daher bleiben Feststellungen wie die folgende:

Brentano-von Arnim schichtet [...] metaphorisch Textil über Textil im Text, schmückt den Text durch Muster ornamentell [sic] aus, schreibt komplexe und einfache Bilder und signiert den Text mit der eigenen Autorinnenschaft.(S. 123)

ähnlich gehaltlos wie die oben zitierte Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Wanderjahren. Hinzu kommen auch hier wieder sachliche Fehler, etwa wenn Janssen den Originalbriefwechsel mit Goethe 1810 statt korrekt 1808 beginnen läßt (S. 127) oder von Bettines nie publizierten Märchen behauptet, sie seien "in der >Zeitung für Einsiedler< abgedruckt" worden (S. 130).

Fazit

Nun ist der eine oder andere Fehler, für sich genommen, keine Katastrophe, die einen überzeugenden Deutungsansatz disqualifizieren müßte. Janssens Buch aber erweckt den Eindruck, als sei die Verfasserin so angetan von ihrer Grundthese, daß sie es insgesamt für überflüssig hält, sich im Umgang mit ihrem Material die Solidität abzuverlangen, die dieser These im Endeffekt erst ihren wissenschaftlichen Wert verleihen muß.

Dies beginnt bereits mit der Reklamation einer "feministischen Positionalität" (S. 14), die trotz ihres Rückgriffs auf die hochdifferenzierte feministische Theoriearbeit eine eigene systematische Differenzierung verfehlt. Gerade die feministische Literaturkritik ist in den vergangenen Jahren weit über die polemische Binarisierung von Geschlechterpositionen hinausgegangen, in deren Zeichen Janssen nur allzu selbstverständlich ihre fehlende argumentative Präzision durch polemische Emphase supplementiert, und die Ergebnisse, die solche Emphase hervortreibt, werden nicht glaubwürdiger dadurch, daß sie, statt den inszenatorischen Charakter textiler Metaphoriken in literarischen Texten auszustellen, den Effekt solcher Metaphoriken zur Camouflage ihrer eigenen, immer wieder nur oder meist postulativen Qualität einsetzen.

Vor diesem Hintergrund sind Sachfehler wie die oben angeführten, flankiert von die Grenzen zur Peinlichkeit deutlich überschreitenden Lapsus wie der Anführung von Pallas Athene als "Phallas Minerva" (S. 53), nicht einfach nur unangenehme Ausfälle, sondern, wie die insgesamt sowohl grammatikalisch als auch stilistisch mit erheblichen Mängeln behaftete Sprachkompetenz der Verfasserin, Zeichen einer grundsätzlichen Fahrlässigkeit im Umgang mit dem wissenschaftlichen Diskurs, die ein an sich wirklich reizvolles Projekt in seiner Ausführung mit bedauerlicher Gründlichkeit diskreditiert.


PD Dr. Ulrike Landfester
Universität Konstanz
Fachbereich Germanistik
Fach D 164
D-78457 Konstanz

Ins Netz gestellt am 18.12.2001
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