- Eva Lezzi: Zerstörte Kindheit. Literarische
Autobiographien zur Shoah. 2001 (Literatur und Leben 57) Köln, Weimar,
Wien: Böhlau. VIII / 382 S. Geb.
EUR (D) 39,90.
ISBN 3-4121-6400-3.
- Manuela Günter unter Mitarbeit von Holger Kluge (Hg.):
Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2002. 218 S. Kart. EUR (D) 25,00.
ISBN 3-8260-2219-X.
Negative Sinngarantien
"Wie schreiben?" fragt 1960 Roland Barthes und
antwortet selbst: "Dadurch daß der Schriftsteller sich ganz auf
das Wie schreiben konzentriert, endet er bei der offenen Frage par
excellence: warum die Welt? Welchen Sinn haben die Dinge? Im Grunde
erhält die Arbeit des Schriftstellers gerade dann, wenn sie zu ihrem
eigenen Zweck wird, einen vermittelnden Charakter wieder. Der Schriftsteller
faßt die Literatur als Zweck auf, die Welt gibt sie ihm als Mittel
zurück. In dieser endlosen Enttäuschung
erreicht der Schriftsteller wieder die Welt, eine seltsame Welt, da die
Literatur sie letzten Endes als Frage darstellt, niemals als Antwort".
1 Selten wurde seit Nietzsche pathetischer
die Rolle des modernen Schriftstellers als negativer Sinngarant in der
Moderne beschrieben. In der Defensive gegenüber einer in die
Undarstellbarkeit prozessierenden Neuzeit erweisen sich der Schriftsteller
und sein alter ego, der Literaturwissenschaftler als
enttäuschungsresistente Inquisitoren, die unablässig auf die
Negativität allen Sinns erkennen. "Alles Schwindel" sagen
"Wir Philologen" seit Nietzsche gegen die normalistischen
Sinnagenturen und meinen das pathetische Lob des seltenen Sinns der Wenigen.
Nirgends scheint diese kulturphilosophische Diagnose von der
Undarstellbarkeit der Moderne und der letzten und zugleich ersten Rolle der
Literatur mehr zuzutreffen als auf die Literatur über die Vernichtung
der europäischen Juden. Entzieht sich nicht angesichts des
Äußersten die moderne Welt einer auch nur ansatzweise adäquat
zu nennenden Darstellung? Vielleicht dass die Literatur ein verbliebener
Verhandlungsort dieser Undarstellbarkeit ist. Das scheint verschärft auf
die Autobiographie zuzutreffen. Sie gilt seit den Seelenerkundungen des
französischen Adels der Fronde und der pietistischen
Erlebensbeschreibungen als Gattung der Aufrichtigkeit, die um die Untiefen
des Selbstbetrugs weiß. Muss daher die Autobiographie der Schoa nicht
das Dilemma einer unmöglichen Darstellung mehr als jede andere Gattung
verhandeln?
Ausgeschriebene Zettelkästen
Zwei Bücher greifen diese These auf, dezidiert der
Sammelband, den Manuela Günter herausgegeben hat, weniger prononciert
die Berliner Dissertation von Eva Lezzi. Lezzi hat drei autobiographische
Texte ausgewählt, Jona Oberski Kinderjahre von 1978, Cordelia
Edvardson Gebranntes Kind sucht das Feuer aus dem Jahr 1984, Ruth
Klüger weiter leben. Eine Jugend von 1992 und mehrere
autobiographische Erzählungen von Georges-Arthur Goldschmidt, die
zwischen 1989 und 1992 erschienen sind. Gemeinsam ist den Texten, dass ihre
Autoren deutsch-jüdischer Herkunft sind, als Kinder (1927 und
später geboren) die Zeit von Verfolgung und drohender Vernichtung
erleben mussten und mit großem zeitlichen Abstand über ihre
traumatischen Erinnerungen geschrieben haben.
Im ersten Hauptteil gibt Lezzi einen Überblick über
die Geschichte der Autobiographie und die der deutsch-jüdischen
Minderheit. Hier ist die Forschung aus allen schier möglichen Bereichen
zusammengetragen worden, ob aus der Kinderpsychologie, der
Autobiographiegeschichte, Trauma-Forschung oder der Exilforschung, der
Geschichte des Nationalsozialismus usw. Ihre Verknüpfung untereinander
bleibt lose. Wir erfahren, dass etwa Salomon Maimon von Rousseaus
Confessions beeinflusst ist, sich aber von Moritz Anton Reiser
unterscheidet, weil "bei Maimon pietistische und quietistische
Elemente" (S. 20) fehlen. Oder wir bekommen erklärt, dass die
Rückbindung an die jüdische Herkunft unter der
nationalsozialistischen Verfolgung nicht mit der Bindung einer Glückel
von Hameln zu vergleichen sei (S. 39 u. 349), weil vielfach das
religiöse Moment fehle. Charakteristische Satzanfänge sind
"Laut Philippe Ariès...", "Laut Holdenried...", auf die dann
ein Referat der dort entwickelten Thesen folgt. Das ist
alles meistens richtig, 2 aber auch nicht
mehr. Eine Argumentation über die Kapitelgrenzen hinweg unterbleibt.
Nach 150 Seiten weiß man immer noch nicht, was die
"Gattung" (S. 7) der deutsch-jüdischen Autobiographik
über eine thematische Differenz hinaus denn sei. Dabei will die Arbeit
deren Poetik erforschen. Das setzt voraus, es handle sich um eine Gattung
oder – wie es wiederholt heißt – um ein Genre. Die vielen
Fußnoten helfen da auch nicht weiter. Noch weniger weiß der
Leser, was nun Kindheitsautobiographien als Genre anderes seien, als dass nun
mal fast alle Autobiographien in der Neuzeit auch die eigene glückliche
oder unglückliche Kindheit unter ihre Gegenstände rechnen. Lezzi
weicht dann auch gerne in mediatisierende Formeln des Sowohl-als-auch aus.
Man brauche ja die Gattungsbestimmung nicht so genau zu betreiben:
"Einzig eine Lektüre, die sich jedem Text individuell und
ausführlich widmet, vermag es, den ästhetischen Anspruch dieser
Werke zu erfassen" (S. 9). Das hätte auch Gundolf nicht besser
formulieren können. Die gesuchte "Poetik der
Kindheitsautobiographik zur Shoah" besteht eigentlich nur in einem
moralischen Wert, den Holocaust nicht zu vergessen. Das alles soll
interdisziplinär sein, ist aber eher ein ausgeschriebener Zettelkasten,
gewiss mit Fleiß zusammengetragen, aber kaum von größerem
literaturwissenschaftlichem Erkenntniswert.
Wertungsschemata
Leider ändert sich das auch nicht im zweiten Teil. Auch
die Untersuchungen ausgewählter autobiographischer Texte über die
Katastrophe der Vernichtung der europäischen Juden ist kaum eine
Textanalyse zu nennen, sondern exponiert fast ausschließlich Wertungen
der Motive und Themen dieser Bücher. Eine narrative Analyse wird nur
punktuell berührt. Man ist schon zufrieden, wenn man als Leser
erfährt, dass eine Erzählung aus der Perspektive des Kindes
vereinzelte, nebensächliche Details fokussiert. Herausgestellt werden
andere Erkenntnisse: "In diesem Sinne zeigt Oberskis autobiographischer
Roman [sic!] beides: die destruktive Wirkung der Shoah und das Wagnis, sich
dennoch wieder der menschlichen Gemeinschaft zuzuwenden" (S. 177). Um
solche Aussagen zu formulieren, braucht man keine Literaturwissenschaft.
Dabei läge doch die Chance einer literaturwissenschaftlichen Bearbeitung
des Themenfeldes darin, zu zeigen, wie Kindheitsnarrative konzipiert sind und
wie sich Extremtraumatisierungen auf die narrative Gestaltung auswirken,
soweit das überhaupt zu fassen ist. Das ist hier beabsichtigt worden,
aber nicht durchgeführt.
So ist denn auch der zweite Teil mit dem ersten nur locker
verbunden. Man fragt sich spätestens nach mehr als 200 Seiten
Lektüre, was diese Reihung von Einzelbeobachtungen soll, denen die
Argumentation immer mehr abhanden kommt. Im Fluss immergleicher Beobachtungen
sind dann alle Texte gleich, so als hätten sich die Diskurse über
den Holocaust zwischen den 70er und 90er Jahren nicht verändert. Man
schüttelt den Kopf über Sätze wie "Zwar hält die
Autorin [Ruth Klüger] als Literaturwissenschaftlerin deren [der eigenen
Gedichte] einfaches Reimschema für längst überholt, doch nimmt
sie die Gedichte trotzdem sehr ernst, interpretiert sie inhaltlich wie
stilistisch und fügt einzelne Strophen immer wieder erläuternd in
die eigene Lebensgeschichte ein" (S. 234).
Nichtssagender lässt sich kaum Klügers doch sehr prononcierte
Kritik aller negativen Topik seit Adorno paraphrasieren. 3
Lezzis Buch scheint diese Kritik gar nicht wahrzunehmen. Es folgt damit nur der auch in der
literaturwissenschaftlichen Forschung längst schon etablierten
Wertungskonvention elaborierter Sinnverknappungen als Ausweis des ganz
anderen Schreibens. 4 Gedichte von Kindern,
Reime oder Hollywood-Filme scheinen das Bilderverbot zu verletzen. Einmal mehr muss man die mangelnde Selbstreflexion auf die
eigenen Wertungsvorgaben des Faches kritisieren, 5
nicht nur hier, aber auch hier. Die Individualität der
autobiographischen Aussagen, die Lezzi doch zu Wort kommen lassen will,
– an ihnen geht ihr Buch vorbei und damit auch an den spezifisch
literaturwissenschaftlichen Möglichkeiten des Lesens solcher Texte. Am
Ende verliert das Buch schließlich ganz den Blick für seinen
Gegenstand. Bemüht wird Sklovskijs Theorie der Verfremdung. Die passe
gut auf die Poetik der Kindheitsautobiographien zur Schoa, erfahren wir, nur
eben auch – wie Lezzi selbst bemerkt – auf jeden literarischen Text. Da war
noch eine Karte im Zettelkasten übrig. Am Ende lässt das Buch
seinen Leser ratlos zurück, wofür soviel Aufwand betrieben wurde.
Die Addition von bekannten Forschungsergebnissen,
konsensfähigen Wertungen und alltagspsychologischen Einsichten macht
noch keine Wissenschaft. Schade um ein vergebenes Thema und zugleich eine
Anfrage an die Betreuung solcher Arbeiten. Die eklatanten Fehler sind ja
nicht eben untypische Kinderkrankheiten von Dissertationen. Dass hier niemand
gegengesteuert hat, spricht nicht für die Routinen unseres Faches.
Literarische Ausdifferenzierungen
Auch der Sammelband Überleben schreiben
untersucht die Poetik der Autobiographien über die Verfolgung und
Vernichtung der europäischen Juden und ist auf die Frage nach der
unmöglichen Darstellung fokussiert. Programmatisch schreitet die
Einleitung von Manuela Günter den geschichtsphilosophischen Kreis der
Zivilisationskrisis aus, der mit der Juden-Vernichtung die Moderne fortan
präge und folgert daraus, dass nur eine negative Poetik des Scheiterns
dem Zivilisationsbruch angemessen sein kann. Der Ort solcher negativen
Sinnbildungen ist die Literatur. Nur sie kann die Paradoxien von Sinnbildung
und -verweigerung inszenieren. Darin ist sie den Wissenschaften
überlegen (S. 14). Die These wird mehr oder minder explizit von allen
Beiträgen des Bandes geteilt und bestimmt schon seit längerem die
literaturwissenschaftliche Diskussion um die Holocaust-Literatur. Wenn man
die These teilt, ist festzuhalten, wie sehr die These ein Korrespondenzgebot
voraussetzt. Der Katastrophe entspreche eine Literatur des
Äußersten, ja dies sogar in einem so exklusiven Sinn, dass sich
Literatur – und dazu zählt man ganz fraglos auch die Autobiographie –
von anderen Formen der Auseinandersetzung mit der Vernichtung
grundsätzlich unterscheiden lasse. Nur sie vermag das Dilemma der
Darstellung des Undarstellbaren eine angemessene, weil negative Form zu
geben. Der Ausnahmerang der Literatur mag der Grund sein, warum etwa
historiographische Arbeiten zum Holocaust in diesem Band so gut wie keine
Rolle spielen.
Der folgende Aufsatz von Manuela Günter beschreibt mit
literaturtheoretischem Anspruch die Paradoxien, die aus der Unvermeidlichkeit
und dem gleichzeitigen Scheitern des autobiographischen Schreibens über
die Schoa resultieren. Autobiographien dienen nicht der Selbstversicherung
des schreibenden Ichs, sondern verstören seine Voraussetzungen (S. 26f).
Diese These bestimmt praktisch alle Beiträge. Ob das stimmt und eine
hinreichende Markierung ist, um die Überlebenden-Autobiographien von
anderen Formen zu unterscheiden, wird man bezweifeln müssen. Goethes
autobiographische Schriften sind ja nicht die Regel. Die quälerischen
Selbstbeschreibungen seit Rousseau sprechen eher dagegen. Sie tun dies umso
mehr, als auch sie sich mit der Darstellung von Kindheit prominent befassen.
Dass also erst die Autobiographien der Überlebenden "jeder Form der
mit Kindheit traditionell verbundenen Sinnstiftung eine radikale Absage
erteilen" (S. 30), ist eine literaturhistorisch ungedeckte These. Leider
fehlen aber literatur- und gattungsgeschichtliche Bestimmungen in dem
Sammelband fast vollständig. Die Literatur des Äußersten
scheint so sehr Ausnahme zu sein, dass alle historischen Vergleichsparadigmen
zu versagen scheinen. Wenn das so ist, so hätte man doch gerne eine
Begründung dafür gelesen, die über moralische Probleme des
Schreibens von Überlebenden hinausgehen.
Nur der Beitrag von Günter Butzer gibt den untersuchten
Texten ansatzweise einen zeitlichen Index bei. Er konstatiert die zunehmende
Literarisierung des autobiographischen Schreibens über den Holocaust und
zeigt dies textnah anhand der in den Autobiographien zitierten literarischen
Topoi, auch wenn er am Ende noch einmal versucht, die falsche Erinnerung
Doessekers / Wilkomirskis von den wahren Klügers oder Kertész' zu
trennen. Auch hier schlägt das Problem der angemessenen Darstellung
durch, das Unterscheidungen des negativ Authentischen ermöglichen soll.
Die meisten der Beiträge des Bandes aber behandeln die Texte, als
wären ihre Entstehungszeit und ihr Erscheinungsort ohne Relevanz
für die Poetik der Gattung. Kein Beitrag thematisiert, dass etwa Kertész
Roman eines Schicksallosen nicht einfach ins Deutsche übersetzt
wurde, sondern erst in dieser Sprache und erst ab einem bestimmten Zeitpunkt
sich durchsetzen konnte. Das könnte mit der Art und Weise, wie das Buch
geschrieben ist, etwas zu tun haben, aber auch mit seinen Lesern und deren
historisch-kulturellen Wandlungen. Um das mit in den Blick zu nehmen,
müsste man von der Annahme abrücken, das Thema solcher Bücher
und das Schicksal ihrer Autoren wären allein schon Grund, warum den
Texten ein Ausnahmerang zugesprochen werden kann.
Erich Kleinschmidt analysiert die Passungsprobleme der
Autorschaft, die sich für die Autobiographien über den Holocaust
ergeben, wenn tradierte Institutionen auktorialer Selbstvergewisserungen
nicht mehr funktionieren. Zu Recht hebt sein Beitrag den nur zu oft
laienhaften und unästhetischen Charakter der autobiographischen Texte
zur Schoa hervor, argumentiert dann aber über den Ausnahmefall, wonach
alles Schreiben der Überlebenden eines der "Grenze" sei. Ja,
autobiographisches Schreiben der Opfer sei von einer "nicht gewollten
Nähe zur Täterschaft" bestimmt (S. 79), eine aporetische
"Unheilsschrift" ortloser Autorschaft. Wie sich der
ästhetische Traditionalismus der Autobiographien mit einem so ganz
untraditionellen Autormodell zusammen reimt, würde man gerne genauer
wissen. Denn das setzt irgendwie voraus, das Thema des Schreibens wirke so
verstörend auf den Autor zurück, dass dieser kein
herkömmlicher Autor mehr ist, vergleichbar nur mit literarischen
Autorschaftsmodellen eines Kafka oder Baudelaire. Zugleich aber bedienen sich
doch diese Autoren durchaus alltagssprachlicher Satzmuster und Bildfindungen,
denen man nicht generell einen Ausnahmerang zuschreiben kann.
Thomas Meyer unternimmt den geschichtsphilosophischen
Versuch, einen Wertungsmaßstab für die angemessene Darstellung des
Äußersten zu finden. Sigrid Lange analysiert die Differenzen, die
sich ergeben, wenn nicht mehr die Literatur, sondern der Film das Thema
Holocaust aufgreift. Der Film muss visuelle Konkretionen bieten. Benignis
Lösung in La vita e bella, durch pikareske Spielreihungen den
falschen Schein visueller Evidenzen zu vermeiden, ist eine spezifische
Lösung des Repräsentationsproblems im Medium Film. Auch wenn man
das in dieser Zuspitzung nicht zuletzt in literaturhistorischer Perspektive
bestreiten kann, die Problemidentifizierung ist allemal aufschlussreich.
Annette Keck untersucht das Erzählen der Leere des
Wartens, Carmel Finnan fragt nach den spezifischen Formen weiblicher
Autobiographie über die Schoa und macht sie vor allem in der Thematik
der Mutter-Tochter-Beziehung aus. Bettina Bannaschs Untersuchung zum Fall
Doesseker / Wilkomirski wirft als einziger Beitrag des Bandes die Frage nach
der Rolle der Leser auf. Nur zu offensichtlich beliefere Wilkomirski das
bereits etablierte Wissen, wie über den Holocaust zu reden sei, so dass
eine perfekte Simulation der Überlebenden-Autobiographie gelungen ist.
Bannasch wendet ihr Ergebnis aber charakteristischerweise nur kritisch gegen
die vielen Leser, die vom negativen Sinn jenseits identifikatorischer
Lektüren nichts wissen wollen. Abschließend beklagt Carl Freytag
die zunehmende Reflexionslosigkeit der konsumierten visual history des
Holocaust.
Theorie-Effekte
Alle Beiträge setzen indirekt einen normativen Begriff
des authentischen Schreibens über den Holocaust voraus. Es gibt das
richtige Schreiben, das negativ ist. Also Lanzmann ja, aber nicht Spielberg
(z.B. S. 213). Falsch ist eine auf Identifikation abzielende Literatur (z.B.
S. 131), richtig eine der sich selbst durchstreichenden Reflexion. Das alles
folgt so auffällig den Paradigmen postmoderner Theoriebildungen, dass
man sich fragt, warum niemandem auffällt, dass mit fast den gleichen
Vokabeln die Literatur von Frauen oder Hypertexte als ganz andere Texte
beschrieben werden.
Das nährt den generellen Verdacht, dass hier eine Reihe
von Problemen auf kritisierbaren Vorannahmen beruht, wenn nicht Effekte der
Theorie sind. Zunächst läuft die Argumentation viel zu sehr
über den Ausnahmefall. Nun sind Borderline-Cases 6 aber argumentationstechnisch nicht
unproblematisch. Zudem wird hier der Regelfall des autobiographischen
Schreibens nur knapp mit der Subjektvergewisserung gleichsetzt,
gegenüber dem die Überlebenden-Autobiographie als Grenzfall
erscheinen muss. Tatsächlich aber werden weder Edwardson noch
Klüger oder andere von den Lesern außerhalb der
Literaturwissenschaft mit auch nur annähernd der Dramatik der Grenze
belegt, wie es die professionellen Leser des Fachs Literaturwissenschaft tun.
Warum ist das so? Folgt man dem Sammelband, dann ist dies ein Fehler der
unprofessionellen Leser und ihrem Verlangen nach reflexionsloser
Identifikation. Dann wäre die Autobiographie der Schoa die Literatur
für die "wenigen Edlen" der Literaturwissenschaft, um hier mit
Klopstock zu reden. Aber eine solche negative Theologie kann nicht im Ernst
die Absicht literaturwissenschaftlicher Arbeit sein.
Man sieht weiter, wenn man eine zweite Vorannahme der
Beiträge befragt, die des Darstellungsparadoxes. Es scheint ja auf den
ersten Blick einleuchtend zu sein, dass der Inkommensurabilität des
Holocaust eine Inkommunikabilität der Texte entsprechen müsse. Das
ist freilich keine besonders kühne ästhetische Erwartung an die
Form-Inhalt-Entsprechung und mag die Suggestivität der These
erklären. Mit gutem Grund machen daher Beiträge, vor allem die von
Günter Butzer und Erich Kleinschmidt, auf die konventionalisierten
Authentifizierungsstrategien aufmerksam. Aber die Beiträge halten dann
an dem ganz anderen der Überlebenden-Texte fest, wollen dann doch einen
Wilkomirski, die Serie Holocaust nicht mit den angemessenen
Darstellungen Edwardsons, Kertész' oder Klügers zusammen sehen und
stellen entsprechend eine Rhetorik des ganz anderen Schreibens heraus. Wenn
aber die Textbefunde die These nicht stützen, worauf kann sich die These
von der schwierigen, gattungskonstitutierenden Darstellungsproblematik des
autobiographischen Schreibens über die Schoa stützen?
Die Beiträge setzen eine Art negative Abbildtheorie
voraus. Sie argumentieren mehr oder minder stark repräsentationistisch,
wonach gilt, dass was nicht darstellbar ist, nicht in einem positiven Sinne
dargestellt werden kann und daher nur die negativen Darstellungsverfahren der
Literatur und ihrer Autorschaft der Grenze angemessen sind. Psychologisch ist
das nachvollziehbar. Das Niederschreiben extrem traumatisierter Erfahrungen
ist für den Schreibenden verstörend, auch noch nach vielen Jahren
und muss sich in einem alltagspsychologischen Verständnis auf seine
Texte niederschlagen. Gerade das ist aber nicht ungewöhnlich. Ja mehr,
es ist jedem Leser sofort verständlich. In diesem Sinn werden
Überlebenden-Autobiographien identifikatorisch gelesen, und zwar von
allen, auch von den Wenigen der Literaturwissenschaft. Sie haben eine enorme
Leserschaft, weil das Lesen auch fiktionaler Texte an Authentizität
interessiert bleibt. Das ist schon seit den Tagen des Werthers so. Wir
haben eine Ahnung davon, was selbst nur angedeutete Erlebnisse sein
müssen, gleich ob sie erfunden sind oder tatsächlich erlebt wurden,
gleich ob sie auch nur ansatzweise von den Lesern erfahren wurden.
Der Fall Wilkomirski hat gezeigt, dass selbst
Überlebende des Holocaust sich in einer fingierten Autobiographie wieder
finden können, ja sich verstanden glauben, auch wenn man ja
offensichtlich >verstehen< nicht sagen darf, sondern nur >Lesen<
oder >Lektüre< schreibt. Aber die psychologische Evidenz sagt nur
ungenau etwas über das Darstellungsproblem aus, schon weil so viele
Autobiographien über die Schoa gerade nicht so ganz anders sind, wie es
die Theorie erwarten lässt.
Gegen die Abbildtheorie
Um es direkt zu sagen: Es gibt dieses Darstellungsproblem
nicht so, wie es die literaturwissenschaftliche Diskussion um die
Holocaust-Literatur aufgeworfen hat und daher auch nicht das
Autorschaftsproblem, das damit verknüpft ist.
Literatur bildet sowenig wie Sprache Wirklichkeit ab. 7 Sie repräsentiert sie nicht. Auch über den
Holocaust kann es ganz unterschiedliche Formen der Rede geben, die alle auf
ihre Weise wahr sein können, obgleich sie alle Bezug auf etwas nehmen,
das wir durchaus konventionell als >unsagbar< bezeichnen.
Indem wir den Holocaust so bezeichnen, geben wir eine Regel
an, unter der bestimmte Sätze über den Holocaust wahr sind. Das
können gereimte Kindergedichte sein oder hochreflexive
>Selbstverschreibungen<, aber ebenso historiographische Texte oder
Leserbriefe. Ob sie wahr sind, hängt nicht an dem Thema der Rede, dem
Zivilisationsbruch, auf den Bezug genommen wird, sondern an dem Gebrauch, den
wir mit der Sprache machen, um über das Äußerste zu reden und
zu schreiben. Ohne Untersuchung der literarischen Kommunikation kann
über diesen Gebrauch aber kaum etwas gesagt werden. Es stimmt zwar, dass
Literatur, seitdem sie auf Originalität verpflichtet ist, tendenziell
Grenzen des Sagbaren formuliert. Aber das tut sie unabhängig von ihren
Themen und ganz allgemein. Nur eine Kulturphilosophie wird das als Symptom
der modernen Krisis hochrechnen und in der Vernichtung die zu sich selbst
kommende Moderne behaupten (wie es einige Formulierungen des Bandes
gelegentlich nahe legen).
Wie jede Sprache ist auch die der Literatur generisch und
eben keine Privatsprache. Literatur kann das problematisieren und tut dies
vielfach, seitdem sie modern geworden ist. Insofern kann Holocaust-Literatur
poetologische Selbstreflexionen des Schreibens aufnehmen und tut dies
gelegentlich. Die meisten Autobiographien Überlebender tun das nicht.
Aber wie immer sie es tun, die Selbstbezüglichkeit und der Grad der
Thematisierung des eigenen Schreibens kann nicht der Maßstab für
das richtige Schreiben über den Holocaust sein. Die Abbildtheorie
führt hier in die Irre. Der Zweck des Schreibens über den Holocaust
ist so selten wie der fast aller unserer Äußerungen der des
bloßen Bezeichnens. Wir wollen normalerweise mehr sagen, zumal mit
Autobiographien der Schoa. Was das ist (etwa, dass es sehr schwer ist,
über Erfahrungen des Schreckens zu schreiben, was aber nicht
>undarstellbar< ist, sondern sofort einleuchtet), hängt von der
(literarischen) Kommunikation ab, in der es gesagt und gehört wird.
Emotive Identifikationen spielen dabei eine herausragende Rolle und sind aus
der Bestimmung der Besonderheit der Schoa-Autobiographien nicht
auszuklammern.
Nur zu offensichtlich bilden die Autobiographien des
Holocaust keine eigene Textgruppe über ihr Thema hinaus, wenn man sie
als bloße Texte betrachtet. Als solche haben sie keine eigenen
Schreibweisen, keine eigenen Narrative und keine eigenen Poetologien. Es gibt
keine Textmerkmale, die es ermöglichen würden, eine Autobiographie,
wie jene von Wilkomirski von anderen, >authentischen<
Holocaust-Autobiographien zu unterscheiden. Die Besonderheiten sind ohne
Blick für die literarische Kommunikation nicht zu bestimmen. Der Verweis
auf Extremtraumatisierungen des Autors genügt dafür nicht. Dass
Literaturwissenschaftler dazu neigen, hochkulturelle Schreibverfahren der
poetologischen Selbstreflexion zu favorisieren, sagt mehr etwas über die
déformation professionnelle aus als über die Spezifik der Texte. Hier
soll die Theorie leisten, was die Texte nicht tun.
Vielleicht dass die Literaturwissenschaft ihre Vorliebe für den
Ausnahmefall einmal aufgibt und Theorien und ihre Effekte verabschiedet, die
zuwenig über Literatur sagen. 8
Prof. Dr. Gerhard Lauer
Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Käte-Hamburger-Weg 3
D-37073 Göttingen
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Ins Netz gestellt am 03.04.2003
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Anmerkungen
1 Roland Barthes: Schriftsteller und
Schreiber [1960]. In: Roland Barthes: Literatur oder Geschichte. Frankfurt /
M.: Suhrkamp 1969, S. 44–53, S. 46. zurück
2 Meistens, nicht immer, etwa wenn sie sich
auf S. 27 darüber wundert, dass Fanny Lewald die Mazzebrote – sie sagt
entgegen der deutsch-jüdischen Tradition hebräisch
"Mazzot" –, "Osterfladen" nennt. Das ist der gängige
westjiddische Ausdruck dafür. Auch unterschätzt sie auf derselben
Seite die Bedeutung der religiösen Konversion Fanny Lewalds. Ein Blick
in die Forschung zur Romantik der Konversion hätte gezeigt, welche
romantische und gar nicht ironische Sprache Lewald hier spricht. Die Hinweise
mögen genügen. zurück
3 Irmela von der Lühe: Das
Gefängnis der Erinnerung. Erzählstrategien gegen den Konsum des
Schreckens in Ruth Klügers weiter leben. In: Manuel
Köppen und Klaus Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film –
Bildende Kunst. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997, S. 29–45.
zurück
4 Daher dann die Kritik an Klüger etwa
bei Sigrid Weigel: Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust.
Symbolisierungen, Zeugenschaft und kollektive Identität. In: Sprache im
technischen Zeitalter 33, 135 (1995), S. 260–268. zurück
5 Eine Ausnahme ist Renate Heydebrand /
Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik –
Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996.
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6 Vgl. zum Problem der Grenzfälle und
ihrer Generalisierbarkeit John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the
Philosophy of Language. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1969,
insbes. S. 8–12. zurück
7 Vgl. Rudi Keller: Zeichentheorie. Zu einer
Theorie semiotischen Wissens. Tübingen u.a.: Francke 1995.
zurück
8 Ich danke Jürgen Müller,
Göttingen, für seine kritische Diskussion dieser Rezension.
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