Linder über Juhnke: Serienmörder

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Joachim Linder

Zwischen Alltagsarbeit und Kunstproduktion:
Serienmorde in Spielfilmen zwischen
1920 und 1998

  • Karl Juhnke: Das Erzählmotiv des Serienmörders im Spielfilm. Eine filmwissenschaftliche Untersuchung. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Georg Kiefer. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001. (Zugl.: Diss., Braunschweig: Hochschule für Bildende Künste 2000) 295 S. 45 Abb. 13 Diagr. 37 Tab. Kart. € 44,50.
    ISBN 3-8244-4454-2.


In neueren Serienmörderfilmen werden zwar auch Vorstellungen über Kriminalität, Kriminelle und Strafverfolgung vermittelt, aber immer öfter repräsentieren die Täterfiguren Reflexionsstufen im Hinblick auf die mediale Verarbeitung von Serienmord. Im Lichte einer >Ästhetik des Schreckens< erscheinen beispielsweise "Francis Dolarhyde", der Mörder in Michael Manns Harris-Verfilmung "Manhunter" (1986), oder "John Doe" in David Finchers "Se7en" (1995) als Kunsturheber, die ihre Leichen und Tatorte bewusst so inszenieren, dass sich ihre Botschaften nur den Ermittlern erschließen, die über spezielle hermeneutische Fähigkeiten verfügen. Dagegen wirken die Protagonisten von "Henry: A Portrait of a Serial Killer", von "C'est arrivé près de chez vous / Mann beißt Hund" oder von "Assassin(s)" 1 wie die >Proleten< des Serial Killing, denen das Morden als Alltagsarbeit Befriedigung und Selbstwertgefühl verschafft, ohne dass Ermittlerfiguren als Rezipienten hinzutreten müssen.

Vielleicht zeigt die Zahl der in letzter Zeit erschienenen literatur-, film- und diskursgeschichtlichen Arbeiten zur Darstellung von Serienmord in den populären Medien an, 2 dass ein Höhepunkt der medialen Verwertung von Mehrfachmord erreicht oder gar schon überschritten ist, auch wenn große Filmproduktionen noch immer mit erheblichem Aufwand eingeführt werden. 3 Der Zeitpunkt für eine Zusammenschau der einschlägigen Filmproduktionen scheint jedenfalls günstig zu sein: Karl Juhnkes Studie erfasst insgesamt 697 Filme, in denen das >Serienmördermotiv< verwendet wird. Der Autor konnte davon 573 Filme, die zwischen 1920 und 1997 / 98 in Deutschland produziert oder in deutscher Synchronisation aufgeführt wurden, auswerten (vgl. S.19 f.).

Motivkomplex Serienmord

Die historische und thematische Spannweite des Korpus wird an den fünf Beispielen sichtbar, die Juhnke wegen ihrer "filmästhetischen Qualität" bzw. wegen ihrer "filmhistorischen Bedeutung" zur Einführung in sein Thema vorstellt (S.31–37): Fritz Langs "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) gilt als Inszenierung individueller und kollektiver >Erkrankung<, mit Robert Siodmaks "The Spiral Staircase / Die Wendeltreppe" (recte: 1946) wird ein herausragender Film Noir angeführt, der die Opferrolle fokussiert; Alfred Hitchcocks "Psycho" (1960) ist ein >Psychothriller<, der die krankhafte Mutterbindung betont und damit spätere Serienmörderdeutungen vorwegnimmt; mit John Carpenters "Halloween" (1978) wird die Bedeutung der Mehrfachtötung im >Horrorgenre< exemplifiziert. Während Fritz Lang mit "Kommissar Lohmann" einen frühen >Seriendetektiv< vorstellte, legten Hitchcock und Carpenter ihre Filme so an, dass sie jeweils Film->Serien< auslösen konnten, was auch auf den einzigen Film der Beispielreihe zutrifft, der schon als >Serienmörderfilm< produziert wurde, nämlich Jonathan Demmes Harris-Verfilmung "The Silence of the Lambs / Das Schweigen der Lämmer" (1990).

In allen fünf Filmen tritt eine "Täterfigur" auf, die "mehrfach Menschen tötet, ohne dabei primär eines der klassischen Tatmotive wie Bereicherungswunsch, Vertuschung, Rache oder Affekt [...] aufzuweisen" (S.17 f.). Dies ist der Kern der literaturwissenschaftlich informierten Motivdefinition (S.7–19), die dem Korpus zugrunde gelegt wird. Sie stellt darüber hinaus den Täter in eine triadische Beziehung mit Ermittlerfiguren und Opfern und sie umfasst auch Deutungsvorstellungen (Gewalt, Macht und bzw. oder Sexualität als motivierende Hintergründe für Tötungen). 4

Die >dramaturgischen Funktionen< des Serienmördermotivs sind vielgestaltig; sie reichen von >Täterstudien< (also verfilmten Fallgeschichten) über die Darstellung von erfolgreicher Polizeiarbeit bis zur sich selbst genügenden Inszenierung von Gewalt (S.103–112). Mit der Motivdefinition sollen die filmischen Darstellungen mit der außerfilmischen >Realität des Serienmordes< verbunden werden: "Motive sind meist historisch besetzt, d. h. sie verweisen auf gesellschaftliche, kulturelle und intertextuelle Bezüge und Traditionen" (S.11). "Intertextualität" wird so als weiteres "Strukturmerkmal des im Serienmördermotiv ästhetisierten Schreckens" hervorgehoben:

Die inzwischen über 700 Filme, ungezählten Kriminalromane [...], true-crime-Stories, Fernseh- und Zeitungsberichte über reale Fälle und die zu Mythen gewordenen Figuren wie Jack the Ripper oder Fritz Haarmann binden jede weitere Verwendung des Motivs nolens volens in diese Tradition und das gesellschaftliche Wissen darüber ein. (S.215)

Zur Karriere eines diskursiven Konstruktes:
Der psychopathische Serienmörder

Das Verhältnis der >Mythen< zur >Wirklichkeit der Kriminalität<, die ihrerseits als mediales Konstrukt zu fassen ist, bleibt problematisch. Dies deutet sich an, wo Juhnke Serienmord als "Terminus der realen Kriminologie" bezeichnet (S.5) und trotzdem die traditionelle Unterscheidung zwischen einer in der Realität vorgefundenen Kriminalität und ihrer medialen Verarbeitung bzw. Abbildung aufnimmt: 5

Serienmorde sind ein zeitgenössisches Phänomen der sozialen Wirklichkeit, kein ursprünglich filmisches, mythisches oder literarisches Motiv wie Monster, Aliens oder Engel. Wie fast alle anderen Verbrechen, die im Kriminalfilm behandelt werden, verweisen sie auf soziale Problemstellungen [...], auf die jeweils herrschenden Vorstellungen über Ursachen von Kriminalität, auf Verfahren der Strafe, auf Formen der Herstellung der öffentlichen Ordnung und grundlegend auf Fragen der Normalität, des Ausnahmezustandes und der Grenzen in einem sozialen Gefüge. (S.179)

Die Konzeption eines >Quasi-Mythos< Serienmord, der stets auf sein Korrelat in der Wirklichkeit verweisen soll, ist einem substantialistischen Verbrechensbegriff geschuldet, der die Existenz des verbrecherischen >Anderen< allzu unreflektiert voraussetzt. Die Kriminalität ist uns stets nur als so bezeichnete und als Ergebnis eines Signifikationsprozesses zugänglich; 6 auch die Tötung eines anderen Menschen wird zum abscheulichen Verbrechen erst im Auge des Betrachters, der zwischen legalen und illegalen Tötungen zu unterscheiden weiß. Insofern verweist Juhnkes >Quasi-Mythos< nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf das allemal schon mediale Konstrukt Serienmord. Die Geschichte des Serienmordes ist die seiner >interdiskursiven< Herstellung, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte und von vornherein auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Interessenten und Akteure (Polizei, Justiz, Politik, Massenmedien, True-Crime-Produzenten, Literaten) derart aufbaute, dass auch die Unterscheidung zwischen den Konstrukten der Massenmedien und denen der Strafverfolgungsinstanzen obsolet wurde. 7

Erst mit dem Aufkommen des Begriffes konnte Serienmord auch als >Karriere-Option< in Erscheinung treten, 8 für die dann >Jack the Ripper< (1888) als historisches Vorbild reklamiert wurde, der bis dahin als Prototyp des Lustmörders galt.

Die retrospektive Anwendung des Begriffs des Serial Killing zur Bildung von Fall-, Text- und Filmkorpora verstellt sich den Blick auf die Unterschiede der Definitionen von Lust- und Serienmord. Der Lustmörder ist vom >Trieb< oder von der Krankheit bestimmt, die er womöglich als >innere Fremdbestimmung< versteht und bekämpfen möchte. So wird er beispielsweise im Monolog des Kindermörders am Ende von Langs "M" vorgestellt, aber auch noch in der Darstellung der >gespaltenen Persönlichkeit< in Richard Fleischers "The Boston Strangler / Der Frauenmörder von Boston" (1968). Lustmord repräsentiert im übrigen auch die Konkurrenz zwischen den Definitionsinstanzen Medizin und Strafverfolgung, die im Serienmord zugunsten letzterer entschieden wird.

Der Serienmord wird – vor allem in populären Publikationen von Polizisten und Psychiatern – im Rahmen einer Abbildungsrationalität konzipiert, die an die Stelle von Krankheit, aber auch der Mittel-Zweck-Rationalität >normaler< Motivbildungen tritt. Wo der Gangster sich etwa bereichern will, wenn er tötet, befriedigt der Serienmörder mit der Tötung selbstreflexiv die Lust am Töten (der Sexualtrieb ist hier nur ein – wenn auch bedeutender – Sonderfall, vgl. S.6). Er inszeniert jeden neuen Mord als Abbild eines früheren und drückt sich selbst in seinen Taten als >Autor< / >Urheber< aus. 9 "Enger als mit dem Gangster ist der Serienmörder mit der Figur des Psychopathen verwandt" (S.59). Dies sieht Juhnke richtig; der Psychopath ist nicht krank, seine Abweichung bleibt zurechenbar. Während beim Gangster das Mittel inkriminiert wird, mit dem er ein zulässiges Ziel erreichen will, sind es beim Psychopathen Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung, die das zugelassene Maß überschreiten und im Serienmord die letzte Stufe erreichen. 10

Der Serienmörder wird also wahrgenommen, wo den zeitlich aufeinander folgenden Taten, die ansonsten unverbunden erscheinen, Abbildungsqualität zugeschrieben wird; Serial Killing entsteht als >Phänomen<, wo jeder neue Täter als Replikat eines früheren verstanden wird (vgl. dazu Jon Amiels "Copycat / Copykill", 1995): Die >Geschichte der Mehrfachtötungen< wird zu einer Abfolge von Serienmördern, an deren Anfang eben >Jack the Ripper< gesetzt wird. Definitionswandel und Blickwechsel der Ermittler bedingen sich gegenseitig, denn nun werden am Tatort die Zeichen gesucht, die den Täter als >Autor< repräsentieren sollen. Damit wird einem neuen Spezialisten – dem Profiler – das Tätigkeitsfeld eröffnet: Er versteht die Tatorte zu >lesen< und goutiert die Werke des Mörders und produziert seinerseits Texte, die den abwesenden Täter repräsentieren sollen.

Produktionsgeschichtliche Aspekte

In den Einleitungskapiteln der Studie wird die Korpusbildung begründet, die beiden folgenden Kapitel werten das gesamte Sample aus, und zwar zunächst im Hinblick auf die Produktionszahlen für den Zeitraum zwischen 1920 und 1998 (S.31–52). Mehrfachtötungen, deren Motiv im Töten selbst liegt oder zu liegen scheint, werden zwar in allen Genres dargestellt, sie sind aber im wesentlichen Sujets des >Kriminalfilms< und machen dessen tendenzielle Ablösung durch den >Thriller< mit. Die Verteilung der Produktionszahlen auf den gesamten erfassten Zeitraum ist aufschlussreich (S.47–50): Für die Zeit zwischen 1920 und 1949 werden insgesamt 14 Filme gezählt, deren Erstaufführungen ziemlich gleichmäßig über die 30 Jahre verteilt sind; in den Zeitabschnitten zwischen 1950 und 1964 sowie 1965 und 1980 steigen die absoluten Zahlen zwar an, sie sind aber im Verhältnis zur Ausweitung der Filmproduktion insgesamt zu sehen; erst nach 1980 erscheint die Zunahme der Serienmord-Titel überproportional, was auch auf das zunehmende Interesse der TV-Produzenten und -Sender am Serienmördermotiv zurückgeführt wird.

Zwei Beobachtungen markieren den entscheidenden Einschnitt in der Produktionsgeschichte:

  • "Bis zur Mitte der siebziger Jahre wurde die Mehrzahl der Serienmörderfilme in Europa gedreht. [...] Deutsche Produktionen spielen in den 20er Jahren eine große Rolle". (S.44)

  • "Bis zum Ende der 70er Jahre wurden die Täter gleichrangig als Hauptfiguren präsentiert, ihre Bedeutung sinkt offensichtlich mit der Flut an Produktionen in den 80er Jahren, als der Ermittler zur dominanten Größe wurde und bis heute blieb". (S.55)

Die Verschiebung des Produktionsschwerpunkts in die USA verbindet sich mit der Durchsetzung der Dominanz der Ermittlerfiguren in den Action-betonten Thriller-Dramen. Der zeitliche Zusammenhang mit der >Serienkiller-Panik< der 1980er Jahre in den USA drängt sich auf 11 und belegt einmal mehr, dass Serienmord ein Konstrukt der Wechselwirkungen zwischen Politik, Polizei, Wissenschaft und populären Medien ist.

Die Leitperspektive der Untersuchung bewährt sich: Anstatt etwa auf die dargestellten Täter- oder Konflikttypen konzentriert sich Juhnke auf die Ausgestaltung der triadischen Beziehungen zwischen Tätern, Opfern und Ermittlern (S.53–81) und kann so die Betonung von Polizeiaktionen und -figuren erfassen. Auch wenn die Darstellung der Polizeiarbeit nie >realistisch< in einem landläufigen Sinn sein kann, sondern stets dramaturgischen Anforderungen folgt (S.228), so verweisen doch zahlreiche Filme – nicht zuletzt aus dem Bereich der TV-Produktionen – auf Polizeiwissen, so wie umgekehrt Sachliteratur und Dokumentationen immer wieder Beziehungen zu fiktionalen Konzeptionen von Serienmord herstellen. Insbesondere das FBI hat versucht, den Austausch von Wissen durch Schulung von Autoren und Produzenten zu organisieren und zu intensivieren.

Das symbiotische Zusammenwirken, mit dem Politik, Polizei und Massenmedien zu Profiteuren der Angst vor dem Serienmord werden, ist inzwischen selbst zum Thema filmischer (und literarischer) Ironisierung geworden. Immer häufiger werden Fahndungsteams des FBI als so präpotente wie inkompetente Männerbünde dargestellt, deren zweifelhafte Erfolge mit blutigen Metzeleien erkauft sind, wobei der Täter sich nicht selten in den eigenen Reihen verbirgt. Ridley Scotts Harris-Verfilmung "Hannibal" (2001, außerhalb des erfassten Samples) markiert einen makabren Höhepunkt dieser Entwicklung, wenn einer der Protagonisten, der an der Grenze zwischen Politik und Polizei agiert, gezwungen wird, das eigene Gehirn zu essen und damit den ganzen >Serienmörderkomplex<, von dem er profitieren wollte, inkorporierend zu vernichten. Das Abfeiern von Polizeikompetenz wird mehr und mehr den TV-Produktionen überlassen, die Konkurrenz erzeugt Wandel und führt zur Schemareflexion.

Exemplarische Analysen

Drei Filme werden im 5. Kapitel auf der Basis von knappen Sequenzprotokollen einer eingehenden Analyse unterzogen:

"No Way to Treat a Lady / Bizarre Morde" von Jack Smight (1966 / 67), "Cop / Der Cop" von James B. Harris (recte: 1987) sowie "Se7en / Sieben" von David Fincher (1995), also ausschließlich US-amerikanische Produktionen. Über die Auswahlkriterien ist zu erfahren, dass je ein Film aus der Zeit vor dem >Boom<, aus der >Aufschwungzeit< und aus der >Hochphase< des Serienmördermotivs präsentiert werden sollte; die Filme sollten entweder dem Kriminalfilm- oder dem Thriller-Genre angehören und die >Triade< zwischen Täter, Opfer und Ermittler zwar vollständig besetzen, aber doch den Schwerpunkt auf die Ermittlung bzw. die Identifikationsfigur Ermittler legen. (S.111 f.)

Die Filmhandlungen folgen jeweils den Ermittlungen des oder der ausschließlich männlichen Polizeiprotagonisten, deren gesamte Existenz durch die Auseinandersetzung mit dem Serienmörder tangiert ist und sich am Ende wandelt. Die Fahndung ist mehr als bloße Berufsausübung – und in allen drei Filmen wird der Mörder vom Polizisten getötet. Die Quasi-Hinrichtungen werden als geläufiges Motiv bezeichnet, in dem sich "Unzufriedenheit" mit der Justiz, also der retributive Zug der US-amerikanischen Gesellschaft ausdrücke (S.145). Doch auch hier macht sich der Wandel der Polizeidarstellung bemerkbar: In Finchers "Se7en" ist die Tötung des Mörders als problematische und problematisierte Handlung eines Polizisten dargestellt, der sich zum Werkzeug des Täters machen lässt und dessen >Script< zu Ende bringt – Strafverfolgung und Vergeltung werden identisch als schuldhaftes Handeln.

Bei aller Detailgenauigkeit geht Juhnke kaum auf die >intertextuellen< Bezüge ein, die sich der Lektüre seiner Analysen erschließen. So bleibt fast gänzlich ausgeblendet, dass alle drei Filme Mord als Kunstproduktion in Szene setzen. Kunst repräsentiert wie Verbrechen ein >Inneres<, das sich in Handlung entäußert. In "No Way to Treat a Lady" inszeniert ein Theaterdirektor in schauspielerischen Auftritten jede neue Tat als Muttermord; in "Cop" fällt das Arrangement des Tatortes und der Leiche auf, in "Se7en" schließlich wird an jedem Tatort eine der Sieben Todsünden repräsentiert und die Mordserie insgesamt zum Urteil, das stellvertretend an den Repräsentanten einer verkommenen Welt vollzogen wird, während der erfolgreiche Polizist in die Bibliothek muss, wo ihn Lektüre die >intertextuelle Qualität<, die dem Fall innewohnt, erst wahrnehmen lässt. Das Dreierkorpus liefert die Ansätze, mit denen die Entwicklung des Serienmörder-Motivs zur Selbstreflexion und zur Reflexion des diskursiven Konstrukts >Serienmord< untersucht werden könnte, wobei Einzelbeobachtungen exemplarische Qualität erhalten.

Fincher etwa nennt seinen Serienmörder "John Doe" und verweist damit auf das Naming, das in den Serienmörderkonstrukten der Polizei und der Massenmedien eine gleichermaßen gewichtige Rolle spielt. Der noch unbekannte Mörder, nach dem gefahndet wird und von dem noch weitere Taten erwartet werden, erhält eine Bezeichnung, die ihn individuell charakterisiert – und gleichzeitig eindeutig der Gruppe der Serienkiller zuordnet, ihn zudem noch in den (jeweils) populären Diskursen verankert: "Der Vampir von Düsseldorf" ist ein frühes Beispiel, "The Hillside Strangler", "The Coed Killer", "The Green River Killer" usw. In der Sprache juristischer Schriftsätze und Texte steht "John Doe" aber für einen fiktiven Akteur (Kläger, Beklagter); in der Alltagssprache ist er der Jedermann, Hänschen Müller. "John Doe" ist daher nicht als Übernahme der >Nick-names< der Massenmedien (S.199), sondern als Persiflage zu verstehen, die sichtbar macht, wie in Finchers Film die gängigen Oppositionen unsicher werden; der Polizist fällt aus der Rolle des >Guten< und übernimmt seine Rolle im Plan des >Bösen<; die Taten, die den >Ausnahmefall< ausmachen (vgl. S.221) werden dem Jedermann, dem Alltagsamerikaner zugeschrieben. So bricht in Finchers Film die Serie der Ordnungs- und Orientierungsdarstellungen ab; wer eine Abbildung der >Wirklichkeit< sucht, stößt auf sein eigenes Bild.

>Abbildung< vs. >Entgrenzung<

In Serienmörderfilmen werde "die Grenze zwischen Realität und Fiktion mehrfach porös" (S.228): Filme verarbeiten >authentische< Fälle, Serienmörder beziehen sich in ihren Aussagen und Selbstdeutungen auf fiktive Figuren; Serienmord wird in den unterschiedlichsten Präsentationsformen der Massenmedien so dargestellt, dass Wissen, Vorstellungen und Figuren ohne Rücksicht auf die Unterscheidung von Fiktionalität und Authentizität entstehen und vermittelt werden.

Spätestens seit Fritz Langs "M" werden die – filmischen, literarischen – Darstellungen von Mehrfachmorden auf je zeitgenössische Fälle bezogen (S.185); und seit Fritz Langs "M" ist auch das öffentliche Interesse an derartigen Kriminalfällen selbst zum Thema der Darstellungen geworden. Verbrechen werden als Zeichen verstanden, der Täter eines extremen Verbrechens erscheint "als Sinnbild [s]einer Zeit". Nicht nur im Film, sondern in den populären Diskursen insgesamt, erscheint der psychopathische Serienmörder als "Extremfall der Personalisierung von Konflikten und der Selbstverwirklichung", und damit als Symptomträger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen einer Zeit, "die von Individualisierung, Misstrauen gegen Mitmenschen und Werte, durch die Betonung der Freiheit des Einzelnen und seine Bindungslosigkeit geprägt ist" (S.224). Der Serienmord wird als der >kriminelle Extremfall< inszeniert, an dem sich die konkurrierenden Ordnungsinstanzen zu bewähren haben, und durch den sie ihre Unersetzlichkeit und ihren Ausrüstungsbedarf bestätigen können.

Der Serienmörder ist – außer für die Opfer im Augenblick der Tat – aber stets das Konstrukt der Instanzen, die ihn definieren, darstellen, verfolgen, verurteilen und unschädlich machen wollen. Auf dieser Ebene wirken Polizei und Justiz, Informationsmedien, Literatur, Film und Fernsehen zusammen, indem sie ihre Darstellungs- und Deutungskonkurrenzen austragen, denn nicht nur die Massenmedien haben die Funktion der "realitätserzeugenden Größe" (so S.183). Wenn Juhnke im Anschluß an Baudrillard feststellt, dass in den Serienmörderfilmen die Täter hinter "ihrer Inszenierung" bleiben (S.182), so bleibt zu fragen, was vom Serienmord und vom Serienmörder ohne diese Inszenierungen zu sehen wäre. Zwar mag der "vermarktete Mord [...] verharmlost" werden, doch indem aus dem Serienmord ein "quasi-naturhaftes Phänomen" gemacht wird (ebd.), wird sein Täter zum wesenhaft >Anderen<, der erst recht ausgegrenzt wird.

Der Serienmörder ist das Medium der Diskurse, die ihn hervorbringen. >Jack the Ripper< ist zum retrospektiven Paradigma geworden, weil in diesem Fall die Täterrolle in jeder Inszenierung neu besetzt werden konnte. Nicht weil sie reale Fälle abbilden, haben Serienmörderfilme "einen wirklichkeitsbezogenen Anspruch" (S.181), sondern weil sie und soweit sie die diskursiven Zusammenhänge reflektieren, die den Serienmörder zum Mythos machen, und zwar zu einem Mythos, in dem >Grenzüberschreitungen< und >Entgrenzung< sichtbar werden (vgl. S.220–230): Grenzen, die das Recht setzt, werden ignoriert, Körpergrenzen überschritten, Gendergrenzen eingerissen, das >Anderssein< wird gefeiert und gefürchtet in den >Körpergenres<, die beim Zuschauer physiologische Reaktionen hervorrufen möchten (S.221).

Auch darin erweist sich der Serienmord als spezifisch US-amerikanische Verbrechens-Ikone: In keiner westlich-demokratischen Gesellschaft scheint die (Straf-)Justiz so überfrachtet mit symbolischen Funktionen, mit den Aufgaben der Ordnungsdarstellung, wie in den Vereinigten Staaten. Nirgendwo sonst scheint die Recht-Unrecht-Unterscheidung so überlagert von moralischen Unterscheidungen, die im Jury-Verfahren ihr Medium haben, das häufig als öffentliches Spektakel inszeniert und auch kritisiert wird.

Fazit

"Serienmörderfilme scheinen geeignet, Krisensituationen auszudrücken, die mit Gewalt, Sexualität und dem Verhältnis der Geschlechter zusammenhängen" (S.219): Das Problem entsteht, wo diese filmhistorische These auf die >Wirklichkeit< projiziert wird:

Und die Irritation der tradierten Männlichkeitsbilder scheint zumindest eine Ursache für die individuelle Krisenbewältigung in Form gehäufter Serienmorde seit den siebziger Jahren in den USA zu liefern. (ebd.)

Es ist die Wirklichkeit der Filme die immer wieder für die Wirklichkeit der Kriminalität genommen wird. Ich kritisiere, dass Juhnkes Studie ihre Abbildungstheorie nicht reflektiert, und dass sie Konstanz unnötig betont zu Lasten des Wandels, der in Einzelbeobachtungen immer wieder greifbar wird. Das betrifft einerseits das Korpus insgesamt, das letztlich ohne Gewinn bis in die zwanziger Jahre ausgedehnt wird, obwohl sich die Kernthesen auf die US-amerikanische Produktion aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehen. Aber auch innerhalb dieses Teilkorpus werden >Intertextualität< und Selbstreferentialität unterschätzt, werden Wandel und Differenzierung einem homogenisierenden Zugriff geopfert.

Doch jenseits dieser Kritik habe ich die Studie mit Gewinn gelesen. Sie bereitet insgesamt eine tragfähige Basis für die weitere Diskussion von Serienmorddarstellungen im Film und in den Massenmedien insgesamt, vor allem da, wo sie die Sammlung von Einzelbeobachtungen und die wiederkehrende Betrachtung kanonisierter Einzelwerke in eine Gesamtdarstellung einbaut. Zum insgesamt positiven Eindruck trägt auch der Anhang bei, der nicht nur die Analysebogen enthält, sondern auch eine Liste aller erfassten Filme. Leider wurde auf Personen- und Sachregister verzichtet, die den Nutzen des Buches für die künftige Forschung noch wesentlich erweitert hätten.


Dr. Joachim Linder
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Ins Netz gestellt am 26.05.2002
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Anmerkungen

1 In der Reihenfolge der Erwähnung: John McNaughton 1986; Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde 1992; Mathieu Kasovitz 1997.   zurück

2 Vgl. z. B. Richard Tithecott: Of Men and Monsters: Jeffrey Dahmer and the Construction of the Serial Killer. Foreword by James R. Kincaid. Madison: University of Wisconsin Press 1997; Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America's Wound Culture. New York and London: Routledge 1998; Martin Büsser: Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert. Mainz: Ventil 2000; Philip L. Simpson: Psycho Paths: Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction. Carbondale and Edwardsville: Southern Illinois University Press 2000. Zu Simpson die Rezension von Klaus Bartels bei IASL online http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bartels.html (ins Netz gestellt am 19.3.2002); im Hinblick auf >interdiskursive Zusammenhänge< siehe jetzt auch den Sammelband von Frank J. Robertz und Alexandra Thomas (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München: Belleville 2002 (im Druck).   zurück

3 Das jüngste Beispiel ist "From Hell" (Albert und Allen Hughes 2001, mit Johnny Depp als zugkräftigem Hauptdarsteller), dessen deutsche Synchronfassung am 28.2.2002 unter großer öffentlicher Beachtung anlief, obwohl der Film dem Thema – Jack the Ripper – weder historisch noch ästhetisch neue Seiten abgewinnt.   zurück

4 Nach dieser Definition wird z. B. Charles Chaplins Film "Monsieur Verdoux" (1947) explizit ausgeklammert, obwohl der Film als Grenzfall der Darstellung von Tötungslust und der erwerbsmotivierten Tötung gelten kann.   zurück

5 In einem knappen Überblick (S.185–189) geht Juhnke auf die Kontroversen zum >realen< Serienmord ein und übernimmt dabei im wesentlichen die Positionen der populären Alarmisten, die eine dramatische Zunahme des Serienmords behaupten, ohne dies statistisch nachweisen zu können.   zurück

6 Vgl. Martin Lindner: Der Mythos >Lustmord.< Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Joachim Linder / Claus-Michael (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 70) Tübingen: Niemeyer 1999, S.273–305.   zurück

7 Zur interdiskursiven Konstitution von Kriminalität vgl. Joel Best: Random Violence. How We Talk about New Crimes and New Victims. Berkeley, Los Angeles, and London: University of California Press 1999.   zurück

8 So Mark Seltzer (wie Anm. 2), S.1 f., der unmittelbar den Bezug zur Mediengeschichte herstellt: "Writing, dictation, typing, shorthand, communication technologies, the data stream, pulp fiction and the true crime genre, the mass media and mediatronic intimacy: all traverse these cases, enter into the interiority of this style of violence, from the late nineteenth century on" (S.5).   zurück

9 Vgl. exemplarisch Robert K. Ressler und Tom Shachtman: Ich jagte Hannibal Lecter. Die Geschichte des Agenten, der 20 Jahre lang Serienmörder zur Strecke brachte (1992). Aus dem Englischen von Peter Pfaffinger (Heyne Taschenbuch; 8564; Wahre Verbrechen) München: Heyne 1993; John Douglas and Mark Olshaker: The Anatomy of Motive. (1999). New York u. a.: Pocket Book 2000.   zurück

10 Vgl. J. Reid Meloy: The Psychopathic Mind. Origins, Dynamics, and Treatment. Northvale, NJ, and London: Jason Aronson Inc. 1988; Robert D. Hare: Without Conscience. The Disturbing World of the Psychopaths Among Us. (1993). New York and London: The Guilford Press 1999.   zurück

11 Vgl. dazu Philip Jenkins: Using Murder: The Social Construction of Serial Homicide. New York: de Gruyter 1994, p. 63–68.   zurück