Luckscheiter über Joch u.a.: Intellektuelle

IASLonline


Roman Luckscheiter

Normierungen des Geistes

  • Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger (Probleme der Dichtung; 29) Heidelberg: Winter 2000. (Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ. Diss. 1998). 483 S. Kart. € 46,-.
    ISBN 3-8253-1037-X.

  • Sven Hanuschek, Therese Hörnigk, Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 73) Tübingen: Niemeyer 2000. 339 S. Kart. € 48,-.
    ISBN 3-484-35073-3.

Das Grundproblem der Intellektuellenforschung besteht zunächst in der Definition ihres Gegenstandes. "Arbeiter des Geistes" finden sich in der Politik ebenso wie in der Wirtschaft und doch konzentriert sich beim Thema "Intellektuelle" der Blick auf Philosophen, Künstler, Literaten. Auch das ist noch ein zu weites Feld für gezielte Beobachtungen, zumal, wenn sie den Anspruch haben, wissenschaftlich zu sein. Eine handliche Portionierung bietet die Beschränkung auf "Schriftsteller als Intellektuelle", wie sich ein im Jahr 2000 erschienener Tagungsband zum Verhältnis von Politik und Literatur im kalten Krieg nennt.

Was dort ein gutes Dutzend Geisteswissenschaftler vor allem im Hinblick auf die Repräsentanz und die Risiken des Schriftstellers in der DDR analysiert haben, hat Markus Joch in seiner ebenfalls im Jahr 2000 veröffentlichten Berliner Dissertation "Bruderkämpfe" in einem weiten Bogenschlag von Heine bis Enzensberger beleuchtet. Ihm geht es um die "Verortung" des stellungnehmenden Literaten im Fluidum der politischen Geschichte.

In beiden Fällen wird deutlich, dass das Zwitterwesen der Intellektuellen – halb öffentlich-politische Figur, halb autonomer Dichter – auch eine zwitterhafte Forschung erfordert: Wer sich als Germanist an die exponierten Diskursteilnehmer der deutschen Literaturgeschichte annähert, muss zugleich auch Historiograph der verhandelten Themen und ihrer politischen Relevanz sein. Mehr noch als es in der rein an literarischen Themen orientierten Germanistik schon der Fall ist, spielen bei der systematischen Beschäftigung mit der Intellektuellenproblematik soziologische Theorien eine forschungsbestimmende Rolle. Kaum etwas klingt da so griffig wie die Rede vom "intellektuellen Habitus", die den Spagat zwischen Literatur und Politik durch die Umwandlung des "literarischen Feldes" in ein Schachbrett machtsüchtiger Konkurrenten entspannen will. Des französischen Soziologen Pierre Bourdieus marxistisch geprägten Entwürfe zur Geisteswelt als einem Handlungsraum, in dem eine Art Diskurs-Darwinismus herrscht, drängen sich dem Intellektuellenforscher auf, weil sie das historische Durcheinander der Meinungspublizistik zu einem binären System strategischer Oppositionen herunterfahren.

Feldjäger

Markus Joch hat in seiner Dissertation versucht, mithilfe von Bourdieus Theorie den Mechanismus intellektueller "Bruderkämpfe" am Beispiel politisch-literarischer Kontrahenten der Extra-Klasse zu entschlüsseln: Heinrich Heine gegen Ludwig Börne, Heinrich gegen Thomas Mann, und schließlich Hans Magnus Enzensberger gegen alle zusammen und gegen sich selbst. Von Kräftefeldern, Semantik, Einstellungen, von Figurationen, Vorwärtsverteidigungen, Fronten, Linien und immer wieder von Distinktionsgewinnen muss konsequenterweise die Rede sein und schon das Inhaltsverzeichnis macht entsprechend deutlich, dass Intellektualität im bourdieuschen Labor zu einer Frage des Marketings verkommt und Begriffe wie Idee, Geist, Überzeugung, Erfahrung oder Individualität dort so fehl am Platz sind wie die Jungfrau Maria in der protestantischen Kirche.

Im ersten Kapitel schildert Joch, wie die beiden "Akteure" Börne und Heine "jeweils eine Deutung von sozialer Welt durchzusetzen suchen, in deren Rahmen der eigene Habitus vorteilhaft erscheint". Das Verhältnis zum Volk, zur Idee der Republik und zur Religion wird bei beiden analysiert und in ihrer exemplarischen Gegensätzlichkeit deutlich gemacht. Joch berücksichtigt dabei eine Vielzahl von Quellen unterschiedlichster Herkunft und unterscheidet sauber zwischen zu Lebzeiten Veröffentlichtem und postum Publiziertem, zwischen öffentlichen und privaten Texten, um unter anderem festzustellen: "Im öffentlichen Diskurs ist dann die Transformation polemischer Verve auf ein höheres, den Feldgesetzen geschuldetes Niveau zu beobachten."

Neben den Wettbewerb intellektueller Positionen, die beim "Frühsozialisten" Heine wie beim "bürgerlichen Liberalen" Börne durch den Aufenthalt in Paris beeinflusst und inspiriert sind, tritt die Konkurrenz um den besseren Stil. Doch Feldgesetze hin oder her, wer das Feld nicht kennt, kann auch mit seinen Gesetzen nichts anfangen. Daher verwendet Joch einen immensen Aufwand darauf, den Acker der deutschen Literaturgeschichte um die beiden Exponenten herum zu durchpflügen, bis der Leser zwischen den Nacherzählungsschollen und Anekdotenkrumen den Faden verliert und sich orientierungslos im Freilandnebel gen Horizont tasten muss.

Auf diesem Weg landet er im Gehege der Brüder Mann, denen das zweite Kapitel gewidmet ist. Während Thomas Mann, der mit seinem Hang zum Schema Pierre Bourdieu schier in den Schatten stellt, im gehässigen Ton eine Merkmalsliste jenes intellektuellen Habitus' anfertigte, den er dem "Zivilisationsliteraten" zuordnete und seinem Bruder Heinrich auf den Leib schneiderte, schien Heinrich Mann dagegen daran gelegen gewesen zu sein, "semantische Brücken" zu schlagen und Gemeinsamkeiten zwischen dem Typus des egalitären und des elitären Intellektuellen zu finden.Mit Joch und Bourdieu heißt das dann so: Beide Konzepte seien

in ihrer gemeinsamen idealistischen Fundierung auf die spezifischen Bedürfnisse literarischer Akteure nach Aufwertung geistiger Prinzipien im gesellschaftlichen Kräftefeld zugeschnitten.

Solche Ansätze theoretischer Systematisierungen im Dickicht weit ausgreifender Nacherzählungen und Kontextrekonstruktionen, Zitaten und Kommentaren, sind Momente der Ruhe in Jochs Arbeit – und signalisieren doch zugleich, dass sich mit ihnen nichts sagen lässt. Warum sollten denn Intellektuelle auch versuchen, "geistige Prinzipien" abzuwerten?

Prozessierende Räume

Joch liefert Informationen über Informationen in einer fast willkürlich erscheinenden Abfolge und unterläuft die reduktionistische Stringenz des Bourdieuschen Weltbildes durch eine gleichfalls problematische Komplexität inhaltlicher Kleinarbeit. Das Dilemma wird noch einmal besonders deutlich im dritten Kapitel, in dem es um Enzensbergers intellektuelle Einlassungen zur Zeitgeschichte geht. Auch hier wartet der Autor mit seitenlangen Resümees der bekannten Essays auf, die er dann mit Fundsachen aus der Rezeptionsgeschichte und Querverweisen zu literarischen Vorbildern schmückt. Dann kommt noch einmal Bourdieus Machete zum Einsatz, um "Enzensbergers Distinktionsgewinne" freizulegen. Wie, so lautet die Frage, schafft es Enzensberger immer wieder, den Pokal der ersten Intellektuellenliga zu erspielen? Enzensbergers Entwicklung vom Vordenker der Achtundsechziger zum gepflegten Zeitgeistanalytiker der FAZ hat manchem Exegeten schon den Kopf zerbrochen.

Für das von Joch treffend beobachtete Phänomen, dass Enzensberger auf die Frage, welche Rolle der Schriftsteller im intellektuellen Feld spiele, "rasant wechselnde Antworten" hervorgebracht hat, hat Joch offenbar eine Lösung parat:

Enzensberger setzt vorhandenes symbolisches Kapital ein, um sich für eine thematische und produktionsästhetische Umorientierung des literarischen Feldes stark zu machen, unter Hinweis auf feldübergreifende Kräfte (Politisierungswelle);

das hat folgenden "Distinktionsgewinn" zur Folge:

Im Rahmen virabler Toleranzen des Felds verhalten sich auseinanderstrebende Positionen komplementär zueinander, vorausgesetzt, nicht mehrheitsfähige finden einen Träger, der über hinreichendes Prestige bereits verfügt.

Denn zu bedenken ist ja schließlich, dass sich der Habitus "stets auf den prozessierenden Raum der im Feld überhaupt einnehmbaren Positionen" bezieht… Nein, kein Latinum, sondern ein Chemikum sollte man in Zukunft von angehenden Germanisten verlangen, wenn das die Redeweise bleiben sollte, mit der die Intellektuellenthematik behandelt wird!

Partielle Entwarnung folgt jedoch stante pede:

Es wäre verfehlt, Enzensberger eine Distinktionsabsicht um ihrer selbst willen zu unterstellen. Wie Bourdieu mehrfach betont hat, muss es nicht strategisches Kalkül sein, daß (!) den Handelnden zur Einnahme einer distinktionsträchtigen Position bewegt; er versteht jede seiner Stellungnahmen durchaus als innere Notwendigkeit.

Das klingt beruhigend, doch stellt sich hier wiederum die Frage, wie man sich eine "innere Notwendigkeit" in einem Intellektuellen vorzustellen hat. Zumal schon die innere Notwendigkeit der Dissertation nicht so einfach zu erkennen ist. "Obwohl für den Druck gekürzt, lässt ihr Umfang noch erahnen, dass mir der pragmatische Zweck im Lauf der Zeit immer weniger zum Maßstab wurde", schreibt Joch offenherzig in seinem Vorwort. Das kann ja nur heißen, dass die rund 500 Seiten, eines pragmatischen Zweckes entbehrend, den kiloschweren Versuch darstellen, eine Dissertationsabsicht um ihrer selbst willen zu beweisen.

Imprägnierungen

Ein Sammelband hat es freilich leichter, unter einer Leitfrage die Figur des Intellektuellen in ihren diversen Aspekten zu beleuchten. Der von Sven Hanuschek, Therese Hörnigk und Christine Malende herausgegebene Band "Schriftsteller als Intellektuelle", hervorgegangen aus einer Berliner Tagung von 1996, versammelt 15 Beiträge zum Thema "Politik und Literatur im Kalten Krieg".

Neben sieben Aufsätzen zu generellen Begriffsklärungen und historischen Mustern (Georg Jäger über die Typisierungsmöglichkeiten des Schriftstellers als Intellektuellem, Manfred Gangl über Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Michael Stark über jüdische Intellektuelle, Britta Scheideler über Albert Einstein, Hauke Brunkhorst über die Rolle der Intellektuellen in der Demokratie und Joseph Jurt über die Intellektuellen als französisches Modell) widmen sich sieben weitere Beiträge dem Verhältnis von Geist und Macht hauptsächlich in der DDR und schließlich fragt Helmut Peitsch nach den unterschiedlichen Konzepten des Engagements in der Bundesrepublik respective der DDR.

Die starke Präsenz der DDR-Forschung im Intellektuellen-Band illustriert den Vorteil, den Diktaturen generell für die Forschung bedeuten: Die besonders ausgeprägte, weil autoritär erzwungene, politische Strukturierung der Gesellschaft ermöglicht es, die "Verortung" des Geistes im Verhältnis zur Macht auf den ersten Blick präziser vorzunehmen als das selbst in Monarchien möglich ist. Während die Beschäftigung mit den Intellektuellen in einer tendenziell offenen Gesellschaft darauf zielt, Positionen eines geschlossenen Weltbildes aufzuspüren, liegt der Forschungsanreiz im Falle einer geschlossenen Gesellschaftsgrundlage darin, nach Inseln bewahrter, verteidigter oder tragisch gescheiterter Geistesfreiheit zu fahnden.

Wolfgang Emmerich findet Inseln der Widerstandskraft gegen die Doktrin des SED-Regimes dort, wo ein "intakter religiöser, bildungsbürgerlich-humanistischer oder auch sozialdemokratisch-konservativer Wertehorizont" gegolten habe, wie es beispielsweise Günter de Bruyns Autobiographie belegt, in der das katholische Familienmilieu als "dauerhafte Imprägnierung gegen die heilsgeschichtlichen Versprechungen des >realen Sozialismus<" fungiert habe. Denn andernfalls lag die Versuchung nahe, unmittelbar nach Kriegsende eine "freiwillig-unfreiwillige Selbstbindung" an den Anti-Faschismus einzugehen, die jede Kritik an der DDR unterband, weil sie als Kritik am Antifaschismus hätte gedeutet werden können.

Prestigegewinne

Was das literarische Feld in einer Diktatur kennzeichnet, ist seine feste Integration und Unterordnung in das politische Gesamtsystem. Statt autonomer Wertsphäre sollte die Literatur in der DDR eine mobilisierende Kraft sein und die Massen für den Sozialismus begeistern. Aus diesem Erwartungsdruck und der Tatsache, dass die Literatur viel weniger Konkurrenz durch andere Medien hatte als in westlichen Staaten, leitet Emmerich ein gesteigertes Selbstwertgefühl der Schriftsteller ab. Dass sich Autoren wie Johannes R. Becher geradezu mit Orden und Ämtern überhäufen ließen, führt Ursula Heukenkamp allerdings nicht auf ideologische Selbstüberschätzung zurück, sondern interpretiert das Sammeln staatlicher Auszeichnungen psychologisch als Akt der "Selbstbetäubung". Gleichwohl erkennt sie in den Verhaltensweisen der aus dem Exil nach Ostberlin zurückkehrenden Autoren des "bekennenden Antifaschismus" eine generelle "Zielsetzung der Machtausübung".

In ihrer Darstellung zur Beurteilungsproblematik der Intellektuellenfigur Johannes R. Becher argumentiert Heukenkamp dann auch mithilfe soziologischer Kategorien: Einserseits führt sie "Urteilsformen" und "Werteordnungen" auf die Erfahrung des Exils zurück – in diesem Sinne bewertet sie Bechers ständige Orientierung an der "Bezugsgröße Deutschland" – andererseits sieht sie das eigentliche Motiv für viele thematischen Festlegungen und Konflikte (so im Falle von Bechers Bemühungen um den Heimatbegriff) in der Sorge um "Prestigegewinn". Das Pathos einiger Gedichte Bechers wird mit des Autors Willen zur Gruppenbildung im literarischen Feld begründet, die als eine Vorstufe zur Besetzung des politischen Feldes gedacht gewesen sei.

Eine Mischung aus machtorientierten Strategien und ideellen Überzeugungen beherrschte in Zeiten des Kalten Krieges das literarische Leben beiderseits des Eisernen Vorhangs. Christine Malende zeigt in ihrem Aufsatz über den öffentlichen Briefwechsel zwischen Johannes R. Becher und Rudolf Pechel, wie jeweilige Alleinvertretungsansprüche des deutschen Geistes in eine "Entweder-oder-Falle" geraten sind und "institutionalisierte Ausgrenzungen" mit sich geführt haben. In Institutionen wie dem PEN, der "Deutschen Rundschau" oder der "Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" wurden über offene Briefe, Rezensionen und Stellungnahmen abwechselnd Annäherungs- und Spaltungsprozesse eingeleitet.

Becher hatte 1950 für Aufruhr gesorgt, als er deutsche und ausländische Schriftsteller, die am West-Berliner "Kongress für kulturelle Freiheit" teilgenommen hatten, als "Handlanger der Kriegshetzer" und "Bande internationaler Hochstapler" schmähte; vom Strategie- und Diskursdenken beherrscht, so meint Malende nun, seien diese Äußerungen im "Rahmen des kalten Presse-Krieges […] durchaus üblich" gewesen und "offenbar" nicht Resultat "persönliche[r] Reflexion". Dann folgt der wunderliche Beisatz: "gerade hierin aber sehe ich ein Problem im Hinblick auf die Frage nach der Rolle der Intellektuellen im kalten Krieg." Der Dichter als Diskursmarionette?

So ist die jüngste Forschung zur Intellektuellenproblematik einerseits gekennzeichnet von einem unbedingten Systematisierungswillen, mit dem die Kräfte des literarischen Feldes präzise erfasst werden sollen, und andererseits dermaßen skeptisch gegenüber der Annahme, intellektuelle Rede habe auch Inhalte, dass sie den kalten Krieg quasi zum Modellfall geistiger Auseinandersetzung werden lässt. Beide Bände haben große Verdienste hinsichtlich der Aufarbeitung historischen Materials zum spezifischen Handeln der Intellektuellen, doch sie hinterlassen stellenweise den Eindruck, als sei dieses Handeln ein bloßes Pokerspiel gewesen. Es scheint, als wolle die habituell ernste Wissenschaft ihren eigenen Gegenstand des Unernstes überführen.


Dr. Roman Luckscheiter
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Germanistisches Seminar
Hauptstr. 207-209
D-69117 Heidelberg

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 31.05.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]