Lüdeke über Schärf: Schreiben

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Roger Lüdeke

Brückenschläge
zwischen Text und Schreiben

  • Christian Schärf (Hg. unter Mitarbeit von Petra Gropp): Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte. Tübingen: Attempto 2002. 210 S. Kart. EUR (D) 29,-.
    ISBN 3-89308-347-2.


Schreiben
als literaturwissenschaftlicher Gegenstand

Das Thema des Schreibens ist der Literaturwissenschaft das Nächste und das Fernste zugleich. In Untersuchungen, die sich bestimmten Stil-, Gattungs- oder Epochenmerkmalen widmen, verschwindet das Schreiben gewöhnlich als Mittel zum Zweck hinter dem Text und den werkinternen wie -externen Gesetzen der ihn prägenden Codes und seinen Entwicklungen. Dagegen wird die Frage nach dem Schreiben zentral in Untersuchungen, die sich, wie in den letzten 20 Jahren vermehrt zu beobachten, den medialen Bedingungen von Literatur, den materiellen Bedingungen der Textträger, widmen; allerdings droht hier das Besondere der literaturwissenschaftlichen Vorgehensweise zu verschwinden hinter dem allgemein medienwissenschaftlichen Interesse an den historischen Bedingungen der >Materialität von Kommunikation<.

Der von Christian Schärf herausgegebene Band vermeidet dieses Problem, indem die Frage nach dem Schreiben hier nicht vorrangig systematisch, z.B. medientheoretisch, begründet wird. Unter Verzicht auf eine dementsprechend rigide Programmatik finden die dort versammelten Beiträge ihren gemeinsamen Bezugspunkt stattdessen in einer aus der historischen Entwicklung des Gegenstands >Literatur< selbst gewonnenen Veränderung des Blickwinkels. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert findet sich Schärf zufolge der Auftakt zu jener "Sinngeschichte des Schreibens", dem der Band seinen Untertitel verleiht: "Sinn liegt nicht mehr in der Ordnung des Seins, die der Mensch nur erkennen und abbilden müsste. Vielmehr muss dieser Sinn erst ins Sein hineingelegt werden und zwar durch eine konstruktive Aktivität, deren Kern seit der Romantik im poetisch-künstlerischen Schaffen gesehen wird" (S. 7). Es leuchtet ein, dass in dem Maße, wie Bedeutung und Sinn dem Text nicht mehr vor- sondern nachgeordnet sind, den Bedingungen der Textproduktion, dem Schreiben, erhöhtes, ja primäres Interesse zukommt. Mit Bezug auf Jan Assmanns Begriff der >Sinngeschichte< wird so eine Untersuchung der historischen Möglichkeitsbedingungen des Schreibens angekündigt, die ihren Gegenstand in der >kulturellen Semantik< des Schreibens, also aus Thematisierungen des Schreibens im Geschriebenen, findet. 1

Der Schwerpunkt des Bandes gilt dabei einem modernen Teilabschnitt und vorläufigen Höhepunkt der so verstandenen Sinngeschichte: jener Phase zu Ende des 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert, in der der Geltungsanspruch des Geschriebenen zunehmend nur durchs Schreiben selbst begründet werden kann. Diese von Schärf beobachtete Selbstbezüglichkeit des Schreibens entfaltet ihr poetologisches und ästhetisches Spannungspotenzial in dem Maße, in dem "der Sprachakt Text und Kontext in einem Zug, in einer Aktion erschließt und setzt"
(S. 13). So begründet die hinlänglich vertraute literaturhistorische These einer seit dem Ende des 18. Jahrhundert einsetzenden Selbstbesinnung der Literatur auf ihre Vermittlungsbedingungen die Notwendigkeit einer produktionsästhetischen Vorgehensweise, die "nicht mehr vom imaginären Ideal des Kunstwerks, sondern von existenziellen Konfigurationen zwischen Menschen und Texten" auszugehen hat (S. 10).

Vom Text zum Schreiben:
Walser, Brinkmann, Kafka

Der Vorteil eines solchen Zugangs liegt zweifellos darin, dass er nicht um die eigene Gegenstandsnähe zu fürchten braucht: Gerade die besten Beiträge in Schärfs streckenweise höchst überzeugender Sammlung verankern ihre Interpretationsvorschläge in einer differenzierten literaturwissenschaftlichen Arbeit am Text. Der Verzicht auf systematische Differenzierung hat aber auch seinen Preis, der einem in der Lektüre immer dann bewusst wird, wenn man sich zu fragen beginnt, ob dieser oder jener Beitrag seinen Platz nicht ebenso unter Titeln wie "Sprache" / "Text" / "Werk" [etc.]. "Szenen einer Sinngeschichte" hätte finden können (so etwa die für sich genommen äußerst gelungenen Beiträge von Matthias Bauer zur "romanhaften Textur von Freuds Legendenbildung" (S. 27–58) und von Christian Peters, der in einer tiefsinnigen, sprachanalytisch fundierten Untersuchung den Grenzgang Thomas Bernhards zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Rede beleuchtet (S. 131–153); auch die Rekonstruktion zentraler Aspekte von Gottfried Benns Poetologie und Ästhetik, die Andreas Rang anhand von Benns Briefen an F. W. Oelze unternimmt (S. 107–129), hat mit Schreiben im engeren Sinne kaum noch zu tun). Offensichtlich führt der "Weg von [den] Sprachreflexionen der Dichter" nicht zwingend und ohne weitere theoretische Reflexion "zur Einkreisung des Phänomens im Vorgang des Schreibens" (S. 13), zu einer Befragung der komplexen medialen, körperlichen, physiologischen, psychosozialen und existenziellen Bedingungen eines Vorgangs mithin, "bei dem mit einem Schreibgerät (z.B. Feder, Schreibmaschine etc.) auf einer Unterlage (Papier, Pergament u.a.) eine Folge von Zeichen (Buchstaben, Noten, Ziffern u.a. festgehalten wird". 2 Wie dieser Brückenschlag geleistet werden könnte, verdeutlichen dagegen die Beiträge zu Robert Walser und zu Rolf Dieter Brinkmann.

Stefanie Germann nähert sich den "Wechselwirkungen zwischen dem Schreibprozess, dem Inhalt und der äußeren Form" (S. 60) von Walsers Mikrogrammen und dabei gelingt es ihr, die Ebenen der textgenetischen Rekonstruktion und der Materialanalyse in einer Weise mit der Textinterpretation zu verschränken, daß die Rede von Robert Walsers "Schreiben" nicht bloß metonymischer Variation, sondern dem Gegenstand selbst geschuldet ist. Das Spannungsverhältnis zwischen der "kalligrafisch-gebremste[n] Entstehung" der "sauberen, lückenlosen, zur typographischen Exaktheit tendierenden" (S. 79) Mikrogramme einerseits und der darin praktizierten ">skizzenhaften<, über die Oberfläche hinwegfegenden Erzählweise" andererseits (S. 63) erklärt sich Germann zufolge als Versuch, die sprachlichen Signifkationsprozesse durch eine Verlängerung des Schreibakts gleichsam auf Dauer zu stellen (S. 64). Umgekehrt werden die konkreten Materialeigenschaften des fertigen Produkts der "Mikrogramme", insbesondere die Tatsache, dass Text und Dokument in den meisten Fällen eine Einheit bilden, "Blatt- und Text-Ende zusammen[fallen]" (S. 69), als Bewältigungsstrategie von schreibästhetischen Legitimationsdefiziten interpretierbar: als Versuch, das drohende Außer-Kontrolle-Geraten der Schreibprozesse "durch äußere Umstände, die mit dem Schreiben gar nichts zu tun haben", aufzuhalten (S. 69).

In ihrer Studie zu Rolf Dieter Brinkmann versteht Petra Gropp dessen Texte als "Symptome eines fundamentalen Wandels des Mediensystems, der Wahrnehmungsmuster und Repräsentationsweisen" (S. 175). Aufgrund der überzeugenden Verschränkung von wahrnehmungstechnischer, mediengeschichtlicher und sprachtheoretischer Untersuchungsperspektive verlieren die intermedial geprägten Texte Brinkmanns ihren Status als gleichsam unsichtbare Textträger und treten in ihrer eigenen Materialität zutage: als historisch bestimmte Aufzeichnungs- und Speichermedien, die ihr ästhetisches Potenzial in deutlicher Konkurrenz zu anderen Aufzeichnungsmedien wie Film, Photographie und Tonband entwickeln. Vor dem Hintergrund dieser "Interaktion von Technik, Wissenschaft und Kunst" (S. 184) erhält Intermedialität hier ihren historischen Index: "als Strategie der Schrift im Prozess kultureller Rekonfigurationen von Technik, Wissenschaft und Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" (S. 190).

In ähnlicher Weise sucht auch Oliver Leys Aufsatz zu Franz Kafka die Nähe zum Gegenstand des Schreibens. Leys Versuch, den Prozess der Textentstehung einerseits und die Struktur des Textes andererseits in ein reflexives Wechselverhältnis zueinander zu stellen ist ein vielversprechender, in der textkritischen Kafka-Forschung bereits vielfach praktizierter Weg. Die Überblendung der materiellen Eigenschaften der Textträger und der Strukturmerkmale des darin enthaltenen Texts führt bei Ley jedoch zu der recht naheliegenden These, daß z.B. die "Konvolute zum >Proceß< [...] ein ständiges Prozessieren der Schrift vor[führen]" (S. 94) und "Gericht und Gesetz letztlich nur aus Kafkas Schreibstrom" entstehen (S. 97). Leys Erstfaszination angesichts des ">ständige[n]Flechten[s]<" und der "Infinitisierung [...] des "Schreibstroms" (S. 97) ist wesentlich geprägt durch text- und bedeutungstheoretische Thesen von Barthes und Deleuze / Guattari. Ausdifferenzieren ließen sich seine Überlegungen womöglich dann, wenn konsequenter noch der Schritt in die textgenetische Dimension des Schreibens gewagt würde.

Paradoxien und Zirkel:
Anders, Nietzsche, Sartre

Leys Versuch, aus dem metaphorischen Gehalt des Geschriebenen Deutungspotenziale für die materiell sichtbaren Spuren des Schreibens zu gewinnen, verweist zugleich jedoch auf systematische Probleme, die sich mit der "Einkreisung des Phänomens im Vorgang des Schreibens" (S. 13) stellen. Sie zu fokussieren erlaubt am dezidiertesten der Beitrag von Christoph Ernst zu den medientheoretischen Überlegungen des Philosophen Günther Anders. Denn hier stellt sich die Frage, ob und wie sich Medien überhaupt beobachten lassen. Ernst zufolge nimmt Anders für das Verhältnis zwischen Mensch und Technik eine prinzipielle >Verstellung< an, die darin begründet liegt, dass die diskursive Reflexion, die dieses Verhältnis zu erhellen erlaubte, aufgrund der prinzipiellen Medialität des menschlichen Wirklichkeitszugriffs selbst immer schon mediengebunden bleibt. Aufgrund dieser Vorverbundenheit von Methode und Gegenstand entzieht sich die Reflexion darüber, was Medien sind, somit dem abschließenden diskursiven Zugriff. "Um schreiben zu können, benötigen wir – unter anderem – die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben" 3.

Was Medien sind, Flussers zirkuläre Definition des Schreibens verdeutlicht dies, läßt sich letztgültig nicht artikulieren, sondern vermag sich nur in der medialen Performanz der konstitutiven Ausgangsparadoxie von medial geprägter Medienbeobachtung zu zeigen; ein Sachverhalt, den Ernst wiederum überzeugend an Anders' Verfahren der experimentellen Metaphorik verdeutlicht: "Von >positiven< Medienanalysen, einer konkreten Aussage >über< das >Was<, bleibt in dieser Situation nichts mehr übrig. Was bleibt, sind Metaphern, die keine Metaphern mehr sind, weil sie nicht darstellen können, was sie darstellen sollen und als Ganze paradoxerweise nur noch >für sich< stehen" (S. 168). Eine solche Analyse der Bedingung der Möglichkeit, "etwas >über< Medien und Technik aussagen zu können" (S. 169), wünscht man sich nicht nur so manchen Vertretern einer zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen "Mediengeschichte" ins Stammbuch geschrieben.

Zugleich könnten Anders' Überlegungen auch fruchtbar gemacht werden für den hier versuchten Brückenschlag zwischen dem Vorgang des Schreibens und dessen poetischen und poetologischen Produkten. Analog zur Figur des sich selbst reflektierenden Denkens ist offensichtlich von einem blinden Fleck in der medialen Selbstreflexion des Schreibens auszugehen. Eingedenk der von Fall zu Fall zusätzlich zu leistenden Rekonstruktion der mediengeschichtlichen und aufzeichnungstechnischen Bedingungen ließe sich Schreiben womöglich als Sinnfigur in den Blick bringen, die infolge der fürs Schreiben konstitutiven Ausgangsparadoxie, nicht nur immer supplementär bleiben wird, sondern – hier liegt der Gewinn für eine Betrachtung der dem Schreiben (anders als der Schrift) per se innewohnenden prozessualen Dimension – immer auch den potenziellen Anlaß für weiteres Schreiben bietet.

Wenig einleuchtend ist vor diesem Hintergrund jedenfalls die Abgrenzungsgeste, die Schärf in seiner Einleitung durch eine äußerst reduktive Derrida-Lektüre vornimmt, indem er dessen Schriftbegriff auf eine "Streuung der Blütenstaubfäden der Textbedeutung" verkürzt, die einfach darauf ziele "den Sinn aus dem Schreiben herauszutreiben" (S. 15). Sicher ist richtig, dass zentrale Arbeiten des frühen Derrida, insbesondere De la grammatologie, weniger eine Theorie des Schreibens verfolgen, als einen generalisierten, von der materiell-körperlichen Dimension des Schreibens noch weit entfernten Schriftbegriff einführen, dessen Verwendung wesentlich bedeutungs- und texttheoretisch, nicht aber im engeren Sinne schreib- oder medientheoretisch motiviert ist. Gerade Derridas Annahme einer "Spur der Differenz, die für das gesamte Zeichensysstem [sic] der Kultur überhaupt prägend ist" (S. 16), verweist jedoch darauf, dass das Schreiben, auf das Schärf mit einer programmatischen "Wendung [...] ins Physiologische" (S. 18) im Sinne "einer écriture des Körpers" (S. 19) zielt, gar nicht anders zu haben ist als unter den Bedingungen von "Dissemination" (S. 19), d.h. vermittelt über das differentielle Gefüge verschiedener sich wechselseitig bedingender Faktoren innerhalb eines denk-, medien- und ästhetikgeschichtlich bestimmten Dispositivs.

Vor diesem Hintergrund droht Schärfs identifikatorischer Rekurs auf Roland Barthes' Begriff des schreibbaren Texts als "Gleiten der Signifikanten, [...]Produktivität im Zustand ihres ingeniösen Selbstgenusses, [...]schreibendes Überschreiben von Geschriebenem" (S. 19) jedenfalls hinter dem eigenen Anspruch zurückzufallen: setzt sich doch in solchen Formulierungen die recht beliebige Verwendung von "Schreiben" als bedeutungs- und texttheoretische Metapher fort, die Schärf zuvor zurecht moniert. Spätestens Schärfs Schlußbeitrag zur "Graphogenese des Selbst" bei Nietzsche und Sartre hätte Anlass zur differenzierteren Auseinandersetzung weniger mit dem Theoretiker der >écriture< als mit dem Autor von Otobiographies,und Éperons: les styles de Nietzsche, aber auch La main de Heidegger (Geschlecht II) geboten.


Dr. Roger Lüdeke
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Schellingstr. 3
D - 80799 München
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Ins Netz gestellt am 15.08.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Anne Bohnenkamp-Renken. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte. München, Wien: Fischer 1996.   zurück

2 Davide Giuriato: Schreiben. In: Kompendium der Editionswissenschaft [Modellversion]. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Hans Walter Gabler,
http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/C/Schreiben-C-DG.html   zurück

3 Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. (1991) Frankfurt: Fischer 1994, S. 33. Vgl. Martin Stingelin: "Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken". Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg–Jahrbuch 1999 (2000), S. 81–98.   zurück