Masser über Theodisca: Aus philologischen und historischen Werkstätten

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Achim Masser

Aus philologischen und historischen
Werkstätten

  • Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Eine internationale Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Ernst Hellgardt, Reiner Hildebrandt, Stephan Müller und Klaus Ridder (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22) Berlin-New York: Walter de Gruyter 2000. 460 S. Geb. EUR (D) 138,-.
    ISBN 3-11-016316-0.


Fast sämtlichen der in diesem stattlichen und gut aufgemachten Band versammelten 18 Beiträge ist anzumerken, daß sie aus der aktuellen Forschung ihrer Verfasser hervorgehen. Das macht sie spannend und lehrreich. Sie alle im gegebenen Rahmen ausführlich zu besprechen, ist nicht möglich. Ohne anderes hintansetzen zu wollen, beschränke ich mich auf Beispiele, mit denen ich hoffe, Neugier auf das Studium des ganzen Bandes zu wecken.

Vorab zu nennen ist eine weitausholende Abhandlung von UTE SCHWAB über "Die vielen Kleider der Passion: ihr Wechsel im >Tatian<, im >Heliand< und auf dem Ruthwell Cross" (S. 207–259). Es geht um den in den Passionsberichten der Evangelien überlieferten mehrfachen >Kleiderwechsel< Jesu: So wird dem Verurteilten das eigene Gewand ausgezogen, und man kleidet ihn zur Verspottung in einen purpurnen Mantel, als wäre er tatsächlich der >König der Juden<. Dann erhält er die eigenen Kleider zurück, die ihm jedoch vor der Kreuzigung abermals genommen werden – die Frage ist, wie die Dichter das darstellerisch bewältigen, vor allem: was sie darin, was sie >dahinter< gesehen und in welchen Traditionen sie dabei gestanden haben. Wenn Ute Schwab ihre gelehrten Ausführungen dem Andenken an Frederick P. Pickering widmet, so ist das mehr als eine schöne Geste: Sie weiß sich dem englischen Gelehrten verpflichtet, der vor einem halben Jahrhundert mit wichtigen Arbeiten den Weg zum Verständnis christlichen Erzählstoffes gewiesen hat.

Vor allem im Blick auf Formenlehre und Endsilbenvokalismus verfolgt THOMAS KLEIN die sich in den Pariser Gesprächen niederschlagenden >lernersprachlichen Eigentümlichkeiten< ("Zur Sprache der Pariser Gespräche", S. 38–59). – JOCHEN SPLETT macht "Einige Bemerkungen zur Rolle der Motivation im Rahmen der Strukturierung des althochdeutschen Wortschatzes" (S. 60–76), wobei er lexikographische Werke von Eberhard Gottlieb Graffs Althochdeutschem Sprachschatz über das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm bis hin zu seiner eigenen Konzeption im Auge hat.

Vor dem Hintergrund seiner eingehenden Kenntnis nicht-lateinischer Schriften und Zeichen geht ELMAR SEEBOLD den seit dem 8. Jahrhundert in lateinischen Handschriften begegnenden sogenannten Manuskript-Runen nach, die auf dem Kontinent zufrühest in Nordfrankreich überliefert werden und bei deren Vermittlung und Weitervermittlung an Iren zu denken ist ("Die Iren und die Runen. Die Überlieferung fremder Schriften im 8. Jahrhundert als Hintergrund zum ersten Auftreten von Manuskript-Runen", S. 10–37).

In einem vorwiegend von geistlicher Thematik bestimmten Schrifttum hat naturgemäß der terminologisch aufgefächerte Begriff der >superbia< einen besonderen Platz. Seine Wiedergaben im Althochdeutschen und Altsächsischen untersucht in breiter Analyse CHIARA STATI ("Das Wortfeld der superbia in der frühdeutschen Überlieferung", S. 143–188). – Mit "Vortragsformen und Vortragsbedingungen in einer mündlichen Kultur im Frühmittelalter" (S. 1–9) befaßt sich MICHAEL RICHTER. Ich gestehe, daß ich mit diesem Aufsatz nicht zurechtkomme, denn ich erkenne nicht, wo der Verfasser auf bislang unbekanntes Gebiet vorschreitet.

Glossenforschung

Seit Jahrzehnten leistet ROLF BERGMANN Bedeutendes für die Glossenforschung. Er hat wie kaum jemand anders einen Überblick über die große Zahl an glossentragenden Handschriften, und von daher verstehen sich seine Bemühungen, die schwer überschaubare Masse zu ordnen und zu typisieren. Mit seinem Aufsatz im vorliegenden Band ("Ansätze zu einer Typologie der althochdeutschen Glossen- und Glossarüberlieferung", S. 77–104) führt er von ihm schon früher Vorgelegtes fort. Abbildungen von 13 ausgewählten Handschriften machen auf instruktive Weise deutlich, daß die gängigen überlieferungsbezogenen Typisierungen der Glossen, ihre Einteilung etwa in Interlinearglossen, Marginalglossen und Kontextglossen, einer wesentlich differenzierteren Überlieferungswirklichkeit nur bedingt gerecht werden können. Hier spielt natürlich der grundsätzlich individuelle Charakter mittelalterlicher Handschriften eine wichtige Rolle: Es gibt kaum eine Handschrift, die in Anlage, Format, Zuschnitt, Einrichtung und dergleichen einer anderen völlig gleicht. Selbst dann nicht, wenn es sich um die Tradierung gleicher Texte handelt. Das ist unabhängig davon, ob in einer Handschrift Glossen oder Glossare enthalten sind, gilt aber selbstverständlich auch für solcherlei Handschriften.

Für eine Typisierung glossentragender Handschriften wichtig ist der Hinweis Rolf Bergmanns, zwischen Handschriften, in denen Glossierungen irgendwann von irgendwelchen Benutzern vorgenommen worden sind, und solchen zu scheiden, aus deren Anlage bereits eine beabsichtigte Glossierung des Basistextes hervorgeht. Dabei ist es prinzipiell unerheblich, ob es sich um eine geplante lateinische oder um eine volkssprachliche (althochdeutsche) Glossierung des (jedenfalls lateinischen) Basistextes handelt. Eine von vornherein ins Auge gefaßte Glossierung wird sich unter anderem in der Beachtung eines größeren Zeilenabstandes für den Eintrag des Basistextes dokumentieren. Rolf Bergmann bringt hierfür lehrreiche Beispiele. Bestes Beispiel wäre wohl die Interlinearversion der Benediktinerregel, die bereits als >Projekt< so geplant war, was sich in der Handschriftengestaltung entsprechend niedergeschlagen hat. 1 Auch andere literarische Texte, etwa die sogenannten Murbacher Hymnen lassen sich hierfür anführen.

In einem interessanten und in seinen Ergebnissen überzeugenden Aufsatz über "Deutsche Glossen. Zum Stellenwert der Volkssprache bei der Erschließung lateinischer Klassiker" (S. 387–413) führt NIKOLAUS HENKEL frühere Studien fort. An sehr einleuchtenden Beispielen, die er Glossierungen von Horaz, Vergil, Ovid, Persius und Lucan in Handschriften des 9.-12. Jahrhunderts entnimmt, demonstriert er die vielfältige Funktionalität solcher Glossierungen, die sich nicht etwa auf simple >Übersetzungen< beschränken und unter denen volkssprachige (althochdeutsche) Glossierungen die Minderheit bilden. Die Glossierung reflektiert einen komplexen Prozeß der Texterschließung und steht in der Regel am Ende eines solchen Prozesses, dessen Einzelheiten – etwa mündliche Diskussionen und dergleichen – für uns naturgemäß nicht mehr greifbar sind, aber grundsätzlich mitgedacht werden müssen.

Zwei Hinweise scheinen mir besonders bedenkenswert: Es gibt zahlreiche althochdeutsche Glossenwörter wie etwa >zuo-ambahtan< für lat. >ad-ministrare< oder >untar-ambahtan< für lat. >sub-ministrare< und dergleichen (vgl. S. 403 f.), bei denen – so Nikolaus Henkel – es überhaupt nicht darum geht, ein dem lateinischen entsprechendes neues, sozusagen echtes Wort zu schaffen, sondern die lediglich dazu dienen sollen, im Rahmen des genannten Aufarbeitungsprozesses des lateinischen Textes die Bildungsweise lateinischer Komposita einsichtig zu machen (man vgl. S. 403 f.). Und das andere: Die althochdeutsche Glosse muß nicht unbedingt die Übersetzung eines darunter stehenden lateinischen Wortes sein, sondern kann auch das für uns greifbare Ergebnis weitreichender Interpretationszusammenhänge und mithin sozusagen >Stichwort< für die Wiederholung derartiger Überlegungen sein (vgl. S. 404–412). Daraus ergeben sich Folgerungen für die Ansetzung von Wortbedeutungen.

Übersetzen im Althochdeutschen

Um Übersetzungen, Übersetzungstypen und Abgrenzungen geht es KLAUS RIDDER und JÜRGEN WOLF ("Übersetzen im Althochdeutschen: Positionen und Perspektiven", S. 414–447). In ihrer Auseinandersetzung mit teils kontroversen Forschungspositionen wird deutlich, wie in letzter Zeit zunehmend und mit Recht nach der fallweisen Funktion von Übersetzung gefragt wird, die ihr etwa im Schulbetrieb zukam, wie ihr hieraus resultierendes grundsätzliches Verhältnis zum lateinischen Basistext zu verstehen ist – z. B. ob sie diesen letztendlich und in irgendeiner Form >ersetzen< will oder ob sie lediglich Instrument zum Verständnis des lateinischen Textes ist. Klaus Ridder und Jürgen Wolf ergänzen in dieser Hinsicht insbesondere die Beiträge in diesem Band von Rolf Bergmann und Nikolaus Henkel.

Die prinzipiell andere Position, die der althochdeutschen Übersetzung gegenüber ihrem lateinischen Ausgangstext zukommt, ist richtig erkennbar erst beim Blick in die jeweiligen Handschriften. Das hätte hier vielleicht etwas mehr hervorgehoben werden sollen. So bekommt man in dieser Hinsicht ein >Aha-Erlebnis< etwa, wenn man die Handschrift des althochdeutschen Tatian (Cod. Sang. 56) auf sich wirken läßt. Aber auch die Handschrift der althochdeutschen Benediktinerregel ist hierfür ein gutes Beispiel wie auch die der Murbacher Hymnen. Von diesen Handschriften aus verbietet sich meiner Meinung nach auch, eine Dichtung wie Otfrids von Weissenburg Evangelienbuch als Übersetzungsliteratur zu betrachten (man vgl. S. 433 f.); das kann nur zu Schiefheiten führen.

Direkt anzuschließen ist hier schließlich noch der Beitrag von ANNA A. GROTANS, "Utraque lingua: Latein- und Deutschunterricht in Notkers St. Gallen?" (S. 260–275). Die Verfasserin fragt nicht nur, wie man sich den seinerzeitigen Schulunterricht unter Notkers Leitung in St. Gallen konkret vorzustellen habe, sondern sie fragt konsequent weiter, was daraus für Notkers Arbeitsweise zu folgern ist. Als Konsequenz schlägt sie unter anderem vor, die berühmten Akzentsetzungen nicht nur unter linguistischen Aspekten zu sehen, vielmehr als pragmatische Anweisungen für das richtige laute (Vor-)Lesen der Schüler zu nehmen. Auch der Gebrauch der Muttersprache muß demnach >richtig< sein, selbst wenn es Notker nach eigenen Worten letztendlich – und selbstverständlich – darum ging, das Verständnis der lateinischen Texte zu befördern. Die Ausführungen von Anna A. Grotans geben Anstoß zu weiteren Überlegungen.

Otfrid von Weissenburg

Seit rund vier Jahrzehnten befaßt sich WOLFGANG KLEIBER mit Otfrid von Weissenburg. Schon im Jahre 1971 erhob er am Ende seines wichtigen Otfrid-Buches 2 die Forderung nach einer "neuen Großen Otfrid-Ausgabe" (man vergleiche dort S. 338–340), da seine Überprüfung der "Tragfähigkeit der alten Fundamente" (S. 28) zu beunruhigenden Ergebnissen geführt hatte. Nach seither verstrichenen ferneren dreißig Jahren gilt das um so mehr. Jetzt allerdings, mit weitergereiften Zielsetzungen wie aktuellen methodischen Ansätzen und nach der Entbindung Wolfgang Kleibers vom universitären Amt, hat seine alte Forderung nach einer neuen Otfrid-Ausgabe in einem großen, zusammen mit Ernst Hellgardt betriebenen Projekt Gestalt angenommen und wird hoffentlich bald beendet werden können.

In diesen Zusammenhang gehört auch Wolfgang Kleibers Beitrag "Zur Graphematik und Lexik in den Otfridhandschriften VP" im vorliegenden Band (S.118–142), in dem er auch einmal mehr seine exzellenten sprachgeographischen Kenntnisse in den für Otfrid relevanten Dialektgebieten zeigt. Wenn Wolfgang Kleiber freilich formuliert, "Eine künftige Otfrid-Grammatik hat die individuellen Schreibanteile in VP und die autographischen Textteile und Korrekturen Otfrids in V gesondert zu beschreiben" (S. 137), also praktisch drei Grammatiken zu erarbeiten (man vgl. auch S. 123), so ist das eine für Wolfgang Kleibers an sich selbst und andere gestellte Ansprüche kennzeichnende Maximalforderung, die wahrscheinlich niemals erfüllt werden wird.

Althochdeutsche Liebeslyrik

Daß es in vorliterarischer Zeit neben mancherlei anderer Lyrik auch >Liebeslyrik< gegeben hat, ist als gewiß anzunehmen; daß solcherlei Lyrik buchstäblich verklungen ist, hat seine Ursache sicher nicht nur in kirchlicher Sinnenfeindlichkeit. Die soll nicht bestritten werden, und die bekannten Bedingungen früher Schriftlichkeit tun ein übriges. Davon abgesehen aber strebt nicht alles aufs Pergament, und was hier in Frage steht, manches war außerliterarisch und blieb das auch grundsätzlich.

CYRIL EDWARDS ("winileodos? Zu Nonnen, Zensur und den Spuren der althochdeutschen Liebeslyrik", S. 189–206) verfolgt die geringfügigen und eher zufälligen Spuren, nach Meinung des Rezensenten mit wenig Erfolg, was neue Aspekte angeht: Die geheimnisumwitterten >winileodos< vom Jahre 789 meinen sicher keine Liebeslieder, auch wenn das immer mal wieder zu zeigen versucht wird; die sogenannten St. Galler Spottverse des Cod. Sang. 30 (>liubene ersazta sine gruz< 3) sind keine Liebeslyrik; der Charakter des im Cod. Sang. 105, S. 1 marginal überlieferten Eintrags >ueru. taz. ist spiz< 4 ist nicht klar. Es bleibt also das neckisch-obszöne Ohrgeflüster von >Hirsch und Hinde< 5, und ob das nun für die Liebesdichtung in althochdeutscher Zeit kennzeichnend ist, darf man bezweifeln.

Sprachstadienlexikographie

Mit einem immer wieder diskutierten, entschiedenen und erneut hinterfragten Problem beschäftigt sich KURT GÄRTNER: Wann endet die Zeit des Althochdeutschen, wann beginnt das Mittelhochdeutsche? ("Althochdeutsch oder Mittelhochdeutsch? Abgrenzungsprobleme im Bereich der Glossenliteratur und ihre Bedeutung für die Sprachstadienlexikographie", S. 105–117). Abgesehen von der Grundsätzlichkeit dieser Frage geht es für Kurt Gärtner um ganz praktische Konsequenzen, die sich aus fallweisen und möglichen Antworten ergeben. Es geht ihm um Grenzziehungen bei der Ausarbeitung des neuen großen Mittelhochdeutschen Wörterbuchs.

Für fast alle literarischen Texte ist die Zuordnung völlig problemlos. Doch es gibt auch Ausnahmen, so Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Traditionell dem frühen Mittelhochdeutschen zugewiesen, ist er – mit guten Gründen – von Rudolf Schützeichel als (spät-)althochdeutsch eingestuft worden und dementsprechend in die 5. Auflage seines Althochdeutschen Wörterbuches eingegangen. 6 Kurt Gärtner (S. 107f.) verweist hingegen darauf, daß "der Überlieferungsschwerpunkt des Werkes in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts und im 12. Jahrhundert liegt" (S. 107) und folglich auch hier erst die Rezeption des Textes sowie die Auseinandersetzung mit ihm einsetzt. Wenn daher Willirams Werk von den Lexikographen des Althochdeutschen möglicherweise beansprucht werden könne, so müsse er jedenfalls von denen des Mittelhochdeutschen berücksichtigt werden (man vergleiche S. 8).

Als eigentliches Problem sieht aber Kurt Gärtner die seiner Meinung nach ungerechtfertigt pauschale Zuweisung von Glossen und Glossaren mit Überlieferungsschwerpunkt im 12. Jahrhundert zum Althochdeutschen. Insbesondere wendet er sich gegen das Argument vom >althochdeutschen Lautstand< solcher Glossen und Glossare, bei dem "es sich durchaus auch um eine etablierte Schreibtradition handeln" könne, "die nicht das direkte Abbild einer aktuellen Sprechsprache des 11. oder 12. Jahrhunderts zu sein braucht" (S. 111). So einfach ist das allerdings nicht, ganz abgesehen davon, daß auch im 9. Jahrhundert beispielsweise bei den Schreibern des althochdeutschen Tatian zwischen dem von ihnen geschriebenen althochdeutschen Text und ihrer "aktuellen Sprechsprache" deutliche Differenzen vorhanden waren.

Zweisprachigkeit
bei Hildegard von Bingen

Aufschlußreich ist der Beitrag von REINER HILDEBRANDT über "Die pragmatische Zweisprachigkeit in den naturkundlichen Schriften der Hildegard von Bingen" (S. 276–289). Abseits ihres mystischen Schrifttums erweist sich Hildegard in ihren >weltlichen< Schriften als "naturkundlich-medizinische Pragmatikerin und diktiert als solche in einer lateinisch-deutschen Mischsprache" (S. 277).

In derart allgemeiner Formulierung mag das etwas mißverständlich sein, aber was Reiner Hildebrandt – in Auseinandersetzung auch mit älteren Forschungsmeinungen anhand sehr instruktiver Beispiele erläutert, ist folgendes: Wenn die Autorin beispielsweise bestimmte Krankheiten erwähnt oder Krankheitssymptome beschreibt oder die Einnahme eines Heilmittels empfiehlt und dergleichen, so geschieht dies in leicht faßlichen lateinischen Sätzen. Der entscheidende Begriff aber – der Name der Krankheit, des Krankheitssymptoms, des anzuwendenden Mittels – der wird auf deutsch gegeben. Und diese deutschen Ausdrücke – auch das vermag Reiner Hildebrandt sehr schön zu dokumentieren – sind vielfach buchstäblich >heimatlich<, das heißt, sie sind in dem Dialektgebiet, dem Hildegard entstammt und in dem sie eben auch "intime Heimatkenntnis" (S. 285) besitzt, verankert.

Frage der >gens<
in frühmittelalterlicher Zeit

"Gentes et linguae. Völker und Sprachen im Ostfränkisch-deutschen Reich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen" lautet der Beitrag von HANS-WERNER GOETZ (S. 290–312), in dem es freilich um Sprachliches mehr am Rande geht oder – vielleicht besser gesagt – insoweit, als der Verfasser aufzuzeigen vermag, daß die Sprache als konstitutives Element dessen, was eine >gens< ausmacht, in den von ihm herangezogenen Quellen nicht die Rolle spielt, die man ihr früher zugeschrieben hat oder noch immer gern zuschreibt.

>Stämme< oder >Völker< als gentile Gemeinschaften, verbunden unter anderem durch gemeinsame Abstammung und eben auch gemeinsame Sprache – das sind Vorstellungen, die von der Forschung schon vor Jahrzehnten als unzutreffend erwiesen wurden, unabhängig davon, ob sich solche Erkenntnisse bis heute überall durchgesetzt haben. Dabei verraten ja in der Tat bereits die (Selbst)Benennungen der deutschen Groß>stämme< – Sachsen, Franken, Alemannen, Langobarden und Bajuwaren –, daß es sich hier um keine >alten< Namen handelt, vielmehr um offenbar identitätsstiftende Selbstbezeichnungen sekundär entstandener Gemeinschaften, in denen sich Kleingruppen, versprengte Trümmer in den Kämpfen der Völkerwanderungszeit untergegangener Völkerschaften und dergleichen an ethnische Kerne angeschlossen haben und mit diesen schließlich zu (überlebensfähigen!) neuen Kampf- und Siedlungsverbänden zusammengewachsen sind. Und bis zu der hier in Frage stehenden Zeit kann sich dann wieder ein >Stammesbewußtsein< herausgebildet haben. Die Dinge befinden sich also in fortwährender Entwicklung, und damit steht wieder die Frage der >gens< in frühmittelalterlicher Zeit beziehungsweise die Frage, wie sie in frühmittelalterlichen Quellen wahrgenommen wurde.

So interessant das ist, was sich hier erkennen läßt, so darf man natürlich nicht vergessen, daß die Autoren in bestimmten historiographischen und literarischen Traditionen stehen, die auf ihre Ausdrucksweise und Terminologie einwirken. Man kann das nicht unbedingt auf die Menschen und ihre möglicherweise hautnah empfundenen Bindungen übertragen. Im übrigen vollzieht sich – nicht nur heutzutage – das >Gefühl< von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit auf verschiedenen Ebenen, die sich oft und fallweise (beispielsweise bei bestimmten Anlässen) ebenso durchdringen wie abgrenzen. Auf unterster Ebene ist jeder Kirchturm für die um ihn herum Wohnenden identitätsstiftend.

Das gilt auch für die sprachliche Seite. Wenn Hans-Werner Goetz (um wieder auf die Karolingerzeit zurückzukommen) etwa sagt, daß im Blick auf die Sprache Differenzierungen zwischen den verschiedenen >gentes< nur gelegentlich begegnen (vgl. S. 303), "wie bei Otfrid (I,1,31 ff.), wo den Franken eine eigene Sprache zugeordnet wird" (ebda), so ist das schief, denn für Otfrid von Weissenburg als Franken steht außer Frage, daß er fränkisch spricht und schreibt, wenn er – so die lateinische Überschrift des angezogenen Kapitels – >theodisce< – >in der Volkssprache< dichtet. Und darauf ist er stolz. Die lateinische Sprachbezeichnung >theodiscus< – >volkssprachlich< – ist also für einen Franken natürlicherweise seine fränkische Sprache, meint für einen Bayern hingegen bairisch und so fort. Immer im Gegenüber zum Lateinischen der Gelehrten wie andererseits der Volkssprache der Romanen, der Walschen, wie diese schon im 9. Jahrhundert in bewußter Abgrenzung genannt werden. Und dieses gemeinsame Gegenüber eint alle >theodisk<-Sprechenden. Doch das läßt sich deutlicher erst für eine etwas spätere, hier nicht mehr zur Diskussion stehende Zeit zeigen.

Ludwig "der Deutsche"

Daß der ostfränkische König Ludwig der Deutsche so wenig ein >Deutscher< war wie sein in Westfranken herrschender Bruder Karl ein >Franzose<, sollte eigentlich für jedermann klar sein. Gleichwohl ist es in französischer wie deutscher Geschichtsdarstellung bis heute nicht unüblich, modernes, nationales Identitätsbewußtsein bei den fränkischen Königen des frühen 9. Jahrhunderts beginnen zu lassen.

Was speziell Ludwig den Deutschen angeht, so taucht dieser Beiname, wie DIETER GEUENICH in dem gleich zu nennenden Aufsatz (S. 317 Anm. 19) anmerkt, erst im späten 18. Jahrhundert auf, ist dann vor allem im 19. Jahrhundert Ausdruck falschen Nationaldenkens und als Beiname eines fränkischen Königs des 9. Jahrhunderts jedenfalls unangemessen. Hingegen sind zum Teil ja wenig schmeichelhafte Beinamen wie Pippin der Kurze, Karl der Kahle, Karl der Dicke und dergleichen bereits in der Karolingerzeit selbst gebräuchlich, zumindest mittelalterlich. Das jederzeit klar zu stellen, ist wichtig; eine heute eingebürgerte Apostrophierung, auch wenn sie sachlich nicht berechtigt ist, auszumerzen, im vorliegenden Fall also etwa nur noch von Ludwig II. zu sprechen, wäre eine andere Sache, in ihrer rigorosen Konsequenz dann vielleicht wirklich >typisch deutsch<.

Dieter Geuenich, der schon manche schiefe Vorstellung in wohltuender Weise hinterfragt und zurechtgerückt hat, tut das auch in diesem Band. In seinem Beitrag "Ludwig >der Deutsche< und die Entstehung des ostfränkischen Reiches" (S. 313–329) macht er deutlich, daß einerseits – der in Aquitanien (!) geborene und aufgewachsene – Ludwig von seinem östlichen Teilreich aus mit seinen Ambitionen nie den Blick auch auf das westliche Franken aufgab, mithin das Gesamtreich der Francia im Auge behielt, und daß andererseits bei ihm auch keinerlei "Aktivitäten erkennbar sind, die auf ein >Sonderbewußtsein< im östlichen Teilreich abzielten" (S. 318).

Das ist nicht ohne Folge für die Einschätzung Ludwigs des Deutschen im Blick auf die althochdeutsche Literatur. Man hat zuweilen den Eindruck, daß die Rolle, die man lange Zeit Karl dem Großen und einem angeblich von seinem herrscherlichen Willen getragenen kühnen bildungspolitischen Konzept glaubte zuweisen zu können, jetzt für Ludwig den Deutschen in Anspruch genommen wird: Ludwig als Schlüsselfigur eines zentral gesteuerten kulturpolitischen Programms, Ludwig als der große Anreger, Auftraggeber und Förderer volkssprachiger Literatur zur Stärkung ostfränkischen Selbst- und Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch von solchen Vorstellungen muß man lassen, sagt Dieter Geuenich, und dem ist zuzustimmen.

Sagentradition
in historiographischen Werken

Zwei Aufsätze gelten der Heldensage: WOLFGANG HAUBRICHS, "Ein Held für viele Zwecke. Dietrich von Bern und sein Widerpart in den Heldensagenzeugnissen des frühen Mittelalters" (S. 330–363) sowie STEPHAN MÜLLER, "Helden in gelehrten Welten. Zu Konzeption und Rezeption der Heldensagenpassagen in den Quedlinburger Annalen" (S. 364–386). Auch wenn beide in unterschiedliche Richtungen ausgreifen, so haben sie doch weithin gleiche Perspektiven. Es geht um den Einbau von Sagentradition in historiographische Werke, um "die Anbindung von memoria der Helden an bestimmte Orte in lokaler Sage" (S. 337), wo dann fallweise ihre Anwesenheit bezeugt wird oder auch ihre angeblichen Gräber gezeigt werden. Es geht um die Verbiegung, oder besser: um die Zurechtbiegung von heldischen Gestalten für bestimmte Ziele.

Allgemein bekanntes Beispiel sind die Berichte von der göttlichen Strafe für den ketzerischen Theoderich, die sich im Rahmen kirchlicher Polemik herausgebildet haben. Wobei es hier, zumindest zunächst, klarerweise noch um den historischen Theoderich und nicht um >Dietrich von Bern< geht. Auch wenn Karl der Große das Reiterstandbild Theoderichs aus Ravenna nach Aachen schaffen und dort aufstellen ließ, so ist das etwas anderes, als wenn der Verfasser der Quedlinburger Annalen dem großen Gegenspieler Dietrichs von Bern, Odoakar, einen Platz im Exil anweist, der in seinem >ottonischen< Gesichtsfeld liegt, nämlich dort, wo die Saale in die Elbe mündet. Mit dieser Lokalisierung wird eine alte und zur Zeit der Abfassung dieser Quedlinburger Annalen auch noch bewußte Grenzlinie nach Osten aufgerufen: Die Saale herunter und ab deren Mündung in die Elbe dann weiter elbabwärts. Von der Saalemündung sind es nur wenige Kilometer bis Magdeburg, und da ist man bei Kaiser Otto I. Gestalten der Heldensage werden also vereinnahmt, lokal integriert, dienen der Legitimierung eigener Ansprüche und Positionen und dergleichen mehr. Und erhalten in den unterschiedlichen chronikalischen Werken fallweise andere Akzentuierungen.

Über die reiche Belehrung hinaus, die man aus dem Studium des vorliegenden Buches zieht, geben die Beiträge mancherlei Anstöße zum weiteren Durchdenken hier angesprochener Probleme.


em. o. Univ. Prof. Dr. Achim Masser
Universität Innsbruck
Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik
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A - 6020 Innsbruck
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Ins Netz gestellt am 27.04.2003
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Anmerkungen

1 Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916. Hg. von Achim Masser (Studien zum Althochdeutschen 33) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997.   zurück

2 Wolfgang Kleiber: Otfrid von Weissenburg. Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung und Studien zum Aufbau des Evangelienbuches, Bern und München: Francke 1971; dazu u.a. A. Masser, ZfdPh 94 (1975) S. 118–123.   zurück

3 Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, hg. von Elias von Steinmeyer, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1916 (unveränd. Nachdruck Berlin / Zürich 1963), Nr. LXXXII, 2, S. 401.   zurück

4 Ebenda, Nr. LXXXII, 1, S. 401.   zurück

5 Ebenda, Nr. LXXIX, S. 399.   zurück

6 Rudolf Schützeichel: Althochdeutsches Wörterbuch. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer 1995. – Rudolf Schützeichel und Birgit Meineke (Hg.): Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition – Übersetzung – Glossar. Redaktionelle Gestaltung: Dieter Kannenberg. Mit sieben Abbildungen (Studien zum Althochdeutschen 39) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001; dazu A. Masser, Zeitschrift für katholische Theologie 3 (2002), S. 330–332.   zurück