Matuschek über Hart Nibbrig: Walter Benjamin

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Stefan Matuschek

Mimikry

Kurzrezension zu
  • Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Übersetzen: Walter Benjamin. (edition suhrkamp; 2041) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2001. 422 S. Kart. EUR (D) 15,-.
    ISBN 3-518-12041-7.


Übersetzungen des Titels

Dass der Doppelpunkt im Titel mehrdeutig ist, darf hier als selbstverständlich gelten. Hauptsächlich kann man wohl drei Varianten unterscheiden:

  1. liest man den Doppelpunkt als Ankündigung des Objekts. Walter Benjamin ist dann als Akkusativ zu nehmen, ihn zu übersetzen heißt, sein Werk einer fremdsprachigen, oder – in weiterer Perspektive – einer zeitlich entfernten Leserschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts zu vermitteln.

  2. liest man ihn als Spezifizierung. Der Name schränkt dann den voranstehenden Begriff ein, so dass der Band auf das zielt, was Benjamins Werk zum Thema Übersetzen bietet.

  3. liest man ihn als Gleichheitszeichen. Der Titel formuliert dann das Programm, Benjamins Werk grundsätzlich aus dem Thema Übersetzen zu erschließen. Dass es um alles drei geht, sagen der Klappentext und das Vorwort des Herausgebers, ohne dabei allerdings so pedantisch zu unterscheiden.

Der Band versammelt sechzehn Beiträge, die schon im Jahre 1993 auf einem internationalen Kolloquium der Universität Lausanne gehalten wurden. Die Mehrheit von ihnen, die ersten zehn nämlich, halten sich hauptsächlich an zwei Benjamin-Texte: an die Abhandlung "Die Aufgabe des Übersetzers" als naheliegende Hauptreferenz des gesamten Bandes sowie an die Studie "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" Es folgen je zwei Beiträge zu Benjamins Baudelaire- und Proust-Übersetzungen. Die letzten beiden greifen einmal, was bei Benjamin nicht abwegig ist, ins Barock aus und ziehen das andere Mal noch Benjamins "Lehre vom Ähnlichen" hinzu. Soweit ganz grob zum Gegenstandsbezug.

Von Benjaminianern für Benjaminianer

Was die drei Verstehensvarianten des Titels betrifft, so liegt der Akzent eindeutig auf der dritten. Es dominiert der Anspruch, vom Thema Übersetzen aus über Benjamin überhaupt zu reden. Die einzige Ausnahme bildet hier der Beitrag von Sigrid Weigel. Sie sieht Benjamins Übersetzungskonzept als vorläufige Stufe seiner Theoriebildung an, die schließlich durch ein Theoriemodell der Lektüre ersetzt werde ("Die Lektüre, die an die Stelle der Übersetzung tritt. Benjamins psychoanalytische Reformulierung seiner Theorie der Sprachmagie", S. 236–252). Die erste Titelvariante wird immerhin von einem Beitrag vertreten, der aus den Schwierigkeiten englischer Benjamin-Übersetzungen eine Stilstudie zu Benjamins Syntax beginnt (Susan Bernofsky: "Lesenlernen bei Walter Benjamin", S. 268–279). Die weitere Perspektive dieser ersten Verstehensvariante, die eine Distanz zwischen Benjamin und einem aktuellen Wissenschaftsbewusstsein sähe und sich um Vermittlung kümmerte, kommt so gut wie gar nicht zur Sprache. Es ist ein Buch von Benjaminianern für Benjaminianer.

Die zweite Variante, die von einem eigenen Problembewusstsein der Übersetzungstheorie ausginge und nach Benjamins spezifischem Beitrag dazu fragte, ist ebenso schwach entwickelt. Es ist ein Buch über Benjamin. Eine dessen Werk verlassende, eine alternative oder selbständigere Perspektive auf das Thema Übersetzen gibt es (auch dort, wo es anfangs so klingt wie in Alexander García Düttmanns Beitrag "Von der Übersetzbarkeit", S. 131–146) hier nicht.

Der interessanteste Beitrag ist der von Werner Hamacher ("Intensive Sprachen", S. 174–235). Er stellt die Übersetzungstheorie als Kern von Benjamins sprachphilosophischer Kant-Kritik dar. Benjamins Vorstellung, dass allen Einzelsprachen eine gemeinsame Tendenz auf eine – messianisch als Heilsperspektive gedachte – "reine Sprache" innewohne und dass jede Übersetzung auf dieses Ziel vorgreife, führt Hamacher strukturell auf Kants antizipatorisches Modell der Wahrnehmung zurück, um sie dann als eine sprachphilosophische Ersetzung des kantischen Subjekt-Objekt-Schemas zu deuten: "Die Kantische Subjekt-Objekt-Relation hat sich bei Benjamin in ein zwischensprachliches und weiterhin innersprachliches Verhältnis verwandelt." (S. 197) Damit einher gehe Benjamins Neubegründung des Erfahrungsbegriffs, der – in größter Distanz zum neuzeitlichen Rationalismus und in Anlehnung an den mittelalterlich-theologischen Stufenkosmos – ein von materieller Gegenständlichkeit bis zur religiösen Offenbarung reichendes sprachlich-geistiges Erfahrungs- und Erkenntniskontinuum annimmt (vgl. S. 217).

Was einerseits als metakritische "Transformation des Kantischen Transzendentalismus" (S. 190) erscheint, zeigt Hamacher damit andererseits in seiner sprachtheologischen Dimension. Die Spannung zwischen Metakritik und Metaphysik, d.h. Benjamins Vermögen, sprachmystische Tradition als Alternative und Kritik zur Subjektphilosophie und auch zu zeitgenössischen sprachphilosophischen Positionen wiederzubeleben, wird hier nicht zum ersten Mal beschrieben. Doch gibt Hamacher präzise neue Belege dafür.

"Sigetik"

Die Tatsache, dass nun keine Liste weiterer ähnlich interessanter Beiträge folgt, hat mit einer Eigenschaft dieses Buches zu tun, der man auch in Hamachers Beitrag begegnet. Bei ihm tritt sie punktuell einmal so anschaulich hervor, dass diese Stelle als Beispiel dienen kann. Es ist der Neologismus "Sigetik", mit dem Hamacher Benjamin von den phänomenologischen und den logisch-positivistischen Sprachtheorien seiner Zeitgenossen abgrenzt: "Benjamins Übersetzungstheorie, das Herzstück seiner Sprachphilosophie, ist keine Logik der sprachlichen Phänomene, sondern ihrer Aphanasis, sie ist eine Sigetik." (S. 234)

Man kann zugeben, dass der Neologismus ein geeignetes Mittel ist, um die philosophiegeschichtliche Einzelgänger-Position Benjamins zu markieren. Und wer Adornos Meinung über die "Wörter aus der Fremde" teilt, stimmt ohnehin zu. Dieser Neologismus aber, der einen nach dem griechischen Schulwörterbuch suchen lässt, erklärt wenig. Benjamins Übersetzungstheorie: eine Schweigenslehre? Oder vielleicht: eine Lehre vom Verschwiegenen? Eine Geheimlehre? Man versteht, dass Hamacher hier den Gegensatz zur Phänomenologie und zum logischen Positivismus ausdrücken will. Seine griechische Lösung aber bleibt in der Sache eher oberflächlich. Eindrucksvoll ist sie nur durch ihre gelehrte Nonchalance, als Geste esoterischen Verständnisses. Damit wechselt der Beitrag hier von der Beschreibung und Erörterung zur Nachahmung der Benjaminschen Position, bietet er Mimikry statt Analyse.

Viel Anlehnung, wenig Distanz

Es kommt mir so vor, als sei dies der Charakter der meisten Beiträge in diesem Band. Benjamin wird mehr nachgeahmt, als dass der thematische Zugriff auf sein Werk zu einer aktuellen Diskussion führte. Man findet sehr viel Anlehnung, aber wenig Distanz. Eine Ausnahme macht der – und das ist dabei vielleicht kein Zufall – aus dem Französischen übersetzte Beitrag von Beryl Schlossman ("Pariser Treiben", S. 280–312), der aus eigener komparatistischer Raison Benjamins und Georges Übersetzung von Baudelaires Sonett "A une passante" vergleicht. Eine Ausnahme ganz anderer Art macht der Aufsatz von Irving Wohlfarth (S. 80–130). Er bietet, obwohl es sein Titel "Das Medium der Übersetzung" nicht zu erkennen gibt, eine sehr klare und gelungene Beschreibung von Benjamins Übersetzungstheorie, die auch deren Entwicklung "von jüdischer Theologie zum historischen Materialismus" (S. 120) verfolgt. Er schert damit als exoterischer Text aus dem sonst geschlossenen Gemeindezirkel dieses Bandes aus.

Am Ende der Lektüre dominiert der Eindruck, dass hier zu viele zu flüssig und selbstverständlich benjaminisch sprechen, als dass sie sich ernsthaft ums Übersetzen sorgten. Passender wäre es deshalb, wenn der Buchtitel seine Interpunktion änderte: Übersetzen? Walter Benjamin!


Prof. Dr. Stefan Matuschek
Schiller-Universität Jena
Institut für Germanistische Literaturwissenschaft
Fürstengraben 18
D-07743 Jena
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Ins Netz gestellt am 10.12.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Uwe Steiner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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