May zu Rilke und den Krisen der Moderne

IASLonline


Markus May

Rezeption und Rettung?
Zwei neue Studien zu Rilke
und den Krisen der Moderne

  • Hans Richard Brittnacher / Stephan Porombka / Fabian Störmer (Hg.): Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den >Weltinnenraum<. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 264 S. Kart. EUR (D) 35,-.
    ISBN 3-8260-1832-X.
  • Tanja Dembski: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; 294). Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 452 S. Kart. EUR (D) 66,-.
    ISBN 3-8260-1723-4.


Rilke und die Moderne

Eine der persistentesten und zentralsten, aber auch komplexesten Fragestellungen, welche die Rilke-Forschung seit ihren Anfängen, mit Vehemenz aber vor allem seit ihrem Neubeginn etwa Anfang der sechziger Jahre um- und nicht selten vorantreibt, ist die nach Rilkes Position innerhalb des Diskursensembles, welches gemeinhin mit dem Etikett >literarische Moderne< versehen wird. Die Schwierigkeiten sind dabei auf verschiedenen Ebenen situiert, welche auch die jeweiligen Ansätze je nach Standpunkt und Analysefokus in unterschiedlicher Weise akzentuieren:

Da wäre zum einen der hochgradig idiosynkratische Charakter des Werkes, welches sich als ganzes keinem der gängigen Stilbegriffe und keiner der geistesgeschichtlichen Strömungen subsumieren ließe – trotz immer wieder konstatierter Affinitäten etwa zur Lebensphilosophie, zum Jugendstil, zum Impressionismus, zum Monismus, zur Existentialphilosophie, zur Phänomenologie usw. Sieht man vom Frühwerk ab, so werden solche Zuschreibungen sogar hinsichtlich einzelner Werke in der Schaffenszeit nach 1906 zunehmend fragwürdiger – der Zeit also, die Ulrich Fülleborn zufolge doch gerade Rilkes "Durchbruch zur Moderne" 1 markiert.

Das gilt neben dem Malte-Roman natürlich in besonderem Maße für das Spätwerk mit den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus. Daß diese bei anderen Autoren wie etwa Paul Valéry klaglos akzeptierte Idiosynkrasie Wissenschaftlern (von Hugo Friedrich bis Reinhold Grimm) immer wieder Anlaß zu Herabwürdigung des Werks wie seines Autors geboten hat und noch bietet, läßt Rückschlüsse auf ein nicht zu unterschätzendes provokatives Potential des Gegenstands zu. Hier zeigt sich auch die fatale Kurzschlüssigkeit, mit der – wie bei nur wenigen anderen Autoren – im Falle Rilkes Person und Werk innerhalb der Argumentationsstrategien zu austauschbaren Größen geraten sind; dies ließe sich vor allem auch am Umgang mit den biographischen Quellen in vielen Arbeiten zu Rilke demonstrieren, in denen kaum zwischen dem textuellen Status etwa eines Briefes und – sagen wir – einer Passage aus dem Malte-Roman differenziert wird.

Damit in Zusammenhang steht – und dies wäre eine zweite, wissenschaftstheoretisch wie -historisch begründete Problematik – die Konstruktion eines bisweilen gewaltsam vereinheitlichenden Epochen- und Stilbegriffs, der paradoxerweise jener Phase europäischer Kultur zugemutet wird, die wie kaum eine zuvor durch Verlust wie Verabschiedung von Verbindlichkeiten ideologischer, wissenschaftlicher und ästhetischer Art und der Erfahrung der >Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen< geprägt worden ist – so etwa schon in Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik von 1956. Friedrichs Probleme mit und Verdikte über Rilke sind bekannt und auch vielfach zurückgewiesen worden, z.B. in Manfred Engels "Rainer Maria Rilkes >Duineser Elegien< und die moderne deutsche Lyrik" (Stuttgart 1986).

Das Sperren gegen die Subsumtion unter die sich anbietenden kurrenten >Ismen< ebenso wie die für manche Wissenschaftler anscheinend schwer zu akzeptierenden Selbststilisierungen Rilkes, die im Hinblick auf die Texte eben mehr sind als bloße Pose, sondern intrinsisch zur besonderen ästhetischen wie epistemologischen Bedeutung des Werks beitragen, führen, drittens, zu den spezifischen Strukturqualitäten der Rilkeschen Schreibweise, die sich als deutlich dynamischer, heterodoxer und bisweilen paradoxaler erweist, als dies manchen Interpreten recht ist. In ihr offenbart sich auch Rilkes Position als eine der Schwelle, des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhunderts, welche in einer Diskursgemengelage situiert ist, die gleichermaßen teilhat an (freilich problematisch gewordenen) Residuen der Tradition wie an den revolutionären Umwälzungen auf nahezu allen Gebieten des Lebens, die sich um die Jahrhundertwende vollzogen.

Gegen die Vorbehalte von Seiten einer ideologiekritisch oder psychologisch motivierten Literaturwissenschaft, aber auch einer, welche in ihrer (Re-)Konstruktion des Gegenstandesbereiches der >literarischen Moderne< mit einem zu normativen Verständnis operiert, erweisen sich – wie gerade die jüngere Rilke-Forschung belegt – Analyseansätze als aufschlußreicher, die sich dem Gegenstand weniger ausgehend von ideologischen Prämissen und mit totalisierendem Zugriff nähern, sondern die in detaillierten Einzeluntersuchungen die Spezifika von Rilkes Auseinandersetzung mit den historischen und kulturellen Krisenerfahrungen zu konturieren versuchen.

"Exerzitien des Verzichts" und die
poetische Rehabilitation des "Rauschens":
Rilkes Strategien der Krisenbewältigung

Daß derartige Unternehmungen nicht unbedingt unkritisch und mit einer unangenehmen Tendenz zum Hagiographischen versehen sein müssen, demonstriert die von Hans Richard Brittnacher, Stephan Porombka und Fabian Störmer herausgegebene Aufsatzsammlung Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den >Weltinnenraum<.

Der Band, der seinen Ursprung in einem Kolloquium hat, welches im Herbst 1998 in Norditalien stattfand, versammelt dreizehn Einzeluntersuchungen, deren thematische Spannweite von paradigmatischen Textanalysen (wie etwa Hans Richard Brittnachers Eröffnungsbeitrag "Poesie des Verzichts. Rilkes Alkestis", S. 23–40) und Untersuchungen zu signifikanten Textstrategien (z.B. Wiebke Amthors Auseinandersetzung mit dem Rodin-Vortrag von 1907 unter dem Titel: ">Der Name [...] kann nicht ausgesprochen werden.< Rilkes Poetik der Leerstelle", S. 41–62) über die Neubewertung zentraler motivischer Figurationen wie Tier und Engel (Klaus Laermann, ">Oder daß ein Tier, / ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.< Überlegungen zum Blick der Tiere in einigen Gedichten Rilkes", S. 123–139; Antje Hallacker, "Die Zeit der Engel. Ein Blick auf Rilkes Duineser Elegien", S. 140–151) bis hin zu Analysen von Rilkes "Theorie der Sinne und ihrer ästhetischen Medien" (S. 16) reicht. Letztere bilden die dritte, den Band beschließende und mit sechs Beiträgen umfangreichste der drei Abteilungen (die erste ist mit "Exerzitien des Verzichts" überschrieben, die zweite heißt "Tier und Engel") – was bereits die Gewichtung innerhalb der thematischen Felder verdeutlicht (der erste Teil enthält fünf, der zweite zwei Aufsätze).

Diese Gewichtung zeigt die Fokussierung des Bandes auf, einerseits, die für Rilke so bedeutsamen Strategien einer konzeptuellen Umdeutung eigentlich negativ-deprivativer Seinsaspekte wie Opfer, Armut, Verzicht, "intransitiver" – also einseitiger – Liebe, welche insbesondere seit dem mittleren Werk eine gesteigerte Sublimierung erfahren und damit an poetologischer Relevanz zunehmen (in den fünf Beiträgen der ersten Abteilung exemplarisch behandelt). Anderseits (damit befassen sich die sechs Aufsätze der dritten Sektion unter dem Titel "Im Kreis der Sinne") wird die poetologische Dimension der Grenzüberschreitungen in den Reflexionen über die Kunstformen und ihre Medien akzentuiert, der insbesondere bei der Konstruktion dessen, was man gemeinhin als "Weltinnenraum" apostrophiert, eine zentrale Rolle zukommt. So betonen die Herausgeber bereits im Vorwort, daß die Kulturkrise um 1900 auch als eine Krise der medialen Konstruktion von Wirklichkeit aufzufassen sei, und insinuieren gewisse Parallelen zu Derealisierungserfahrungen, wie sie für die jüngste Vergangenheit prägend seien (ein Teil der Beiträger sind Mitarbeiter des an der FU Berlin situierten DFG-Projekts "Derealisierung und Digitalisierung").

Was das methodische Vorgehen betrifft, plädieren die Herausgeber im Anschluß an die Ergebnisse der neueren Theorieentwicklung für eine Position, in der "symptomatische und rekonstruktive Interpretationsweisen" (S. 10) einander vermittelt und vermittelbar bleiben, um kulturhistorisch relevante, typische Befunde nicht gegen die hochgradig individuelle Profiliertheit der Texte auszuspielen. Wenngleich dieser hehre Anspruch in den meisten der Beiträge zumindest berücksichtigt, in einigen sogar eindrucksvoll eingelöst wird (z.B. bei Brittnacher, Amthor, Laermann, Störmer und Stopka), gelingt die Balance nicht immer. So etwa im Beitrag Guido Grafs, betitelt "In Rilkes Rauschen" (S. 195–209), wo die Objektsprache den deskriptiven Diskurs überformt und die assoziative Gewalt der Metaphorik die Distinktionsqualität der Analyse in Mitleidenschaft zieht; dies ist um so bedauerlicher, als Grafs Text neben einer bisweilen sich floskelhaft >grammatologisch< gerierenden Polemik durchaus interessante psychoanalytische Einsichten zur Tiefendimension von Rilkes Mediendiskurs zu bieten hat. Um meine Kritik zu veranschaulichen, zitiere ich den Anfang von Grafs Text:

In Rilkes Rauschen

kann sich alles mischen, ohne Mißklang zu bewirken. Es erfüllt die Resonanz einer Innenwelt, die keines Außen mehr bedarf. Hier wird ein entleibtes Tönen prozessiert, das Bedeutung konstituiert, deren Referenz den Charakter von Rückversicherungen und Projektionen annimmt, vor allem aber bedacht ist, nie den Verdacht pragmatischer Redundanz zu erwecken. Was sich in diesem Rauschen wiederholt – und es wiederholt sich alles immergleich –, enthält weder Ort noch Datum, sondern einen Namen. In Rilkes selbstreferentiellem "Weltinnenraum" begegnen sich metaphernblaß Echos von Schriftzeichen. Das Elegien-Ich beklagt, aber eben nur im Konditionalis, seine Echolosigkeit. Süchtig zu hören, was man nicht schreiben kann, zupft sich dieser Orpheus die Stimmbänder. Von seinen Kadenzen gerührt, verfließen – paradox genug – die Konturen der Buchstaben. Was er im Herzen hört, möchte raus und gerät doch wieder nur in ein anderes, ein weiteres Herz. In seinen Kammern und Kanälen pulsiert Sepia statt Blut. (S. 195)

Doch bleibt dies innerhalb des Bandes erfreulicherweise die Ausnahme. Was demgegenüber eine präzise Verknüpfung von exakter textueller Rekonstruktion mit extrinsischen Perspektivierungen zu leisten vermag, zeigt etwa der Aufsatz Brittnachers zu dem 1907 auf Capri entstandenen Gedicht Alkestis, der Rilkes Konzept einer "Poesie des Verzichts" in seinen ästhetischen, aber auch in seinen anthropologischen Voraussetzungen und Konsequenzen expliziert. An der von der antiken Überlieferung abweichenden Darstellung des Selbstopfers der Alkestis läßt sich Brittnacher zufolge eine Ideologie der Individuationsverweigerung ablesen:

Alkestis, das Mädchen, das Braut geworden ist, existiert nur im Modus der Uneigentlichkeit, als Bedingung für das Werden von anderen. Alkestis' Apologie des Opfers ist, genau betrachtet, die Verweigerung der Individuation. Sie beredet Hermes nicht so sehr, sie als Ersatz für das Leben Admets anzunehmen, als vielmehr, ihr ein einmaliges und letztmaliges Opfer zu ermöglichen, um ihr den fortwährenden Opfervorgang der Individuation zu ersparen. (S. 30)

Mit Blick auf den Agrarmythos von Demeter und Persephone, auf den Alkestis in ihrer Rede selbst anspielt, erläutert Brittnacher überzeugend den Konnex von sexueller Schändung und Mädchenopfer, wobei Alkestis aus Furcht vor dem sexuellen Vollzug als Endpunkt der Vermählungsfeier sich diesem im Akt des Selbstopfers entzieht. Am eklatanten Widerspruch zwischen der Rilkeschen Fassung (die "Alkestis' Sterbenmüssen in ein Sterbenwollen" umdeute, S. 34) und der die letztlich lebensbejahende mythische Ordnung von Tod und Leben illustrierenden antiken Überlieferung des Stoffes entwickelt Brittnacher den Gegensatz zweier kultureller Ordnungen. Rilkes Opfermythologie – statuiert an Alkestis, die dem im ekstatischen Fest verkörperten alimentären Paradigma entsagt – propagiert eine Abkehr von den Zwängen der physischen Natur, die sich, zumindest strukturell, in die Nähe der christlichen Eucharistie begibt:

Diesem Modell der Selbstüberhebung, der Lösung aus bloßem Naturzwang, folgt Alkestis, indem auch sie sich selbst zum Opfer gibt, und praktiziert damit eine Liebe, die nicht nach Erwiderung verlangt: Sie wiederholt das Vorbild Christi, der sich für die Menschen opferte, weil er sie so liebte. (S. 39)

Doch übersieht Brittnacher dabei nicht die Problematik und Anfechtbarkeit einer solchen fatalistischen Opferideologie, ihre Mißbrauchbarkeit in den verschiedensten Kontexten und entdeckt hinsichtlich der meist weiblichen Opferfigurationen in Rilkes Werk einen insgeheim phallokratischen Zug:

So sehr sich Rilke auch fast intuitiv für Frauen, für ihre angebliche Empathie und Selbstlosigkeit aussprechen mag, so sehr bleibt doch auch sein Plädoyer für das Weibliche mit einer männlichen Kultur vereinbar, deren grundlegenden common sense von der Opferbereitschaft der weiblichen Natur es bestätigt. (S. 40)

Von den anderen Beiträgen zu Rilkes "Exerzitien des Verzicht", die sich mit der Leerstelle, dem Lachverdikt und (in zwei Aufsätzen von Michael Huppertz und Angelika Ebrecht) den spezifischen Liebeskonzeptionen beschäftigen, möchte ich stellvertretend nur kurz auf Stephan Porombkas vom Ansatz wie von den Befunden höchst originelle Untersuchung ">Wer jetzt lacht [...] lacht mich aus.< Lachen mit Rilke" (S. 63–83) verweisen. Porombka konstatiert und analysiert nicht nur ein allumfassendes Lachverbot Rilkes, welches auch an dessen Interpreten weitergegeben worden ist, sondern er zeigt auch die Strategien auf, die der Autor zur Lachvermeidung entwickelt hat. Darüber hinaus entwickelt er in bezug auf das in Rilkes Werk besonders im Malte thematisierte Motiv des Lachens – welches natürlich gänzlich negativ konnotiert ist – sogar eine Typologie:

In Maltes Welt gibt es nur das fremde Lachen, von dem man unvermittelt überfallen und bedrängt wird; es gibt das obszöne Lachen, das auf eine schmutzige und krankmachende Weise vereinigen will; es gibt das selbstvergessene Lachen, für das man bestraft wird; und schließlich gibt es das böse, grausame Lachen, das darauf aus ist, den feinnervigen Menschen über alle Maßen zu quälen: Ein angenehm-verbindendes Lachen, ein Lachen, durch das sich Held und Welt verbinden könnten, gibt es nicht. (S. 68)

Daß es Rilke auch darum ging, das Lach-Verdikt auf die intendierte Rezeption seiner Werke auszudehnen – und man kann attestieren: dies ist weitestgehend gelungen –, führt Porombka an zahlreichen Beispielen vor und zeigt, daß hier die Selbststilisierung Rilkes zu einem "Märtyrer" (S. 78) autokratischer Einsamkeit keine geringe Rolle gespielt hat.

"Im Kreis der Sinne"

Der andere große Themenkomplex, den die Aufsätze in der "Im Kreis der Sinne" überschriebenen Abteilung behandeln, betrifft – wie bereits erwähnt – den Bereich medial und intermedial ausgerichteter Reflexionen in Rilkes Werk; wiederum steht die Bewertung der poetologischen Signifikanz im Zentrum der meisten Beiträge. Hier reicht das Spektrum von der Beschäftigung mit dem Phänomen der Blindheit und des Erblindens bei Rilke (Fabian Störmer: ">Dann wuchs der Weg zu den Augen zu [...]< Rilkes Poetik des Erblindens", S. 155–177) über Analysen zum (von der Informationstheorie entlehnten) Begriff des >Rauschens< (Katja Stopka: "Vom Rauschen umgeben. Poetisch gewonnene Unschärfen technischer Scharfstellungen in Rilkes Dichtung und Kunsttheorie", S. 179–194, sowie Guido Grafs oben besprochenen Beitrag) bis hin zur Wiederaufnahme >klassischer< Fragestellungen der Rilke-Forschung: seiner Auseinandersetzungen mit Paradigmen der Musik (Silke Pasewalk: "Die Maske der Musik. Zu Rilkes Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk"; S. 210–229) und der bildenden Kunst (Claudia Öhlschläger: ">dieses Ausfallen des Gegenstandes<. Rainer Maria Rilke, Paul Klee und das Problem der Abstraktion", S. 230–249; Susanne Scharnowski: "Rilkes Poetik des Blicks zwischen Einfühlung und Abstraktion: Die Bildbeschreibungen in den Briefen über Cézanne", S. 250–261).

Daß eine eher unkonventionelle, von neueren medientheoretischen Ansätzen geprägte Fragestellung in Hinblick auf Rilkes Dichtung und Kunsttheorie zu durchaus erhellenden Ergebnissen kommen kann, wie dies im Beitrag von Katja Stopka der Fall ist, entkräftet den in Teilen der Rilke-Forschung noch immer gepflegten Vorbehalt gegen methodische Innovation. Stopka geht es einerseits darum, ein differenzierteres Verständnis von Rilkes Haltung zu technischen Innovationen zu gewinnen – und zwar gerade, um sein poetologisches Programm schärfer zu konturieren. Anderseits versucht sie den Nachweis zu führen, daß Rilkes ästhetisches Programm und das in ihm zum Einsatz kommende Verfahrensensemble Analogien aufweist zu anderen, durch wissenschaftliche Erkenntnis motivierten medialen Formen der Weltverarbeitung.

Vornehmlich gestützt auf die in den Texten Ur-Geräusch (1919) und Notizen zur Melodie der Dinge (um 1898) formulierten Beobachtungen Rilkes zur bislang mangelnden Erfassung dessen, was Stopka mit dem Begriff des >Rauschens< belegt – jener blinden Flecken der Welterkenntnis also, die sich einer apriorischen Kategorisierung entziehen –, kontrastiert die Autorin Rilkes Konzepte, wie etwa den Kreis mit schwarzen Sektoren, der den "Erfahrungsbereich der Welt" (Ur-Geräusch, zit. nach S. 179) symbolisiert, mit den medientechnischen Errungenschaften der Kinematographie. Denn mit dem kalkulierten Einsatz ganz ähnlicher >Unschärferelationen< leistet auch die Kinematographie Weltdarstellung in nie zuvor gekanntem Ausmaß. Jedoch geht es Rilke darum, auch das zur Darstellung zu bringen, was die Technik ausspart bzw. was ihrem Erlebnishorizont entzogen ist:

Denn im Gegensatz etwa zur Filmtechnik, die Bewegung simuliert, ohne zu zeigen, wie sie es tut, will Rilke in seiner Dichtung das Wesen der Dinge, eben die >ganze< Wirklichkeit sichtbar werden lassen – und zwar ohne schwarze Sektoren. Dazu versucht er zum einen, dasjenige zu berücksichtigen, was sich im Hintergrund des vermeintlich unmittelbar Erlebten und Erfahrenen abspielt, und zum anderen zu klären, welchen Einfluß dieses Unbestimmte des Hintergrunds auf die Wahrnehmung nimmt. (S. 181 f.)

Dieses Programm zur Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums bei gleichzeitiger Reflexion über die Auswirkungen auf die Wahrnehmung selbst, das Rilke epistemologisch (Empiriokritizismus und Phänomenologie) wie medienphilosophisch durchaus auf der Höhe der Zeit zeigt, verfolgt Stopka anhand der bereits erwähnten Notizen zur Melodie der Dinge zurück bis zu seinen Anfängen in der Jahrhundertwende. Hier erweist sich einmal mehr die überraschende Modernität der Überlegungen Rilkes:

Rilkes Einsicht, daß das Eingebettetsein in der Welt zuallererst heißt, von einem unausgesetzten Rauschen umgeben zu sein, ist in einer Zeit, in der die Erkenntnis der grundlegend chaotischen Unstrukturiertheit der Wirklichkeit als Zumutung abgewehrt wird, besonders bemerkenswert. Denn im ausgehenden 19. Jahrhundert wird das Rauschen lediglich als etwas nutzlos Diffuses erlebt, das Ordnung und Struktur bedroht und verhindert. Diese Irritation durch das Rauschen führt dazu, dass es aus dem Lebens- und Wahrnehmungsbereich eliminiert wird. (S. 185)

Anhand einer Analyse des Gedichts Der Ball, welches Rilke selbst zu seinen gelungensten zählte, demonstriert Stopka die poetische Umsetzung von Rilkes Postulaten bezüglich der Darstellung des Verhältnisses von >Hintergrund< und >Vordergrund< der Dinge, die in eine dynamische Relation treten, in der auch das Rauschen nicht ignoriert wird. Abschließend kontrastiert Stopka Rilkes Verfahren im Ball-Gedicht mit den von Etienne-Jules Marey 1883 entwickelten Verfahren der "Chronophotographie", einer Technik zur photographischen Darstellung sukzessiv-temporaler Vorgänge. So kommt sie zu dem Resümee:

Entscheidend jedoch ist, und dies sollte gezeigt werden, daß Rilke der Frage nach der Bedrohung des Mediums Dichtung durch die zeitgenössischen neuen medientechnischen Errungenschaften nicht ausgewichen ist, sondern sie vielmehr für wesentlich genug hielt, um sie in den hier vorgestellten ästhetischen und dichterischen Entwürfen durchzudenken und zu gestalten. Denn in Konfrontation mit zeitgenössischen Medientechniken gewähren seine Konzeptionen mitunter geradezu verblüffend scharfsinnige Einblicke in Spielräume und Grenzen sowohl ästhetischer wie auch technischer Erschließungsmethoden von Wirklichkeit. (S. 194)

Insgesamt läßt sich für die meisten der in dem Band versammelten Beiträge konstatieren, daß sie dem im Vorwort formulierten Anspruch auf eine Resituierung Rilkes innerhalb der komplexen Diskurslage der Moderne gerecht zu werden versuchen, ohne die Besonderheiten seiner jeweiligen Reaktionen auf die krisenhaften Modernitätserfahrungen zu nivellieren. Gerade in den Schlaglichtern, die verschiedene – notwendig selektiv bleibende, doch zumeist zentrale – Aspekte der Entwicklung Rilkes hin vom mittleren zum späten Werk beleuchten, ist ein Bemühen um Differenzierung und Weiterentwicklung bekannter Forschungspositionen spürbar.

Theorie und Praxis des modernen Romans:
Rilkes Malte im Kontext der Ansätze
von Lukács und Bachtin

Ein anderer Fokus auf den Niederschlag der Krisenerfahrungen der Moderne in Rilkes Werk wird in der Monographie Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke von Tanja Dembski gewählt. Hier wird die in der Rilke-Forschung vieldiskutierte Problematik der (roman-)poetologischen und narratologischen Konsequenzen der schockartigen Konfrontation mit den Folgen der Modernisierungsprozesse – Entfremdung, Seinsverlust und innerer wie äußerer Verelendung – erneut aufgegriffen, natürlich am Beispiel der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und natürlich unter dem vielstrapazierten Begriff der "Romankrise" (S. 36). Das zentrale Anliegen der Untersuchung ist allerdings primär ein großangelegter systematisch-typologischer Vergleich der Romantheorie des frühen Georg Lukács< (also seiner Theorie des Romans von 1914 / 15) mit den Ansätzen Michail Bachtins – wobei auch hier der Akzent auf den frühen Schriften (bis 1941) liegt, in denen, anders als dann in der als Dissertation eingereichten Rabelais-Monographie, Fragen der Romanpoetik den Hauptgegenstand bilden.

Dieses Unternehmen ist um so verdienstvoller, als dem Thema bislang zwar einige Aufsätze gewidmet wurden, 2 eine umfassende und systematischen Ansprüchen genügende Untersuchung jedoch noch fehlt. Dies mag verwundern, da bereits Katerina Clark und Michael Holquist in ihrem 1984 erschienenen Buch über Bachtin darauf hinwiesen, daß der über gute Deutschkenntnisse verfügende Literatur- und Kulturtheoretiker 1924 mit einer russischen Übersetzung von Lukács Theorie des Romans begonnen haben soll, die allerdings nie abgeschlossen wurde.

Die formative Bedeutung der deutschen philosophischen Quellen für Bachtins Schaffen – auch damals ganz neuer Publikationen wie z.B. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen – ist in den letzten Jahren von der Bachtin-Forschung wiederholt bestätigt worden (etwa durch die Arbeiten Craig Brandists). Und auch die intellektuelle Sozialisation von Bachtin und Lukács weist durchaus Berührungspunkte auf – von ihrer Vertrautheit mit den Positionen des Neokantianismus Marburger Provenienz bis hin zu der hegelianisch-marxistischen Wende, die sich in beiden geistigen Biographien nachweisen läßt. Daß Bachtin in seiner Studie zu Rabelais am Beginn der vierziger Jahre einen Gegenentwurf zur ästhetischen Doktrin des >Sozialistischen Realismus< Lukács'scher Prägung entwickelt hat, der diese Doktrin weitestgehend subvertiert, ist ein Aspekt, der in Dembskis Arbeit notwendigerweise ausgeklammert bleiben muß.

Ausgangspunkt für Dembskis Überlegungen ist die evidente Nähe der Konzeptionen von Lukács und Bachtin – nicht nur hinsichtlich ihrer
"kulturdeskriptive[n] und weltanschaulich-philosophische[n] Fragstellungen und Intentionen" (S. 9), sondern auch hinsichtlich ihrer Methodik:

Die Romantheorien weisen den gleichen Bezugsrahmen und ein kongruentes methodisches Vorgehen auf: Beide Autoren referieren auf die Tradition der deutschen Geistesgeschichte, sie verbinden gattungstypologische und geschichtsphilosophische Betrachtungen einerseits, synchrone und diachrone Literaturtheorie andererseits. Ihre gattungsspezifischen Darstellungen verfahren selektiv, indem einzelne Autoren, die als repräsentativ für eine bestimmte Epoche, Tendenz oder Entwicklungslinie gelten, vorgestellt werden, beide folgen der Romanentwicklung von der Antike bis in die eigene Gegenwart, wobei allerdings der Roman des frühen 20. Jahrhunderts keine Berücksichtigung findet. In der Theorie des Romans ist dieser Mangel sinnfällig, existierte doch zu ihrer Entstehungszeit der "moderne" Roman im engeren Sinne noch nicht, und so endet sie chronologisch mit einem Ausblick auf Dostoevskij. Aber auch Bachtins Romantheorie, zu deren Entstehungszeit sich bereits experimentelle Formen der Avantgarde-Literatur etabliert haben, geht chronologisch nicht über Dostoevskij hinaus. Dennoch bildet bei beiden Autoren die theoretisch reflektierte Problematik der Moderne und ihre Umsetzung im ästhetischen Objekt einen Schwerpunkt des Interesses. (S. 10 f.)

Rilkes Malte-Roman als "archetypischer Text der literarischen Moderne" (S. 11) soll zum einen als Bezugspunkt der theoretischen Analyse figurieren, zum anderen aber auch als "eine genuin ästhetische Antwort auf die von Lukács und Bachtin theoretisch reflektiert Problematik der Moderne zu analysieren sein" (S. 11), der so "in doppelter Perspektive als Thema und Selbstreflexion Grundlage der Analyse bleibt" (S. 12). Unter diesem doppelten Bezug auf die präsentierten theoretischen Komplexe solle der Roman "neue Dimensionen preisgeben" (S. 12). Dieser vergleichende Ansatz bestimmt auch das strenge Strukturschema der Arbeit, das konsequent durchgehalten wird:

Nach dem Referieren der Forschungsberichte zu Lukács Theorie des Romans, zu Bachtin, zu Rilkes Malte und einem einleitenden Exkurs ">Moderner Roman< und >Romankrise<" (einer ebenfalls überblicksartigen Darstellung zentraler Forschungspositionen zum modernen Roman und seiner Genese) folgen fünf Abschnitte, die wesentlichen thematischen Feldern gewidmet sind: "Form", "Zeit", "Geschichte", "Subjektivität" und "Dämonie", wobei zwischen den Abschnitten "Geschichte" und "Subjektivität" ein weiterer Exkurs über "Die philosophischen Grundlagen der Romantheorien Lukács' und Bachtins" eingefügt ist. Auch die Binnengliederung der einzelnen Abschnitte folgt immer demselben vierteiligen Schema: Auf die differenzierte Darstellung der jeweiligen Problematik zunächst im Malte, dann bei Lukács und schließlich bei Bachtin folgt der synoptische Vergleich. Den Abschluß der Arbeit bildet ein Kurzresümee (S. 431–434).

Diese starre Systematik der Arbeit erweist sich im Hinblick auf den Vergleich der theoretischen Positionen Lukács und Bachtins als vorteilhaft, da sie auch inhaltlich vor allem auf die Zentralaspekte der Theoriekonzeptionen abgestellt ist. Was sie in bezug auf den Malte-Roman leistet, ist vor allem der Nachweis von größerer Affinität in der Gestaltung jeweils zum einen oder zum anderen Konzept, dort wo einzelne Theoreme in den Blick genommen werden: So lassen sich die Erzählverfahren im Malte eher mit Bachtins Konzept von Dialogizität und Polyphonie vereinbaren und auch deskriptiv erfassen als etwa mit Lukács Entwurf epischer Ironie, wohingegen hinsichtlich der Auffassung der Dämonie der Wirklichkeit eine größere Nähe zwischen Lukács und Rilke zu konstatieren ist — die Darstellung von Maltes Angst und die durchweg negative Präsentation des Körperlichen ist schwer vereinbar mit Bachtins Verständnis des Grotesken als Ausdruck einer letztlich lebens- und körperbejahenden kollektiven karnevalistischen Lachkultur.

Daß es Dembski dabei nicht gelingt, wirklich neue Einsichten zum Malte zu präsentieren, ist bedauerlich und hat seinen Grund vor allem in dem Umstand, daß sie kaum riskiert, sich einmal über längst etablierte und teilweise sogar bereits veraltete Positionen der Rilke-Forschung hinauszuwagen – etwa wenn sie die Form der Romans recht eindimensional als "modifizierte, erweiterte Tagebuch-Form" (S. 82) beschreibt, oder nur die rekompositorische Dimension betont, nicht aber den dynamischen Aspekt von Dekomposition und Rekomposition im Sinne eines prozessualen Formbegriffs. Der sich darin offenbarende extreme Methodenkonservativismus zeigt sich etwa auch in der Tatsache, daß Dembski bei der Rekonstruktion der Ich-Erzählform im Malte hauptsächlich auf die – fast schon historisch zu nennenden – Erzähltheorien von Stanzel und Käte Hamburger rekurriert.

Während also der typologische Vergleich der theoretischen Ansätze Lukács' und Bachtins gelungen ist (und auch >anschlußfähige< Ergebnisse liefert) und der Nachweis der jeweiligen punktuellen Affinitäten zwischen den theoretischen Konzepten und Rilkes Roman durchaus überzeugen kann – und dies ist bereits ein nicht gering zu achtendes Resultat dieser Studie –, bleiben genuin innovative Interpretationsansätze zum Malte weitgehend aus. Vom Anbruch der "Zeit der anderen Auslegung" (jener berühmten Passage des Romans, die Dembski in ihrem Eingangsmotto bemüht) kann daher nicht unbedingt die Rede sein.


Dr. Markus May
Universität Erlangen
Institut für Germanistik
Bismarckstr. 1 B
D-09154 Erlangen

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Ins Netz gestellt am 25.11.2002
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Ulrich Fülleborn: Rilke 1906 bis 1910: Ein Durchbruch zur Moderne. In: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne. Redaktion: Vera Hauschild. Frankfurt / M. 1997, S. 160–180.   zurück

2 So z.B. Michel Aucouturier: The Theory of the Novel in Russia in the 1930s: Lukács and Bachtin. In John Garrad (Hg.): The Russian Novel from Pushkin to Pasternak. New Haven 1983, S. 227–240 oder Arpád Kovács: On the Methodology of the Theory of the Novel. Bakhtin, Lukács, Pospelov. In: Studia Slavica Hungaricae 26 (1980), S. 377–393.   zurück