Mellmann über Rogge: Die schöne weibliche Gestalt im dramatischen Werk Goethes

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Katja Mellmann

Die schöne weibliche Gestalt
im dramatischen Werk Goethes.
Eine Motivstudie zur Weimarer Klassik

  • Iris Rogge: Die schöne weibliche Gestalt im dramatischen Werk Goethes. Übernahme und Umgestaltung des antiken Schönheitsideals. (Europäische Hochschulschriften I/1743) Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2000. 440 S. Geb. DM 98,-
    ISBN 3-631-35924-1.


Zur Themenstellung:
ein Desiderat der Goethe-Forschung

Die Dissertation von Iris Rogge nimmt sich ein auffälliges Motiv und Gestaltungsprinzip der Goetheschen Werke zum Gegenstand, das die zahlreichen Studien der Goetheforschung zwar häufig am Rande erwähnen, aber selten systematisch entwickelt haben. Es handelt sich um die Personifikation eines ethischen und ästhetischen Ideals in einer fiktiven Frauengestalt. Die Errungenschaften der sozialgeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte in der Rekonstruktion zeitgenössischer Liebes- und Geschlechterdiskurse, der Funktion >des Weiblichen< als poetische Projektionsfläche und des allgemeineren gesellschaftlichen Problembezugs der Literatur um 1800 lassen es vielversprechend erscheinen, auf dieses auffällige Merkmal der Goetheschen Dichtung einen neuen Blick zu werfen und es als poetisches Strukturprinzip ernst zu nehmen, das sich nicht einfach in biographistischen Anekdoten auflösen läßt. Was hat es mit der idealisierenden Darstellung Goethescher Frauengestalten und der Darstellung ihrer Wirkung auf andere auf sich? Wie läßt sich die Semantik des >Ewig-Weiblichen< reformulieren?

Rogges Thema weckt die Erwartung auf eine genauere Funktionsbestimmung dessen, was in der älteren Forschung noch recht konturlos als "die notwendige und unvermeidliche Illusion der Liebe", in der der Liebende "aus sich selbst der Geliebten alles zulegen [kann], was ihr noch zum Bilde des Unendlichen fehlt, um seine Sehnsucht zu befriedigen", 1 in der hermeneutischen Leitvorstellung vom >Allgemeinmenschlichen< aufging.

Der Titel von Rogges Untersuchung lautet: "Die schöne weibliche Gestalt im dramatischen Werk Goethes". Man stutzt bei dieser Themenstellung: Schönheit im landläufigen Sinne ist ein visueller Eindruck und wird sich schwerlich an unsichtbaren literarischen Figuren erörtern lassen. Es ist ein eher seltener Fall, daß ein Autor schon in den Regieanweisungen ausdrücklich festhält, daß seine dramatis personae "schön, wie auch immer man sich das vorstellen möge", 2 seien. Aber Rogges Begriff von der >schönen weiblichen Gestalt< meint mehr als nur Körperschönheit. Die Visualisierung der äußerlich >schönen< weiblichen Figuren auf der Bühne macht nur einen Teil der poetischen Darstellung aus; vor allem aber werden die Gestalten über "ihre Wirkung" auf einen mitfingierten Betrachter, die in ihm erweckte "Liebe zum Schönen" (S. 11), schon auf Textebene lebendig. Rogge untersucht also "Idealbilder, wie sie aus der Sicht des Mannes gesehen und dargestellt sind" (S. 12).

Der Untertitel, "Übernahme und Umgestaltung des antiken Schönheitsideals", enthält Rogges zentrale These, bei der Darstellung idealer Schönheit im Goetheschen Werk handle es sich um die zeitgenössische Vorstellung vom schönen Körper der antiken griechischen Plastik und das darin implizite Programm der >Kalokagathie<. Auf diese Weise legitimiert Rogge ihre Annahme, daß es sich bei der >Schönheit< um ein sowohl ästhetisches als auch ethisches Ideal handle. Ihre erste Adresse sind folglich die antiken Heroinen der >gräcisierenden< Schauspiele Goethes. Aber nicht nur diese: denn bei der antiken Konzeption vom schönen Körper als einer Einheit von angenehmem Äußeren und >innerer< (sittlicher) Vollkommenheit handle es sich um eine Lehre vom Schönen und Guten an sich, das bei Goethe lediglich in der Rolle des Weiblichen auftrete. Auf die Frage, warum ausgerechnet in der Rolle des Weiblichen, da doch Lessings und Winckelmanns Überlegungen zur Schönheit der griechischen Plastiken, auf die Rogge sich im folgenden berufen wird, geschlechtsunspezifisch argumentieren, gibt Rogge keine deutliche Antwort. Wir erfahren lediglich, daß Goethe, im Gegensatz zu Winckelmann "– nicht zuletzt aus Gründen der Polarität – offensichtlich weibliche Schönheit favorisiert[e]" (S. 115f.); und an späterer Stelle, daß z.B. Iphigenies Tat der Effekt einer "spezifisch weibliche[n] Gabe der vermittelnden Geste" (S. 154) sei. Es ist also die >weibliche Tugend<, die die fiktionalen Frauengestalten in den Augen Goethes zum "einzige[n] Gefäß, was uns Neuern noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen" (S. 116 u. 155), qualifiziert.

Angesichts dieses Hinweises auf empfindsame Ethik und Gender-Entwürfe ist es jedoch verwunderlich, daß Rogge neben dem antiken >Kalokagathie<-Programm das inhaltlich ähnlich lautende empfindsame Ideal der >schönen Seele< explizit nicht in ihre Betrachtung miteinbeziehen will. Rogges Begriff der "schönen Seelen" ist reserviert für den Typus der "eher mädchenhaften Figuren wie beispielsweise Klärchen im Egmont oder das Gretchen im Faust" (S. 11), "bei denen es mehr auf die inneren Werte als auf äußerliche Schönheit ankommt" (S. 337). 3 Diese Einschränkung erlaubt ihr eine kategorische Ausgrenzung einer ganzen Reihe von Frauengestalten besonders des Frühwerks. Gleichwohl spricht sie im Verlauf ihrer Studie von Prinzessin Leonores "Seelenadel" (S. 186) oder Iphigenies "Seelenschönheit" 4 und zitiert Iphigenies Charakterisierung als "große, hohe, reine und schöne Seele" (S. 132). Mit aller Selbstverständlichkeit also werden empfindsame Schlagworte aufgegriffen, ohne daß sie jedoch, wie der Diskurs der Antikenrezeption, als zeitgenössisches Modell der ästhetischen Selbstbeschreibung sichtbar gemacht würden. Eine Erweiterung von Rogges Frage nach dem >Kalokagathie<-Programm des 18. Jahrhunderts um seine empfindsame Variante aber hätte z.B. auch die Figur der Stella noch miteinbeziehen können, die in Rogges Riege schöner Frauengestalten eine zweifellos ungerechtfertigte Lücke läßt.

Zum Argumentationsverlauf:
Goethes Ästhetik, Dramatik und Theaterpraxis

Auf den ersten hundert Seiten rekonstruiert Rogge Goethes Rezeption der Schriften Winckelmanns und Lessings und deren Rolle bei der "Herausbildung der klassischen Ästhetik Goethes" (S. 76). Es ist zum einen die Frage nach der Verortung der Schönheit im ästhetischen Objekt oder in dessen Wirkung auf den Betrachter und zum andern die nach der Bedeutung des im Kunstwerk eingefangenen >prägnanten< oder >transitorischen< Augenblicks, wovon Rogge sich bei ihrer umfangreichen Materialauswertung leiten läßt und die auch ihre Textanalysen im zweiten Hauptteil im wesentlichen bestimmen werden. Mit viel Feinsinn und aller gebotenen Vorsicht ermittelt Rogge Goethes Standpunkt innerhalb der zeittypischen ästhetischen Diskussionen. Ihre implizite These jedoch ist die eines schlichten Einflußverhältnisses. Nach der historischen Funktion dieser ästhetischen Entwürfe und den Gründen für deren hohe Plausibilität um 1800 fragt sie nicht. Hier wäre es sinnvoll gewesen, auf ähnliche Gedankengänge schon in der Sturm-und-Drang-Ästhetik sowie auf die damit verbundenen zeitgenössischen Entfremdungstheorien einzugehen. Die These einer reinen Antikenrezeption freilich hätte dadurch an Überzeugungskraft verloren.

Im zweiten Teil unternimmt Rogge detaillierte Analysen der Werke Proserpina, Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso, Nausikaa, Die natürliche Tochter und Faust II. So sehr ihr dabei immer wieder sehr subtile und überzeugende Interpretationsakte gelingen, so sehr vermißt man doch eine übergreifendes Argumentationsstruktur, die unabhängig von Textchronologie und Werkabfolge den immer wiederkehrenden Befunden wie z.B. dem des Mittels der Kontrastierung oder der figurenspezifischen Gestaltung des Schauplatzes ihren jeweiligen systematischen Ort in Rogges Untersuchung zuweisen würde. Die an Torquato Tasso exemplifizierte Bedeutung des Idealweiblichen für den dichterischen Schaffensprozeß bleibt so in der Analyse eines Einzelwerks befangen. Ebenso werden z.B. die sehr gelungene Erklärung von Schillers Eindruck von der "hohe[n] Symbolik" (S. 210) des Stücks Die natürliche Tochter oder z.B. der von Rogge herausgestellte Stil der "wiederholten Spiegelungen" (S. 251) in Pandora nicht so weit abstrahiert, daß ein Anschluß an die Ergebnisse der anderen Textanalysen gewährleistet wäre.

Der Leser von Rogges Studie wird mit einer großen Anzahl aufgedeckter Motividentitäten letztlich alleingelassen. Lediglich das Problem der >Unwahrheit< jeder Manifestation des Idealschönen bei Goethe wird unter der Überschrift "Einige kritische Anmerkungen" (S. 337) auch einer allgemeineren Befragung unterzogen: Rogge setzt hier Goethes Kategorie der >Unwahrheit< mit der Vorstellung einer nur >imaginierten Weiblichkeit< (Bovenschen) gleich. Indem sie diesen Komplex aber zudem mit einem seit Platon in der abendländischen Literatur immer wieder begegnenden Ideal der Verzichtliebe verknüpft, verschenkt sie das Potential einer sozialgeschichtlichen Erklärung, wie es in Bovenschens Ansatz bis zu einem gewissen Grad enthalten gewesen wäre, zugunsten einer vorwissenschaftlichen Literaturbetrachtung, die zu der abschließenden Frage führt, ob "der Preis einer solchen Fernliebe, der geforderte Liebesverzicht, nicht vielleicht zu hoch und unmenschlich ist" (S. 342). Die >schöne weibliche Gestalt< ist nun wieder lediglich ein "Phantom[...] der männlichen Einbildungskraft" (Bronfen, S. 338) im allgemeinen und Ausdruck eines grundsätzlichen "Paradox[es] der Liebe" (S. 339).

Der kürzere dritte Teil befaßt sich mit dem Praktiker Goethe, dem "Mann des Theaters" (S. 367). Am Beispiel der Neuinszenierung der Proserpina 1815 in Weimar, wie sie sich aus einem Aufsatz Goethes in Grundzügen rekonstruieren läßt, an Hand weiterer schriftlicher Äußerungen Goethes über die Theaterpraxis und der Dokumente zur Uraufführung der Iphigenie in Weimar 1779 versucht Rogge erneut zu zeigen, wie Goethes Vorstellungen von der idealen Bühnenkunst von der Antikenrezeption seiner Zeit geprägt sind. Sie stellt Bezüge her zwischen den Weimarer Kulissen, Kostümen und Darstellungsidealen in der Schauspielkunst einerseits und europaweit feststellbaren Moden wie den Tableaux vivants, der Damenmode à la Grecque und den Bildern Angelika Kaufmanns andererseits. Welche Funktion die abschließende Diskussion zweier Faust-Inszenierungen von 1977 in Rogges Argumentation einnimmt, wird nicht einsichtig. Zumal diese modernen Inszenierungen all jene von Rogge herausgestellten Charakteristika des Goetheschen Werkes eben gerade nicht angemessen wiedergeben.

Fazit

Die von Rogge eingangs aufgestellte These, daß es sich bei der >schönen weiblichen Gestalt< in Goethes Bühnenwerken um eine dichterische Gestaltung des antiken Ideals der >Kalokagathie< handle, wird durch den analytischen Hauptteil nicht belegt, sondern lediglich amplifiziert und bleibt somit eine willkürliche Setzung ohne zwingende Plausibilität. Denn reicht der Nachweis, daß Goethe sich mit den einschlägigen Schriften Winckelmanns intensiv auseinandergesetzt hat, schon aus, um zu konstatieren, daß die von Iphigenie "ausgehende humanisierende, beruhigende und heilende, versittlichende und harmonisierende Wirkung" diejenige des "antike[n] Schönheitsideal[s] der Kalokagathie" bzw. die des Winckelmannschen "Ideal[s] der edlen Einfalt und stillen Größe" (S. 159) sei? Ist es wirklich das "antike Schönheitsideal", das "auch für Eugenie [...] noch seine Gültigkeit" (S. 247) hat? Ist es wirklich eine "an die griechischen Götterstatuen erinnernde[] Seelenruhe und Unerschütterlichkeit", mit der Iphigenie "vor Thoas tritt" (S. 160)? Und wer fühlt sich hier eigentlich erinnert? Goethe? Die Zeitgenossen? Rogge? Rezeptionszeugnisse werden nicht ausgewertet. Um den >Winckelmannschen Geist< im Weimarer Darstellungsstil zu belegen, greift Rogge auf Kindermanns Theatergeschichte Europas zurück (S. 394); bei der Beschreibung von Corona Schröters Schauspielkunst auf eine >Quelle< aus dem Jahr 1875. 5 Aber einmal angenommen, es sei Winckelmanns >edle Einfalt< und >stille Größe< auf der Weimarer Bühne, und Corona Schröter sei eine "wahrhaft hellenische[...] Schönheit" (S. 395), – was wäre damit eigentlich gesagt? Rogges Korrelationsversuch liefert Material für die Reformulierung, nicht aber für eine wissenschaftliche Erklärung.

Iris Rogge hat mit dem Motiv der >schönen weiblichen Gestalt< ein für Goethes Wahl seiner poetischen Stoffe bedeutsames Selektionskriterium aufgegriffen. Jedoch verknüpft sie keine wissenschaftliche Fragestellung damit. Die Struktur der Arbeit resultiert aus einer assoziativen Verbindung der >schönen weiblichen Gestalt< bei Goethe mit dem antikisierenden Schönheitsideal nach Winckelmann. Der daraufhin durchgeführte Vergleich wird selbst nicht begründet und führt in den Interpretationen auch zu keinem systematisch verwertbaren Ergebnis. Ein sinnvoller Anschluß an die sozialgeschichtlichen Thesen nach Bovenschen und Bronfen vom Weiblichen als Projektionsfläche bei der männlichen Subjektkonstitution um 1800, wie Rogge ihn vorübergehend versucht, hätte eines intensiveren Eingehens auf die bedingende Realgeschichte bedurft. Über die eigentümliche poetische Funktion der Goetheschen Frauengestalten gilt es also auch in Zukunft noch nachzudenken.


Katja Mellmann, M.A.
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstraße 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 24.07.2001
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Anmerkungen

1 Adolf Metz: Goethes Stella. Eine zusammenfassende Studie. In: Preußische Jahrbücher 126 (1906), S. 52-71; hier S. 65.   zurück

2 Robert Musil: Die Schwärmer. In: Gesammelte Werke, in neun Bänden hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Bd. 6: Prosa und Stücke, S. 309.   zurück

3 Gretchen aber z.B. ist zweifelsohne schön: "Beim Himmel, dieses Kind ist schön! | So etwas hab' ich nie gesehn." (Faust, v. 2609f., HA III,84)   zurück

4 In Bezug auf Gretchen dann taucht die "Seelenschönheit" (S. 337) explizit als Gegenargument auf; ein in Rogges Studie unaufgelöster Widerspruch in der Begriffsverwendung.   zurück

5 Es handelt sich um eine Biographie Corona Schröters, verfaßt von Robert Keil, Leipzig 1875. Von Keil wurden auch Quellen verarbeitet. Rogge aber behandelt die bei ihm abgedruckten Erinnerungszeugnisse (s. S. 394) und seinen Metatext (S. 395) ohne Unterschied, so als hätten sie gleiche Belegkraft.    zurück